Von Don Michael Gurtner*
Frage: Gibt es also ein „Recht auf Ritus“, das sich daraus ableitet?
Antwort: Ich würde diese Frage etwas anders formulieren und nicht so sehr sagen, daß es ein „Recht auf einen Ritus“ gibt, sondern würde eher ein natürliches, im Wesen des Menschen und des Glaubens verankertes Recht auf vollkommene Authentizität und Glaubensentsprechung eines jeden Ritus postulieren. Es gibt also eine Art Recht auf „Qualität“ und Vollständigkeit der Liturgie, auf eine Genügung in deren Beschaffenheit. Daß dies nicht ganz dasselbe ist, läßt sich daran erkennen, daß es auch innerhalb der vorkonziliaren Liturgie verschiedene Eigenriten gab, etwa territorial wie die Riten von Mailand, Lyon oder Toledo, oder beispielsweise die ordenseigenen Riten wie etwa den Dominikanerritus, Kartäuserritus und andere. Man könnte jetzt nicht einfach in einem Bergdorf im Himalaya das Recht beanspruchen, daß beispielsweise der ambrosianische Ritus zelebriert wird, so wie man in Mailand nicht darauf bestehen könnte, daß der römische Ritus zelebriert wird, oder der Dominikanerritus in einer Pfarrei oder bei den Kapuzinerinnen. In diesem Sinne kann man sich die Riten nicht frei nach Belieben und Geschmack auswählen, weil sie auch ihre eigene Genese in sich tragen.
Sehr wohl würde ich es allerdings bejahen, daß es ein Recht der Gläubigen (und auch der Priester) darauf gibt, uneingeschränkten Zugang zu jener Liturgie zu haben, wie sie vor der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils in Gebrauch war. Und zwar ganz einfach deshalb, weil sie eine unverkürzte Glaubensentsprechung vorweisen kann. Die klassische Liturgie ist sozusagen die Vollform kirchlicher Liturgie. Die neue Liturgie stellt ihr gegenüber hingegen eine deutliche Reduzierung dar. Die klassische Liturgie ist gewissermaßen vollständiger, während die neue Liturgie zwar gültig ist, aber deutliche Mängel und Auslassungen aufweist und ihr letztlich auch ein vollkommen anderes theologisches Verständnis zugrunde liegt, das der katholischen Tradition fremd und in vielem sogar widersprechend ist. Sie ist sehr zweideutig geworden. Erst aus dem natürlichen Recht auf die Vollständigkeit des Glaubens ergibt sich das Recht auf eine dementsprechende Liturgie – und dies ist eben nur in den traditionellen Liturgien der Kirche gegeben und gewährleistet. Es genügt nicht einfach zu sagen: „Hauptsache gültig“ und die Gläubigen damit abzuspeisen ganz nach dem Motto „friß oder stirb“, sondern das Recht auf die „alte Liturgie“ ergibt sich aus deren größerer Tiefe und Vollständigkeit. Das Volle hat gegenüber dem Reduzierten stets den Vorrang. Das gilt ganz generell für alle Bereiche, auch die profanen, aber erst recht, wenn es um Sakrales geht. So wie die Gläubigen ein natürliches Recht darauf haben, daß ihnen die Heilige Schrift und der katholische Glaube vollständig und unverfälscht dargeboten werden, so haben sie ebenso ein Anrecht auf Vollständigkeit und Unverkürztheit der Liturgie. Die klassische Liturgie ist gegenüber der neuen eben umfassender, ihr liegt ein komplett anderes Selbstverständnis zugrunde und sie ermöglicht eine Form kirchlichen Betens, welche durch die neue Liturgie nicht ersetzt werden kann und somit verunmöglicht wird, wenn die alte Liturgie fehlt. Und weil das Vollständige und Korrektere in der klassischen Liturgie sehr viel deutlicher und besser verwirklicht ist, ergibt sich eben auch ein Recht auf diese Liturgieform: nicht wegen eines „Rechts auf Ritus“, sondern wegen eines „Rechts auf die höchstmögliche Qualität“. Die Gläubigen haben ein Recht, Zugang zu einer Erbauung der Seele zu haben, wie sie durch die neue Liturgie nicht erfolgen kann, und zwar prinzipiell nicht, weil in der neuen Liturgie selbst zentrale Elemente fehlen, die zwar nicht die Gültigkeit des Sakramentes betreffen, sehr wohl aber die geistliche Erbauung und die geistliche Formung der Seele.
Aus diesen Unterschieden ergibt sich also erst das Recht auf die alte Messe: nicht weil es ein Recht auf Ritus gäbe, aber ein Recht auf Fülle gegenüber dem Reduzierten. Man darf sich hierbei, analog zur Moraltheologie, also sozusagen nehmen, was einem als Katholiken zusteht, man darf sich auch unerlaubt das nehmen, was einem an Notwendigem schuldhaft vorenthalten wird. Und diese Notwendigkeit ergibt sich daraus, daß die neue Liturgie nicht alles zu ersetzen imstande ist, was sie gegenüber der alten aufgegeben und verändert hat. Deshalb darf und soll auch ein Priester trotz Verbot für sich selbst und die Gläubigen sämtliche Liturgien im alten Ritus zelebrieren.
*Mag. Don Michael Gurtner ist ein aus Österreich stammender Diözesanpriester, der in der Zeit des öffentlichen Meßverbots diesem widerstanden und sich große Verdienste um den Zugang der Gläubigen zu den Sakramenten erworben hat. Die aktuelle Kolumne erscheint jeden Samstag.
Das Buch zur Reihe: Don Michael Gurtner: Zur Lage der Kirche, Selbstverlag, 2023, 216 Seiten.
Bisher erschienen:
- Zur Lage der Kirche – eine neue Kolumne
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