Frage: Das bedeutet, das jüngste Konzil wird überbewertet und in seiner Bedeutung überhöht, wenn man es jeglicher Kritik und Debatte zu entziehen sucht?
Antwort: Ja, das kann man so sagen. Das jüngste Konzil ist ein Konzil sui generis. Es unterscheidet sich sowohl formal als auch in seiner Selbstsicht sehr deutlich von allen vorherigen. Wer jünger ist als etwa 70 Jahre, hat jedoch keinen wirklich persönlichen Bezug mehr dazu. Für sie ist es ein fernes Ereignis der jüngeren Kirchengeschichte, ein historisches Faktum, das schon lange seine Früchte zeigt und es immer deutlicher tut. Man sollte hier eine große Nüchternheit und einen großen Realismus walten lassen, aber auch die Freiheit einer offenen und ehrlichen Diskussion gewähren. Das ist derzeit nicht der Fall, hier herrscht ein ungerechtfertigter Meinungszwang innerhalb der katholischen Hierarchie. Es gibt nur eine einzige akzeptierte und zugelassene Meinung, und davon abzuweichen kann schnell zu Isolation und „karrieretechnischen“ Konsequenzen führen, während „Ausschreitungen auf linker Seite“ ohne Folgen bleiben und vielfach sogar gewünscht sind und prämiert werden, etwa durch Beförderungen.
Wir brauchen sogar sehr dringend eine aufrichtige und ehrliche Debatte über das letzte Konzil: über dessen Inhalte, über seine Wirkungen, aber auch über seine teils wirklich erschreckenden Hintergründe, welche mehr und mehr dank historischer Forschungen und Tagebücher sowie Korrespondenzen aus den Hinterlassenschaften der direkt Beteiligten zutage treten. Das alles müßte zu einer objektiven und emotionslosen Neubewertung des Zweiten Vatikanischen Konzils führen. Es ist keine Schande und keine Häresie, im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert zu denken und es auch ehrlich zuzugeben, daß sich das Vaticanum II als ein großer Fehler erwiesen hat, als ein gescheitertes Konzil sozusagen. Daraus muß man dann aber auch Konsequenzen ziehen. Am jüngsten Konzil ist die Kirche nicht genesen, sondern daran zu Tode erkrankt, und wir leiden noch immer sehr darunter. Wir sind mittlerweile in die Agonie eingetreten. Etwas plakativ zusammengefaßt könnten wir also sagen: An der Kirche leiden wir dem Himmel entgegen.
Die Kirche kann Wahrheit und somit auch ihre Lehre nicht einfach frei und willkürlich generieren und festlegen, sondern nur feststellen im Sinne eines Erkennens einer ihr vorausgehenden, von Christus her kommenden Tatsache. Daß ihr dies tatsächlich in all ihren Aussagen gelingt oder sie es überhaupt will, ist kein Automatismus und keine Selbstverständlichkeit, sondern eine potentielle Fakultät. Ob dieses Potential sich auch tatsächlich in ihren einzelnen Aussagen realisiert, hängt von zahlreichen Faktoren ab, nicht zuletzt auch von ihrem Willen und Ringen, wirklich den Willen Gottes zu erkennen und ihn zu erfüllen.
Ihre Aufgabe ist es, zuerst eine göttliche Wahrheit oder einen göttlichen Willen unter seinem Beistand als solche zu erkennen und diese dann zu formulieren bzw. getreu umzusetzen. Vielfach geht es aber den umgekehrten Weg: Man trifft selbst, rein menschlich, eine Entscheidung, und sucht dann nach geeigneten Bibelstellen oder Argumenten, um diesen menschlichen oder politischen Entscheidungen einen religiösen Anstrich zu verpassen und ihnen dadurch sozusagen eine Rechtfertigung zu organisieren. Daß solch ein Vorgehen nicht zu glaubensverbindlichen Aussagen führen kann, ist offensichtlich, weil damit nicht mehr Gott im Zentrum steht und als Maßstab dient, sondern das rein Menschliche. Die Richtung ist sozusagen invertiert. Daß dies beim letzten Konzil in zahlreichen Fällen ebenso geschehen ist, steht außer Zweifel, und davon muß es sozusagen gereinigt und befreit werden.
Deshalb muß es in Zukunft zu einer Neubewertung der einzelnen Konzilstexte sowie des Konzils in seinem Gesamt kommen, wenn die Kirche wieder genesen und Gott in ihr Zentrum stellen möchte. Doch solange ihr dieser aufrichtige Wille zur Gottzentriertheit fehlt, wird sie sich dagegen wehren, denn es war ja gerade das jüngste Konzil sowie die darauf basierenden Reformen, durch welche die anthropologische Wende in der Kirche eingeleitet wurde, und welche nun – wie von zahlreichen wachen Geistern vorhergesehen – emsig dabei ist, die Kirche von innen her zu zersetzen.
Von daher würde ich eine objektive, emotionsbefreite und wirklich freie Debatte über das Zweite Vatikanische Konzil als eine conditio sine qua non für eine Genesung der Kirche sehen. Folglich ist es auch nicht häretisch oder unkatholisch, das Konzil kritisch zu hinterfragen, sondern im Gegenteil, es ist der Versuch, der Kirche wieder jene Ausrichtung auf ihr Zentrum zurückzugeben, welche sie gerade auch durch das letzte Konzil verloren hat.
*Mag. Don Michael Gurtner ist ein aus Österreich stammender Diözesanpriester, der in der Zeit des öffentlichen Meßverbots diesem widerstanden und sich große Verdienste um den Zugang der Gläubigen zu den Sakramenten erworben hat. Die aktuelle Kolumne erscheint jeden Samstag.
Das Buch zur Reihe: Don Michael Gurtner: Zur Lage der Kirche, Selbstverlag, 2023, 216 Seiten.
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