Von Don Michael Gurtner*
Frage 5: Ein oftmal erhobener Vorwurf ist, daß die traditionelle Liturgie formalistisch sei: Der Ritus sei äußere Form und als solche nicht das eigentlich Wesentliche. Folglich dürfe man daran nicht festhängen. Nicht die Form zähle schließlich, sie sei nebensächlich, sondern die Substanz sei das eigentlich Wichtige. Die Form wird daher in das vollkommen Beliebige abgedrängt. Daher meine Frage: Wo verläuft die Grenze zwischen Form und Formalismus, und wie verhält sich die Form zur Substanz?
Antwort: Zunächst ist einmal wichtig, daß man die einzelnen Aspekte dieser Vorwürfe, die oftmals sehr populistisch sind, richtig einordnet. Richtig an diesem Ansatz ist die prinzipielle Feststellung, daß es eine generelle Hierarchie der Dinge gibt. Nicht der Wahrheiten, wie man heute oft sagt, aber doch der Dinge und deren Bedeutung. Das wird auch niemand bestreiten. Auch daß es bei der Liturgie nicht um eine reine Formübung oder das „Abzelebrieren“ der vorgeschriebenen Neriken und Rubriken geht, ist an sich richtig – aber das ist eben mehr ein falscher Vorwurf als eine wirkliche Tatsache, der aus einer Ecke kommt, der alles gottzentrierte Liturgische von vorneherein schlechtmachen und abschaffen möchte und daher stark manipuliert und auch bewußt polemisiert. Heute scheint es, als müsse man durch einen schlampigen, desinteressierten Zelebrationsstil beweisen, daß man nicht die Form an erste Stelle setzt. Wer „korrekt“ zelebriert (das Adjektiv „korrekt“ wird dabei negativ konnotiert, beinahe als ein Vorwurf), der wird sich sehr bald Vorwürfen dieser Art ausgesetzt sehen, und man erwartet sich, daß er sie durch demonstrative Gleichgültigkeit widerlegt.
Daß die Liturgie Wert auf eine gewisse Form legt, ist richtig, aber auch wichtig, und keine reine ästhetische Präferenz. Sie muß es auch tun, denn ohne eine Formgebung, die eben durch Liturgie und Ritus geschieht, bliebe auch das Wesentliche und Inhaltliche undefiniert und formlos verschwommen. Gerade weil es eben zunächst einmal um das Substantielle geht, das gewahrt werden muß, ist das (angeblich nur) Formelle letztlich eben doch so wichtig. Nicht aus einem Selbstzweck heraus, sondern weil es im Dienst des Substantiellen und eigentlich Wesentlichen steht. Von daher würde ich mich entschieden gegen den Vorwurf verwehren, alle Form sei bloßer Formalismus, der vom Wesentlichen ablenke. Ganz im Gegenteil: Die Form kommt gerade aus dem Substantiellen und lenkt auf das Wesentliche hin. Ohne die rechte Form geht letztlich das Verständnis für das Substantielle verloren, das man ja eigentlich schützen möchte. Von daher ist die liturgische Form zwar nicht selbst das Wesentliche, weil es letztlich nicht um sie geht, aber sie ist in ihrer Funktionalität dermaßen an das Primäre gebunden, daß man eher sagen muß: Sie ist zwar nicht selbst das Primäre, aber sie ist dermaßen innig damit verbunden, daß das eine ohne das andere nicht dauerhaft fortbestehen kann. Und wir sehen diesen Konnex heute ja leider auch ganz konkret und deutlich:
Nach der jüngsten Liturgiereform hat man dem Formellen und Rituellen zu wenig Wert beigemessen und ihre Potenz weit unterschätzt. Man wollte, warum auch immer, das Eigentliche vom Uneigentlichen befreien, somit freilegen und deutlicher hervortreten lassen, wie man behauptete. Doch das war in sich schon ein fataler Fehler, und das Gegenteil des angeblich Angestrebten ist eingetreten: Gemeinsam mit der Hülle hat man letztlich auch den Kern weggerissen, gewollt oder ungewollt, jedenfalls ist mit dem Formellen auch das Substantielle abhandengekommen. Wenn Kern und Hülle so eng miteinander verbunden und ineinander verwoben sind und voneinander abhängen, dann kann man nicht die Hülle entfernen, ohne den Kern mit zu zerstören. Formelhaft kann man sagen, das Wesentliche ist gekippt, weil man am Unwesentlichen gekratzt hat und somit die schützende und stützende Hülle gefallen ist. Das Formell-Zweitrangige wirkt wie ein Schutzwall einer mittelalterlichen Burg: Auch die äußeren, die eigentliche,Burg umgebenden Mauern werden tüchtig verteidigt, denn solange diese halten, hält auch die innere Burg und ist geschützt; fallen die äußeren Mauern, so fällt schließlich auch die Burg selbst.
Die Grenze von Form und Formalismus, auf die angesprochen wurde, würde ich an der Grundlage ziehen, die den äußerlich wahrnehmbaren Gestalten zugrunde liegt: Eine Form liegt dann vor, wenn sie sich selbst von ihr objektiv vorliegenden Inhalten formen läßt und damit umsetzt, was ihr vorangehend ist. Das ist in diesem Fall die Offenbarung, die Anbetung Gottes, das unblutige Kreuzesopfer Jesu Christi, das sich auf dem Altar erneuert, die reale Gegenwart Jesu Christi in der Heiligsten Eucharistie mit Leib und Blut, Geist und Seele, Menschheit und Gottheit. Die Form adaptiert sich an diesen Gegebenheiten, die sich niemand ausgedacht hat, sondern dem göttlich offenbarten Glauben entspringen. Auch wenn der förmliche Ausdruck in den verschiedenen legitimen Riten so und anders sein kann, so ist es dennoch immer eine Form und kein Formalismus, weil das Formgebende etwas objektiv Vorgehendes ist.
Von Formalismus hingegen würde ich dann sprechen, wenn eine menschliche Idee vorangängig ist, der dann eine äußere Entsprechung bzw. Gestalt gegeben wird, um diese zu transportieren. Es ist also etwas Subjektiv-Menschliches, aus dem ein Formalismus entspringt.
Die Form ergibt sich natürlich aus dem Objektiven, der Formalismus ist hingegen ein synthetisches Produkt aus subjektiven Entscheidungen.
*Mag. Don Michael Gurtner ist ein aus Österreich stammender Diözesanpriester, der in der Zeit des öffentlichen Meßverbots diesem widerstanden und sich große Verdienste um den Zugang der Gläubigen zu den Sakramenten erworben hat. Die aktuelle Kolumne erscheint jeden Samstag.
Das Buch zur Reihe: Don Michael Gurtner: Zur Lage der Kirche, Selbstverlag, 2023, 216 Seiten.
Bisher erschienen:
Im weltlichen Bereich der Vollkommenheit der klassischen Musik wurde der Dirigent Herbert v. Karajan auch des „Fomalismus“ oder „Ästhetizismus“ bezichtigt, weil er Wert darauf legte, daß jedes Werk so gespielt und interpretiert wird, wie der Komponist es erschuf.
Er sagte: „Wer die Form verändert, der verändert auch den Inhalt…“
Das kann man umsomehr analog auf die Erhabenheit und übernatürlichen Vollkomenheit der römischen Liturgie andenken und man hat alles erklärt. Die göttliche „Ordnung“ drückt sich in der Form und Schönheit aus, sie ist ein Teil der göttlichen Vollkommenheit und braucht kein individuelles „Machen“ des handelnden Menschen, der sich da als „Neu-Schöpfer“ anmaßend einmischen würde.