
Von Don Michael Gurtner*
Frage: Und wie sollten die Gläubigen dann die Hl. Schrift lesen?
Antwort: Es haben sich drei Leitfäden sehr bewährt, die alle zeitgleich beim Bibelstudium Beachtung finden sollten.
Das eine ist die sogenannte „kanonische Lesart“, die anstatt der historisch-kritischen Methode angewandt werden sollte. Oder anders formuliert: Die Hl. Schrift legt sich selbst aus. Man darf die einzelnen Teile nicht unabhängig voneinander nebeneinanderstellen und aus dem Gesamt der Schrift herauslösen, sondern muß jede einzelne Schriftstelle als in das Ganze der Bibel eingebettet betrachten. Viele Bedeutungen erklären sich aus anderen Bibelstellen heraus von selbst – eben aus dem „Kanon“ der Schrift heraus, daher die Bezeichnung.
Damit eng verbunden ist der zweite Leitfaden: Das Alte und das Neue Testament sind als eine Einheit zu betrachten anstatt als zwei separate Teile. Denn das Alte Testament strebt auf Christus hin, der im Neuen Testament offenbar wird. Dazu gilt der Merksatz: Novum Testamentum in Vetere latet, et in Novo Vetus patet. Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, und im Neuen wird das Alte enthüllt.
Schließlich gilt der dritte und wichtigste Leitsatz, nämlich jener des vierfachen Schriftsinnes: historisch, allegorisch, moralisch und anagogisch. Diese Lesart des vierfachen Schriftsinns wurde seit der Antike angewandt und hatte sich bis vor etwa hundert Jahren gehalten, zumindest in der katholischen Kirche, denn es waren bezeichnenderweise die Protestanten, allen voran Luther, die sich von ihr abwandten. Dazu lernte man einst einen sehr sinnvollen Hexameter als einfachen Merksatz: Littera gesta docet, quid credas allegoria; moralis quid agas, quo tendas anagogia. Der Buchstabe lehrt die Ereignisse, was Du zu glauben hast, die Allegorie; die Moral, was Du tun sollst, wohin Du streben sollst, die Anagogie.
*Mag. Don Michael Gurtner ist ein aus Österreich stammender Diözesanpriester, der in der Zeit des öffentlichen Meßverbots diesem widerstanden und sich große Verdienste um den Zugang der Gläubigen zu den Sakramenten erworben hat. Die aktuelle Kolumne erscheint jeden Samstag.
Das Buch zur Reihe: Don Michael Gurtner: Zur Lage der Kirche, Selbstverlag, 2023, 216 Seiten.
Bisher erschienen:
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