Von Don Michael Gurtner*
Frage: Kann man das vielleicht an ein oder zwei Beispielen zeigen?
Antwort: Ein besonders eindrückliches Beispiel (im negativen Sinne) ist die Streichung der letzten drei Verse der zweiten Lesung zu Fronleichnam im Lesejahr C: 1 Kor 11,23–26, die Einsetzung der Eucharistie. Im traditionellen Ritus hat die ganze Kirche früher an diesem Tag jedoch 1 Kor 11,23–29 gelesen, also drei Verse mehr. In diesen drei weggelassenen Versen geht es um die eindringliche Warnung des Herrn, sich selbst vor dem Kommunionempfang zu prüfen, um nicht unwürdig zu kommunizieren und sich dadurch schuldig am Leib des Herrn zu machen. Wer ohne Unterscheidung den Leib Christi empfängt, der zieht sich dadurch das Gericht zu. Das sind ernste und wichtige Worte, die auch auf das Seelenheil Auswirkungen haben. Was ist die Motivation dahinter, wenn man diese wichtige Mahnung im Gegensatz zu früher heute verschweigt? Welchen geistlichen Vorteil soll es den Menschen bringen, ihnen nur mehr die Hälfte zu sagen? Was steht da dahinter?
Ein zweites, besonders zynisches Beispiel sei zur weiteren Illustration hier angeführt: Es handelt sich um den 22. Sonntag im Jahreszyklus B. An diesem Sonntag läßt die Liturgie der Kirche Mk 7,1–8.14–15.21–23 lesen. Allein schon an der Angabe der Schriftstelle sieht man, wie viele Auslassungen es gibt: Von 23 Versen sind 10 entfernt worden, nämlich 9–13 und 16–20. Das sind immerhin 43 Prozent!
Die verbliebenen Stellen, aneinandergestückelt, lesen sich so, als wäre Jesus gegen sämtliche religiöse Riten und Regeln, besonders die liturgischen. Und darauf zielen auch viele der „Hinführungen“ zum Evangelium ab, die man auf offiziellen kirchlichen Seiten liest und die vielen Priestern als Predigtvorbereitung dienen: Jesus wollte eigentlich gar keine Liturgie, keine religiösen Riten und Vorschriften, er hätte sich gegen alles „Äußerliche“ aufgelehnt.
Dieser Eindruck kann tatsächlich entstehen, allerdings nur weil durch die Auslassungen eine vollkommen neue Situation entsteht, die sich so gar nicht zugetragen hat bzw. die Jesus absolut nicht gemeint hat.
Denn ausgelassen wurden ausgerechnet jene Stellen, in denen Jesus selbst seine eigenen Worte interpretiert und erklärt! Er kritisiert genau das Gegenteil von dem, was uns durch diese Auslassungen suggeriert wird, nämlich nicht die Regeln, sondern daß die Pharisäer versuchen, durch geschickte Manipulation Gottes Gebote, die Regeln und Gesetze auszuhebeln und die Offenbarung Gottes so zu mißbrauchen, daß sie in böswilliger Absicht Teile der Offenbarung Gottes dazu verwenden, um andere Teile der Offenbarung Gottes auszuhebeln und manipulativ zu verändern. Wörtlich sagt er: „Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an Überlieferung der Menschen. Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft, um eure eigene Überlieferung aufzurichten“. Er kritisiert also nicht Liturgie, sondern genau das Gegenteil, nämlich daß die Weisungen Gottes nicht befolgt werden, wobei man sich auf Gott selbst beruft: so als ob Gott sich selbst widersprechen würde.
Kurz: Zynischerweise kritisiert Jesus in dieser Perikope, wenn man sie ganz und mitsamt ihren Auslassungen liest, genau das, was die Reformer der liturgischen Leseordnung bzw. der liturgischen Ordnung im allgemeinen genau hier selbst machen: nämlich den Sinn der Heiligen Schrift so zu manipulieren, daß ein völlig anderer, von ihnen gewollter Sinn dabei herauskommt. Sie ersetzen das, was Gott gefügt hat, mit ihrem Eigenen, und berufen sich dabei noch auf die von ihnen zu ihren eigenen Zwecken manipulierte Offenbarung.
Auch hier fragt man sich: Welche Motivation und welche Intention stehen hinter dieser Manipulation der Heiligen Schrift? Was ist Sinn und Zweck, und was sollte das bei den Gläubigen bewirken? Die Antwort scheint ebenso erschreckend wie offensichtlich, doch leider hat es tatsächlich gewirkt.
*Mag. Don Michael Gurtner ist ein aus Österreich stammender Diözesanpriester, der in der Zeit des öffentlichen Meßverbots diesem widerstanden und sich große Verdienste um den Zugang der Gläubigen zu den Sakramenten erworben hat. Die aktuelle Kolumne erscheint jeden Samstag.
Das Buch zur Reihe: Don Michael Gurtner: Zur Lage der Kirche, Selbstverlag, 2023, 216 Seiten.
Bisher erschienen:
- Zur Lage der Kirche – eine neue Kolumne
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