
Von Clemens Victor Oldendorf.
Im Motu proprio Traditionis Custodes (TC) wird vom Axiom Lex supplicandi statuat legem credendi ein fragwürdiger Gebrauch gemacht. In dieser ursprünglichen Formulierung bei Prosper Tiro von Aquitanien (* um 390 vermutlich in Limoges, + 455 in Rom) bestimmt die lex supplicandi einseitig die lex credendi und stellt sie auf. Nicht umgekehrt oder auch nur wechselseitig. In ihrer popularisierten Fassung lex orandi – lex credendi wird die Zuordnung beider schon relativ lange als Wechselbeziehung aufgefasst. Das ist nicht das Problem, das sich erst mit TC erhebt, aber Franziskus zitiert expressis verbis überhaupt nur die lex orandi.
Für den Bereich der Lateinischen Kirche sagt er, die nachkonziliar erneuerten liturgischen Bücher, die in der Autorität Pauls VI. und Johannes Pauls II. herausgegeben wurden, seien als der einzige oder alleinige Ausdruck des Römischen Ritus zu betrachten. Das ist an sich genauso eine Rechtsfiktion, wie Benedikt XVI. vorher festgelegt hatte, dass die letzte tridentinische Ausgabe der liturgischen Bücher von 1962 als außerordentliche Form des Römischen Ritus zu gelten habe, die auf die Autorität des Zweiten Vatikanischen Konzils gestützte, aktuellste Ausgabe demgegenüber als dessen ordentliche Form. Der Festlegung Benedikts lag die Voraussetzung zugrunde, dass es in der ganzen Kirche, sogar ritusübergreifend, selbstverständlich nur e i n e lex credendi gibt und geben kann. An diesem Punkt nun beginnt sich das Problem von TC abzuzeichnen.
Es ist daran einerseits passend, andererseits höchst ironisch, wenn die Generaloberen der früheren Ecclesia-Dei-Gemeinschaften dem Vernehmen nach von der Gottesdienst- und der Ordenskongregation für kommenden Oktober ausgerechnet nach Limoges zu einer Versammlung einberufen werden, also im Geburtsort des Prosper Tiro zusammenkommen sollen, um das weitere Schicksal ihrer Gemeinschaften zu erfahren.
Wenn etwas selbst einmal der allgemeine Ausdruck der lex orandi im Römischen Ritus gewesen ist, so muss es dies in einer gewissen Weise auch immer bleiben, denn andernfalls kann nicht nur ein neuer Ausdruck der lex orandi gegeben sein, sondern muss sich denknotwendig die lex credendi wenigstens geändert haben oder muss sogar eine n e u e lex credendi an die Stelle der bisherigen getreten sein. Das ist die Konsequenz, wenn man das eingangs angeführte klassische Axiom als wechselseitig betrachtet oder gar meint, in seiner Umkehrung liege seine eigentliche Sinnspitze.
Freilich vollzieht Franziskus einen fundamental neuen Schritt, wenn er offensichtlich selbst behauptet, dass die lex credendi sich geändert hat und ändern kann. Denn dies war ja stets der massivste Einwand derer, die die nachkonziliare Liturgiereform aus prinzipiellen Gründen abgelehnt und nicht angenommen sowie auch theoretisch ihre Legitimität bezweifelt oder bestritten haben.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, eine Aussage Joseph Ratzingers, die er noch als Theologieprofessor formuliert hat, bahne einen Ausweg: „Es ist unmöglich, sich für das Vaticanum II und gegen Trient und Vaticanum I zu entscheiden. Wer das II. Vaticanum bejaht, so wie es sich selbst eindeutig geäußert und verstanden hat, der bejaht damit die gesamte verbindliche Tradition der katholischen Kirche, insonderheit auch die der beiden vorangegangenen Konzilien. Es ist ebenso unmöglich, sich für Trient und Vaticanum I, aber gegen Vaticanum II zu entscheiden. Wer das Vaticanum II verneint, negiert die Autorität, die die beiden anderen Konzilien trägt, und hebt sie damit von ihrem Prinzip her auf. Jede Auswahl zerstört hier das Ganze, das nur als unteilbare Einheit zu haben ist.“1 Es geht also um eine gemeinsame Autorität, die nicht davon abhängig ist oder die sich je nach dem verringert oder steigert, wenn ein Konzil dogmatische Definitionen vorgelegt oder pastorale Zielsetzungen verfolgt hat. Die allgemeinen Konzilien haben eine gemeinsame Autorität, die deshalb in allen Ökumenischen Konzilien dieselbe ist, weil sie die Gesamtkirche betreffen, nicht bloß eine Teilkirche.
Bezieht man das auf die Liturgie, so müsste es rein formal ein Nebeneinander liturgischer Kodifikationen des Römischen Ritus geben können, einmal gestützt auf den Reformauftrag des Konzils von Trient, das andere Mal auf denjenigen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Doch Papst Franziskus geht in seinem Begleitbrief zu TC offensichtlich von einer strengen Ablösung der früheren durch die spätere Kodifikation aus, was auf den ersten Blick auch logischer ist: „Wenn es stimmt, dass der Weg der Kirche in der Dynamik der Tradition zu verstehen ist, ‚die von den Aposteln ausgeht und sich in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes weiterentwickelt‘ (DV 8), dann stellt das Zweite Vatikanische Konzil die jüngste Etappe dieser Dynamik dar, in der der katholische Episkopat darauf hörte, den Weg zu erkennen, den der Geist der Kirche aufzeigt. Am Konzil zu zweifeln, bedeutet, an den Absichten der Väter selbst zu zweifeln, die auf dem ökumenischen Konzil feierlich ihre kollegiale Vollmacht cum Petro et sub Petro ausgeübt haben, und letztlich auch am Heiligen Geist selbst, der die Kirche leitet.“ Nur lösen sich Konzilien nicht einfach ab, wenn sie eine verbindende ökumenische Autorität gemeinsam haben und teilen sollen und deshalb das eine nicht gegen das andere gestellt oder ausgespielt werden kann. Außerdem zeigt sich hier wieder die problematische und verkürzende Rezeption, die das nachkonziliare Lehramt selbst vom Offenbarungsverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in Dei Verbum gemacht hat, insbesondere von DV 8, was ja auch schon 1988 in Ecclesia Dei adflicta und dem dortigen Traditionsbegriff in Nr. 4 der Fall gewesen ist.
Tradition als überflüssiger Notbehelf aufgrund einer Fehlkonzeption?
Hier muss man allerdings an ein weiteres Zitat des Konzilsteilnehmers und Theologen Joseph Ratzinger erinnern, das aus seinen „Bemerkungen zum Schema ‘De fontibus revelationis’”2 stammt: „Wenn man die Offenbarung mit ihren Materialprinzipien identifiziert, dann muss man Tradition als eigenes Materialprinzip aufrichten, wenn nicht die Offenbarung als Ganze in der Schrift aufgehen soll. Wenn man aber Offenbarung als das Vorausgehende und Größere erkennt, dann kann man es ruhig dabei belassen, dass es nur ein Materialprinzip gibt, das dennoch immer noch nicht das Ganze ist, sondern nur das Materialprinzip der übergeordneten Größe Offenbarung, die in der Kirche lebt. Dann ergibt sich freilich auch, dass man die drei Größen Schrift – Überlieferung – Kirchliches Lehramt nicht statisch nebeneinander stellen kann, sondern als den einen lebendigen Organismus des Wortes Gottes betrachten muss, das von Christus her in der Kirche lebt.”3 Ratzinger erhebt hier den Vorwurf eines defizitären, weil statischen Traditionsbegriffs. Strenggenommen sagt er sogar, eine fälschliche Identifikation der Offenbarung mit ihren Materialprinzipien erfordere es überhaupt erst, „Tradition als eigenes Materialprinzip aufrichten” zu müssen, dass also eine inhaltlich-materiell bestimmte und klar umrissene „Tradition” in der Kirche zugespitzt gesagt letztlich eine, auf einem Irrtum beruhende, Vorstellung sei.
In der Kirche leben
Für Ratzinger ist es eigentlich nicht die Tradition, sondern die „Größe der Offenbarung“, die „in der Kirche lebt“. Diese ist es ihm, die als der „lebendige Organismus des Wortes Gottes” „von Christus her in der Kirche lebt”. Wenn es auch richtig ist, dass die drei Größen „Schrift – Überlieferung – Kirchliches Lehramt” nicht statisch-steril nebeneinandergestellt werden können, müssen sie dennoch unterschieden werden, während Ratzinger sie quasi identifiziert, weil er sie als von der Größe der Offenbarung sozusagen umfangen denkt, „die in der Kirche lebt”. Soll demnach Tradition in der Kirche noch eine sinnvolle Aussage sein, dann ist „überliefern” im Endeffekt synonym mit „lehramtlich verkündigen”, beziehungsweise aufseiten der Gläubigen, die die Adressaten des Lehramtes sind, mit „in der Kirche leben”. Dies erinnert an das klassische Sentire cum Ecclesia, entspricht ihm aber dennoch gerade nicht. Vielmehr verliert Tradition auf diese Weise in letzter Konsequenz ihre inhaltliche Bestimmtheit und kann nicht mehr Maßstab des jeweils aktuellen Lehramts sein, es kann per definitionem gar keinen Traditionsbruch geben, jedenfalls kann ein solcher prinzipiell nicht mehr diagnostiziert, nicht mehr objektiv festgestellt werden.
Ultramontaner Modernismus?
Es fragt sich folglich, ob das eigentliche Defizit des Traditionsbegriffes nicht weniger in zu großer Statik als im Gegenteil vielmehr in allzu großer Dynamik besteht, welche die Tradition inhaltlich diffus werden lässt – oder in der „Tradition” nur noch positivistisch als jeweils aktuelle lehramtliche Verkündigung, die kirchlich rezipiert wird, bestehen kann. Betrachtet man das genau, gehen dabei allem Anschein nach papalistischer Ultramontanismus und Modernismus eine skurrile Liaison ein.
Einen Unterschied zwischen den Zugängen Ratzingers und Bergoglios gibt es am ehesten noch beim Verständnis von Synodalität, doch wenn wir nochmals auf die Ansprachen bei den päpstlichen Weihnachtsempfängen 2005 und 2020 zurückgreifen, lassen sich zwei Zitate direkt parallelisieren, die eine noch grundlegendere Übereinstimmung aufzeigen. Benedikt XVI. sagte 2005, man verstehe „die Natur eines Konzils bereits im Ansatz falsch“, wenn man es „als eine Art verfassunggebende Versammlung betrachtet, die eine alte Verfassung außer Kraft setzt und eine neue schafft. Eine verfassunggebende Versammlung braucht jedoch einen Auftraggeber und muss dann von diesem Auftraggeber, also vom Volk, dem die Verfassung dienen soll, ratifiziert werden. Die Konzilsväter besaßen keinen derartigen Auftrag, und niemand hatte ihnen jemals einen solchen Auftrag gegeben; es konnte ihn auch niemand geben, weil die eigentliche Kirchenverfassung vom Herrn kommt und sie uns gegeben wurde, damit wir das ewige Leben erlangen und aus dieser Perspektive heraus auch das Leben in der Zeit und die Zeit selbst erleuchten können.“ Bei Franziskus klingt das 2020 so: „Keine geschichtliche Weise, das Evangelium zu leben, gelangt je zu einem erschöpfenden Verständnis desselben. Wenn wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, werden wir ‚der ganzen Wahrheit‘ (Joh 16,13) Tag für Tag näherkommen. Ohne die Gnade des Heiligen Geistes, selbst wenn man beginnt, die Kirche synodal zu denken, wird sie sich, anstatt sich auf die Gemeinschaft mit der Präsenz des Heiligen Geistes zu beziehen, als eine beliebige demokratische Versammlung verstehen, die sich aus Mehrheiten und Minderheiten zusammensetzt. Wie ein Parlament, beispielsweise: Das ist nicht Synodalität. Allein die Gegenwart des Heiligen Geistes macht den Unterschied.“
Synedrion und Ekklesia – Identifikation miteinander oder je eigene Größe und Ebene?
Um uns dem Verständnis Ratzingers zu nähern, wodurch sogleich der qualitative Unterschied zum regierenden Papst deutlich wird, soll an dieser Stelle versucht werden, die Kernaussage von Ratzingers Beitrag „Zur Theologie des Konzils“4 herauszuschälen. In diesem Beitrag geht es darum, vom konstitutiven Element der „Versammlung“ her eine Wesensbestimmung von Kirche und von Konzil zu erzielen. Sprachlich knüpft Ratzinger dazu an die beiden Begriffe Synedrion für Konzil und Ekklesia für Kirche an. Eine theologisch-sachbezogene Begründung dafür sieht er in der zweifachen Weise der „Vergegenwärtigung“ des Heilswortes und des Heilswerkes in der Kirche gegeben. Im Synedrion eines Konzils vollzieht sich die Gegenwärtigsetzung des Offenbarungswortes ins Heute der Ekklesia und durch sie in der Welt. In der Ekklesia selbst aber ist es die Eucharistie, die die Gegenwärtigsetzung des fleischgewordenen Wortes Gottes bewirkt.5 Beides, Synedrion und Ekklesia, bedeutet Versammlung, und daher winkt die Versuchung, beide miteinander zu identifizieren. Die sprachliche Unterscheidung gebietet aber begriffliche Abgrenzung voneinander: „Das Konzil ist Synedrion, nicht Ekklesia. Beides sind qualitativ voneinander verschiedene Formen von Versammlung. Jede eucharistische Versammlung heißt Ekklesia und ist es; jede Ortskirche heißt und ist Ekklesia, weil sie immer daraufhin besteht, sich als Ekklesia, in der Gemeinschaft des ‚Brotbrechens’ zu versammeln. Aber das Konzil heißt nicht Ekklesia, es heißt Synedrion, es stellt nicht die Kirche dar, es ist nicht die Kirche, wie jede Eucharistiefeier sie hingegen ist, sondern es ist nur ein bestimmter Dienst in ihr.“6
Will man diese Feststellungen griffig zusammenfassen, könnte man sagen, dass eine fälschliche Identifikation von Synedrion und Ekklesia zu einem synodal-ekklesialen Missverständnis von Kirche führt, die erforderliche Differenzierung hingegen zu einem eucharistisch-ekklesialen und damit liturgischen Verständnis der Kirche anleitet, in der es die Funktion des Synedrion gibt: „Daraus […] folgt, dass der Radius des Konzils weit enger ist als der der Kirche insgesamt. Das Konzil ist seinem Wesen nach eine beratende und beschließende Versammlung, es übt eine Aufgabe der Leitung aus, hat Ordnungs- und Gestaltungsfunktion. […] Die Kirche ist dagegen nicht eine Ratsversammlung, sie ist ihrem Wesen nach die Versammlung um das Wort und um den zur Speise gewordenen Herrn, die vorweggenommene Teilhabe an Gottes Hochzeitsmahl. Das, was sie in ihrem eigentlichen Wesen ist, gemeinsamer Festtisch Gottes und Gegenwärtigsetzung des Wahrheitswortes Gottes, das vergeht nicht, sondern das weist über diese Welt hinaus und kommt, wenn sie zerfällt, erst zu seiner Erfüllung.“7 Nicht so poetisch, sondern prägnant gesagt: Die Ekklesia ist nicht ‚Konzilskirche’, sondern Eucharistiegemeinschaft und in der Einheit der Ortskirchen zueinander ein Netzwerk von Kommuniongemeinschaften.
Vielleicht ist der Zusammenhang nicht auf Anhieb evident, aber das, was Papst Benedikt Hermeneutik des Bruches genannt hat, geht wahrscheinlich ausgerechnet auf das synodal-ekklesiale Missverständnis von Kirche als ‚Konzilskirche’, auf die Identifikation von Synedrion und Ekklesia zurück.
Davon ausgehend wird im nächsten Beitrag Papst Franziskus‘ positiv gewandtes Verständnis von Krise und die diesem Verständnis entgegenstehende Hermeneutik des Konflikts genauer unter die Lupe genommen, mit, soviel sei schon verraten, überraschenden Einsichten.
Siehe auch: Zwei weihnachtliche Papstansprachen im Hochsommer nach Traditionis Custodes
Bild: Adoremus (Screenshot)
1 Ratzinger, J., Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, Tbd. 7/2, Freiburg im Breisgau 2012, S. 1060f.
2 In: ebd., Tbd. 7/1, Freiburg i. Breisgau 2012, S. 157–174.
3 Ebd., S. 165.
4 Vgl. ebd., S. 92–120.
5 Vgl. ebd., S. 93.
6 Ebd., S. 107.
7 Ebd., S. 106f.