Ein Beitrag von Clemens Victor Oldendorf.
Jemand, dem ich in privatem Austausch schriftlich meine Bedenken zu Traditionis Custodes mitgeteilt und dabei auf eine Kontinuität mit dem Traditionsbegriff von Ecclesia Dei adflicta Nr. 4 hingewiesen hatte, bestand umgehend auf der hohen lehramtlichen Qualität der Überlegungen Papst Benedikts zur rechten Hermeneutik des Zweiten Vatikanischen Konzils, die dieser im Grußwort bei seinem ersten Weihnachtsempfang für die Kardinäle und andere Kurienmitarbeiter 2005 als noch relativ frisch amtierender Papst angestellt hatte. Eingebunden in einen Jahresrückblick sprach er zum Heiligen Kollegium:
„Das letzte Ereignis dieses Jahres, bei dem ich bei dieser Gelegenheit verweilen möchte, ist der Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 40 Jahren. Dieser Anlass lässt Fragen aufkommen: Welches Ergebnis hatte das Konzil? Ist es richtig rezipiert worden? Was war an der Rezeption des Konzils gut, was unzulänglich oder falsch? Was muss noch getan werden? Niemand kann leugnen, dass in weiten Teilen der Kirche die Konzilsrezeption eher schwierig gewesen ist, auch wenn man auf das, was in diesen Jahren geschehen ist, nicht die Schilderung der Situation der Kirche nach dem Konzil von Nizäa, die der große Kirchenlehrer Basilius uns gegeben hat, übertragen will: Er vergleicht die Situation mit einer Schiffsschlacht in stürmischer Nacht und sagt unter anderem: ‚Das heisere Geschrei derer, die sich im Streit gegeneinander erheben, das unverständliche Geschwätz, die verworrenen Geräusche des pausenlosen Lärms, all das hat fast schon die ganze Kirche erfüllt und so durch Hinzufügungen oder Auslassungen die rechte Lehre der Kirche verfälscht‘ (vgl. De Spiritu Sancto, XXX, 77; PG32, 213 A; SCh 17bis, S. 524). Wir wollen dieses dramatische Bild nicht direkt auf die nachkonziliare Situation übertragen, aber etwas von dem, was geschehen ist, kommt darin zum Ausdruck. Die Frage taucht auf, warum die Rezeption des Konzils in einem großen Teil der Kirche so schwierig gewesen ist. Nun ja, alles hängt ab von einer korrekten Auslegung des Konzils oder – wie wir heute sagen würden – von einer korrekten Hermeneutik, von seiner korrekten Deutung und Umsetzung. Die Probleme der Rezeption entsprangen der Tatsache, dass zwei gegensätzliche Hermeneutiken miteinander konfrontiert wurden und im Streit lagen. Die eine hat Verwirrung gestiftet, die andere hat Früchte getragen, was in der Stille geschah, aber immer deutlicher sichtbar wurde, und sie trägt auch weiterhin Früchte. Auf der einen Seite gibt es eine Auslegung, die ich Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches nennen möchte; sie hat sich nicht selten das Wohlwollen der Massenmedien und auch eines Teiles der modernen Theologie zunutze machen können. Auf der anderen Seite gibt es die Hermeneutik der Reform, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität; die Kirche ist ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf seinem Weg. Die Hermeneutik der Diskontinuität birgt das Risiko eines Bruches zwischen vorkonziliarer und nachkonziliarer Kirche in sich. Ihre Vertreter behaupten, dass die Konzilstexte als solche noch nicht wirklich den Konzilsgeist ausdrückten. Sie seien das Ergebnis von Kompromissen, die geschlossen wurden, um Einmütigkeit herzustellen, wobei viele alte und inzwischen nutzlos gewordene Dinge mitgeschleppt und wieder bestätigt werden mussten. Nicht in diesen Kompromissen komme jedoch der wahre Geist des Konzils zum Vorschein, sondern im Elan auf das Neue hin, das den Texten zugrunde liege: nur in diesem Elan liege der wahre Konzilsgeist, und hier müsse man ansetzen und dementsprechend fortfahren. Eben weil die Texte den wahren Konzilsgeist und seine Neuartigkeit nur unvollkommen zum Ausdruck brächten, sei es notwendig, mutig über die Texte hinauszugehen und dem Neuen Raum zu verschaffen, das die tiefere, wenn auch noch nicht scharf umrissene Absicht des Konzils zum Ausdruck bringe. Mit einem Wort, man solle nicht den Konzilstexten, sondern ihrem Geist folgen. Unter diesen Umständen entsteht natürlich ein großer Spielraum für die Frage, wie dieser Geist denn zu umschreiben sei, und folglich schafft man Raum für Spekulationen. Damit missversteht man jedoch bereits im Ansatz die Natur eines Konzils als solchen. Es wird so als eine Art verfassunggebende Versammlung betrachtet, die eine alte Verfassung außer Kraft setzt und eine neue schafft. Eine verfassunggebende Versammlung braucht jedoch einen Auftraggeber und muss dann von diesem Auftraggeber, also vom Volk, dem die Verfassung dienen soll, ratifiziert werden. Die Konzilsväter besaßen keinen derartigen Auftrag, und niemand hatte ihnen jemals einen solchen Auftrag gegeben; es konnte ihn auch niemand geben, weil die eigentliche Kirchenverfassung vom Herrn kommt, und sie uns gegeben wurde, damit wir das ewige Leben erlangen und aus dieser Perspektive heraus auch das Leben in der Zeit und die Zeit selbst erleuchten können.“1.
Kurz darauf fuhr Benedikt XVI. damals fort:
„Der Hermeneutik der Diskontinuität steht die Hermeneutik der Reform gegenüber, von der zuerst Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache zum Konzil am 11. Oktober 1962 gesprochen hat und dann Papst Paul VI. in der Abschlussansprache am 7. Dezember 1965. Ich möchte hier nur die wohlbekannten Worte Johannes’ XXIII. zitieren, die diese Hermeneutik unmissverständlich zum Ausdruck bringen, wenn er sagt, dass das Konzil ‚die Lehre rein und vollständig übermitteln will, ohne Abschwächungen oder Entstellungen‘ und dann fortfährt: ‚Unsere Pflicht ist es nicht nur, dieses kostbare Gut zu hüten, so als interessierte uns nur das Altehrwürdige an ihm, sondern auch, uns mit eifrigem Willen und ohne Furcht dem Werk zu widmen, das unsere Zeit von uns verlangt. Es ist notwendig, die unumstößliche und unveränderliche Lehre, die treu geachtet werden muss, zu vertiefen und sie so zu formulieren, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht. Eine Sache sind nämlich die Glaubensinhalte, also die in unserer ehrwürdigen Lehre enthaltenen Wahrheiten, eine andere Sache ist die Art, wie sie formuliert werden, wobei ihr Sinn und ihre Tragweite erhalten bleiben müssen‘ (S. Oec. Conc. Vat. II Constitutiones Decreta Declarationes, 1974, S. 863–65). Es ist klar, dass der Versuch, eine bestimmte Wahrheit neu zu formulieren, es erfordert, neu über sie nachzudenken und in eine neue, lebendige Beziehung zu ihr zu treten; es ist ebenso klar, dass das neue Wort nur dann zur Reife gelangen kann, wenn es aus einem bewussten Verständnis der darin zum Ausdruck gebrachten Wahrheit entsteht, und dass die Reflexion über den Glauben andererseits auch erfordert, dass man diesen Glauben lebt. In diesem Sinne war das Programm, das Papst Johannes XXIII. vorgegeben hat, äußerst anspruchsvoll, wie auch die Verbindung von Treue und Dynamik anspruchsvoll ist. Aber überall dort, wo die Rezeption des Konzils sich an dieser Auslegung orientiert hat, ist neues Leben gewachsen und sind neue Früchte herangereift. 40 Jahre nach dem Konzil können wir die Tatsache betonen, dass seine positiven Folgen größer und lebenskräftiger sind, als es in der Unruhe der Jahre um 1968 den Anschein haben konnte. Heute sehen wir, dass der gute Same, auch wenn er sich langsam entwickelt, dennoch wächst, und so wächst auch unsere tiefe Dankbarkeit für das Werk, das das Konzil vollbracht hat.[…] Es ist klar, dass in all diesen Bereichen, die in ihrer Gesamtheit ein und dasselbe Problem darstellen, eine Art Diskontinuität entstehen konnte und dass in gewissem Sinne tatsächlich eine Diskontinuität aufgetreten war. Trotzdem stellte sich jedoch heraus, dass, nachdem man zwischen verschiedenen konkreten historischen Situationen und ihren Ansprüchen unterschieden hatte, in den Grundsätzen die Kontinuität nicht aufgegeben worden war – eine Tatsache, die auf den ersten Blick leicht übersehen wird. Genau in diesem Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen liegt die Natur der wahren Reform. Innerhalb dieses Entwicklungsprozesses des Neuen unter Bewahrung der Kontinuität mussten wir lernen – besser, als es bis dahin der Fall gewesen war – zu verstehen, daß die Entscheidungen der Kirche in bezug auf vorübergehende, nicht zum Wesen gehörende Fragen – zum Beispiel in Bezug auf bestimmte konkrete Formen des Liberalismus oder der liberalen Schriftauslegung – notwendigerweise auch selbst vorübergehende Antworten sein mussten, eben weil sie Bezug nahmen auf eine bestimmte in sich selbst veränderliche Wirklichkeit. Man musste lernen, zu akzeptieren, dass bei solchen Entscheidungen nur die Grundsätze den dauerhaften Aspekt darstellen, wobei sie selbst im Hintergrund bleiben und die Entscheidung von innen heraus begründen. Die konkreten Umstände, die von der historischen Situation abhängen und daher Veränderungen unterworfen sein können, sind dagegen nicht ebenso beständig. So können die grundsätzlichen Entscheidungen ihre Gültigkeit behalten, während die Art ihrer Anwendung auf neue Zusammenhänge sich ändern kann. So wird beispielsweise die Religionsfreiheit dann, wenn sie eine Unfähigkeit des Menschen, die Wahrheit zu finden, zum Ausdruck bringen soll und infolgedessen dem Relativismus den Rang eines Gesetzes verleiht, von der Ebene einer gesellschaftlichen und historischen Notwendigkeit auf die ihr nicht angemessene Ebene der Metaphysik erhoben und so ihres wahren Sinnes beraubt, was zur Folge hat, dass sie von demjenigen, der glaubt, dass der Mensch fähig sei, die Wahrheit Gottes zu erkennen, und der aufgrund der der Wahrheit innewohnenden Würde an diese Erkenntnis gebunden ist, nicht akzeptiert werden kann. Etwas ganz anderes ist es dagegen, die Religionsfreiheit als Notwendigkeit für das menschliche Zusammenleben zu betrachten oder auch als eine Folge der Tatsache, dass die Wahrheit nicht von außen aufgezwungen werden kann, sondern dass der Mensch sie sich nur durch einen Prozess innerer Überzeugung zu eigen machen kann. Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates anerkannt und übernommen und gleichzeitig ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgegriffen. […] Das Zweite Vatikanische Konzil hat durch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben der Kirche und bestimmten Grundelementen des modernen Denkens einige in der Vergangenheit gefällte Entscheidungen neu überdacht oder auch korrigiert, aber trotz dieser scheinbaren Diskontinuität hat sie ihre wahre Natur und ihre Identität bewahrt und vertieft. Die Kirche war und ist vor und nach dem Konzil dieselbe eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, die sich auf dem Weg durch die Zeiten befindet; sie ‚schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin und verkündet den Tod des Herrn, bis er wiederkommt‘ (vgl. Lumen gentium, 8). Wenn jemand erwartet hatte, dass das grundsätzliche »Ja« zur Moderne alle Spannungen lösen und die so erlangte ‚Öffnung gegenüber der Welt‘ alles in reine Harmonie verwandeln würde, dann hatte er die inneren Spannungen und auch die Widersprüche innerhalb der Moderne unterschätzt; er hatte die gefährliche Schwäche der menschlichen Natur unterschätzt, die in allen Geschichtsperioden und in jedem historischen Kontext eine Bedrohung für den Weg des Menschen darstellt. Diese Gefahren sind durch das Vorhandensein neuer Möglichkeiten und durch die neue Macht des Menschen über die Materie und über sich selbst nicht verschwunden, sondern sie nehmen im Gegenteil neue Ausmaße an: Dies zeigt ein Blick auf die gegenwärtige Geschichte sehr deutlich.“
Mein Korrespondent gab mir zu verstehen, wie wichtig und maßgeblich diese Abschnitte der Ansprache beim Weihnachtsempfang vom 22. Dezember 2005 weiterhin seien, und tatsächlich hatten bestimmte Kreise sie damals als programmatisch für das noch junge Pontifikat Benedikts XVI. aufgefasst, zumal dieser im eigentlichen Sinne keine klassische Enzyklika zum Amtsantritt herausgegeben hatte.
Mein Gesprächspartner argumentiert, dieses Kontinuitätsverständnis bliebe auch in und nach Traditionis Custodes verpflichtend, aber er verficht auch weiterhin die „Reform der Reform“ und erwartet sie, obwohl beides selbst während des Ratzinger-Pontifikates nie über das Stadium von Ideen hinausgekommen und konkret, vor allem aber verpflichtend umgesetzt worden wäre.
Auf Diskontinuität und Reform folgt Hermeneutik der Krise und Hermeneutik des Konflikts
Wenn man unvoreingenommen ist und nicht nur bestimmte Auszüge aus den damaligen Darlegungen wahrnimmt, gibt es wirklich Übereinstimmungen im Reformverständnis beider Päpste, und wenn Bemerkungen in päpstlichen Reflexionen vor Weihnachten eine so hohe lehramtliche Qualität wie behauptet besitzen sollen, dann gilt das nicht nur für Papst Benedikt, sondern entsprechend für Papst Franziskus. Wie Benedikt Diskontinuität und Reform kontrastiert, so konfrontiert Franziskus in der Weihnachtsansprache des letzten Jahres Krise und Konflikt:
Eine „Reflexion über die Krise warnt uns davor, die Kirche vorschnell nach den Krisen zu beurteilen, die durch die Skandale von gestern und heute verursacht wurden. Das tat der Prophet Elias, als er dem Herrn gegenüber sein Herz ausschüttete und dabei ein hoffnungsloses Bild der Wirklichkeit zeichnet: ‚Mit Leidenschaft bin ich für den Herrn, den Gott der Heerscharen, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übriggeblieben und nun trachten sie auch mir nach dem Leben‘ (1Kön19,14). Wie oft scheint auch unseren kirchlichen Analysen die Hoffnung zu fehlen. Ein hoffnungsloser Blick auf die Wirklichkeit kann nicht als realistisch bezeichnet werden. Die Hoffnung gibt unseren Analysen das, was unsere kurzsichtigen Augen so oft nicht wahrnehmen können. Gott antwortet Elias, dass die Wirklichkeit nicht so ist, wie er sie wahrgenommen hat: ‚Geh deinen Weg durch die Wüste zurück und begib dich nach Damaskus; […] Ich werde in Israel siebentausend übrig lassen, alle, deren Knie sich vor dem Baal nicht gebeugt und deren Mund ihn nicht geküsst hat‘ (1Kön19,15.18). Es ist nicht wahr, dass Elias allein ist: Er ist in einer Krise.
Gott lässt auch weiterhin den Samen des Gottesreiches in unserer Mitte gedeihen. […]
Wer die Krise nicht im Licht des Evangeliums betrachtet, beschränkt sich darauf, die Autopsie einer Leiche durchzuführen. Er schaut auf die Krise, aber ohne das Licht des Evangeliums. Die Krise ist nicht nur deswegen so erschreckend für uns, weil wir verlernt haben, sie so zu sehen, wie das Evangelium es uns nahelegt, sondern weil wir vergessen haben, dass allem voran das Evangelium selbst uns in eine Krise bringt. Es ist das Evangelium, das uns in eine Krise bringt. Wenn wir aber wieder den Mut und die Demut finden, laut auszusprechen, dass die Zeit der Krise eine Zeit des Heiligen Geistes ist, dann werden wir uns auch angesichts der Erfahrung von Dunkelheit, Schwäche, Zerbrechlichkeit, Widersprüchen und Verwirrung nicht mehr niedergeschlagen fühlen, sondern immer ein inniges Vertrauen darauf bewahren, dass die Dinge gerade eine neue Form annehmen, die allein aus der Erfahrung einer im Dunklen verborgenen Gnade entsprang. ‚Denn im Feuer wird Gold geprüft, und die anerkannten Menschen im Schmelzofen der Erniedrigung‘ (Sir 2,5).“ […]
[Ich möchte] „Euch dringend bitten, eine Krise nicht mit einem Konflikt zu verwechseln. Das sind zwei verschiedene Dinge. Die Krise hat im Allgemeinen einen positiven Ausgang, während ein Konflikt immer Auseinandersetzung, Wettstreit und einen scheinbar unlösbaren Antagonismus hervorbringt, bei dem die Menschen in liebenswerte Freunde und zu bekämpfende Feinde eingeteilt werden, wobei am Schluss nur eine der Parteien als Siegerin hervorgehen kann.
Die Logik des Konflikts sucht immer nach ‚Schuldigen‘, die man stigmatisiert und verachtet, und nach ‚Gerechten‘, über die man nichts kommen lässt, um das – oft magische – Bewusstsein zu schaffen, dass man mit dieser oder jener Situation nichts zu tun hat. Dieser Verlust eines Zusammengehörigkeitsgefühls begünstigt das Wachsen oder die Verhärtung bestimmter elitärer Haltungen und ‚geschlossener Gruppen‘, die begrenzende und partielle Denkweisen fördern, die die Universalität unserer Mission verarmen lassen. ‚Wenn wir im Auf und Ab der Konflikte verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit der Wirklichkeit‘ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium Nr. 226).
Interpretiert man die Kirche nach den Kategorien des Konflikts – rechts und links, progressiv und traditionalistisch – fragmentiert, polarisiert, pervertiert und verrät man ihr wahres Wesen: Sie ist ein Leib, der fortwährend in der Krise ist, gerade weil er lebendig ist, aber sie darf niemals zu einem Leib werden, der in einem Konflikt mit Siegern und Besiegten steht. In der Tat wird sie auf diese Weise Angst verbreiten; sie wird starrer und weniger synodal werden und eine einheitliche und vereinheitlichende Logik durchsetzen, die so weit von dem Reichtum und der Pluralität entfernt ist, die der Geist seiner Kirche geschenkt hat.
Die Neuheit, die durch die vom Geist gewollte Krise eingeführt wurde, ist niemals eine Neuheit, die im Widerspruch zum Alten steht, sondern eine Neuheit, die aus dem Alten hervorgeht und es fortwährend fruchtbar macht.“
Reform bei Benedikt, Krise bei Franziskus
An dieser Stelle gibt also Franziskus dem Begriff der Krise eine positive Wendung und Bedeutung, spricht gar von einer „Neuheit, die durch die vom [Heiligen, Anm. CVO] Geist gewollte Krise eingeführt wurde“. Vergleichbar mit Benedikt XVI., der den Begriff der Reform für sein Konzilsverständnis beansprucht und gleichsam unkonventionell umgewidmet hatte, nimmt Franziskus eine geradezu paradox erscheinende Begriffsumwertung vor.
Etwas später setzt Franziskus in seinen Ausführungen folgerichtig fort:
„In jeder Krise gibt es immer ein begründetes Bedürfnis nach einem Aggiornamento: das ist ein Schritt vorwärts. Aber wenn wir wirklich eine solche Aktualisierung wollen, müssen wir den Mut zu einer umfassenden Bereitschaft haben; wir müssen aufhören, die Reform der Kirche als das Flicken eines alten Kleides zu betrachten oder als schlichte Abfassung einer neuen Apostolischen Konstitution. Die Reform der Kirche ist etwas anderes. Es geht nicht darum, ein Gewand zu flicken, denn die Kirche ist kein einfaches Gewand Christi, sondern sein Leib, der die ganze Geschichte umfasst (vgl. 1Kor 12,27). Wir sind nicht aufgerufen, den Leib Christi zu verändern oder zu reformieren – ‚Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit‘! (Hebr 13,8) – aber wir sind aufgerufen, denselben Leib mit einem neuen Gewand zu bekleiden, damit klar ersichtlich wird, dass die Gnade, die wir besitzen, nicht von uns, sondern von Gott kommt; denn ‚diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt‘ (2Kor 4,7). Die Kirche ist immer ein zerbrechliches Gefäß, wertvoll aufgrund ihres Inhaltes, und nicht aufgrund dessen, was sie manchmal von sich zeigt.[…]Für die Zeit der Krise warnt uns Jesus vor einigen Lösungsversuchen, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. ‚Niemand schneidet ein Stück von einem neuen Gewand ab und setzt es auf ein altes Gewand.‘ Das Ergebnis wäre absehbar: Das Neue wäre zerschnitten, denn »zu dem alten würde das Stück von dem neuen nicht passen«. Entsprechend ‚füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst würde ja der junge Wein die Schläuche zerreißen; er läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. […] Jungen Wein muss man in neue Schläuche füllen‘ (Lk 5,36–38).
Das richtige Verhalten hingegen ist das des ‚Schriftgelehrten, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist‘, und der ‚einem Hausherrn [gleicht], der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt‘ (Mt 13,52).
Der Schatz ist die Tradition, wie Benedikt XVI. in Erinnerung rief, sie ist ‚der lebendige Fluss, der uns mit den Ursprüngen verbindet, der lebendige Fluss, in dem die Ursprünge stets gegenwärtig sind, der große Fluss, der uns zum Hafen der Ewigkeit führt‘ (Katechese, 26. April 2006). Und mir kommt dieser Satz dieses großen Musikers in den Sinn [der Papst meint Gustav Mahler, dem das folgende Zitat sinngemäß zugeschrieben wird; Anm. CVO]: ‚Die Tradition ist die Bewahrung der Zukunft, und nicht ein Museum, also ein Hüter der Asche.‘ Das ‚Alte‘ ist die Wahrheit und Gnade, die wir bereits besitzen. Das ‚Neue‘ sind die verschiedenen Aspekte der Wahrheit, die wir allmählich verstehen.
Keine geschichtliche Weise, das Evangelium zu leben, gelangt je zu einem erschöpfenden Verständnis desselben. Wenn wir uns vom Heiligen Geist leiten lassen, werden wir ‚der ganzen Wahrheit‘ (Joh 16,13) Tag für Tag näherkommen. Ohne die Gnade des Heiligen Geistes, selbst wenn man beginnt, die Kirche synodal zu denken, wird sie sich, anstatt sich auf die Gemeinschaft mit der Präsenz des Heiligen Geistes zu beziehen, als eine beliebige demokratische Versammlung verstehen, die sich aus Mehrheiten und Minderheiten zusammensetzt. Wie ein Parlament, beispielsweise: Das ist nicht Synodalität. Allein die Gegenwart des Heiligen Geistes macht den Unterschied.“
Soweit die Zitate aus der Ansprache, die Papst Franziskus am 21. Dezember 2020 gehalten hat. Vorliegender Beitrag wollte die maßgeblichen Stellen der Papstansprachen bei den Weihnachtsempfängen 2005 und 2020 zunächst hauptsächlich einmal nebeneinanderstellen. Wenn man ehrlich ist, sind die Konvergenzen, die sich andeuten, wahrlich mehr als höfliche Rhetorik oder gar manipuliertes Zitat. Folgebeiträge werden sich der genaueren Analyse widmen.
Für heute neben der Dokumentation der jeweiligen Texte von 2005 und 2020 genau einen Monat nach Erscheinen und Inkrafttreten von Traditionis Custodes lediglich ein erster Denkanstoß, ob nicht Papst Franziskus selbst in der Logik des Konfliktes steht und agiert, vor der er warnt.
Was tut er denn anderes mit Traditionis Custodes, wenn nicht dies:
„Die Logik des Konflikts sucht immer nach ‚Schuldigen‘, die man stigmatisiert und verachtet, und nach ‚Gerechten‘, über die man nichts kommen lässt, um das – oft magische – Bewusstsein zu schaffen, dass man mit dieser oder jener Situation nichts zu tun hat. Dieser Verlust eines Zusammengehörigkeitsgefühls begünstigt das Wachsen oder die Verhärtung bestimmter elitärer Haltungen und ‚geschlossener Gruppen‘, die begrenzende und partielle Denkweisen fördern“?
Bild: Vatican.va (Screenshots)
1 Fettsatz dient hier und in den folgenden Zitaten der Hervorhebung zentraler Stellen, die dennoch nicht aus ihrem originalen argumentativen Kontext herausgelöst werden sollen, da sie andernfalls leicht zu einer selektiven Wahrnehmung führen würden, die nur eigene Präferenzen bestätigt, nicht aber das verdeutlicht, was die Päpste Benedikt und Franziskus jeweils tatsächlich vertreten.
„Die Logik des Konflikts sucht immer nach ‚Schuldigen‘, die man stigmatisiert und verachtet, und nach ‚Gerechten‘, über die man nichts kommen lässt, um das – oft magische – Bewusstsein zu schaffen, dass man mit dieser oder jener Situation nichts zu tun hat. Dieser Verlust eines Zusammengehörigkeitsgefühls begünstigt das Wachsen oder die Verhärtung bestimmter elitärer Haltungen und ‚geschlossener Gruppen‘, die begrenzende und partielle Denkweisen fördern“?
Wenn ein Konzil meinen Glauben an meinen Gott angegriffen hat und das hat es, dann brauche ich nicht lange zu suchen. Ich will die Briefe von Karl Karl Rahner an Luise Rinser lesen um meine Verhärtung aufzuweichen. Aber die heutigen Jesuiten fürchten diese Briefe mehr als der Teufel das Weihwasser.
An seinen Früchten sollst du dieses Konzil erkennen. Und diese Früchte werden der Mehrheit der heutigen Katholiken ihr Seelenheil kosten.
Per Mariam ad Christum,
„Nun ja, alles hängt ab von einer korrekten Auslegung des Konzils oder – wie wir heute sagen würden – von einer korrekten Hermeneutik, von seiner korrekten Deutung und Umsetzung.“
Es kommt nur darauf an ob Satan durch dieses Konzil in die Defensive oder in die Offensive gebracht worden ist. Vor dem Konzil waren die Kirchen voll heute sind sie leer. Hermeneutik hin oder her.
“ „Die Logik des Konflikts sucht immer nach ‚Schuldigen‘, die man stigmatisiert und verachtet, und nach ‚Gerechten‘, über die man nichts kommen lässt, um das – oft magische – Bewusstsein zu schaffen, dass man mit dieser oder jener Situation nichts zu tun hat. Dieser Verlust eines Zusammengehörigkeitsgefühls begünstigt das Wachsen oder die Verhärtung bestimmter elitärer Haltungen und ‚geschlossener Gruppen‘, die begrenzende und partielle Denkweisen fördern“?
Wenn unser Herr und Gott ein derartiges Geschwätz vor über 2000 Jahren abgelassen hätte dann wäre keine Katze von den Mauern Jerusalems gesprungen und Pilatus hätte sich wegen sowas noch nichtmals seine Füße gewaschen.
Per Mariam ad Christum,