Von Cristina Siccardi*
Vor siebzig Jahren, vierzig Jahre nach seinem Tod, sprach Pius XII. am Samstag, dem 29. Mai 1954, seinen Vorgänger Pius X. (1835–1914) heilig, den er drei Jahre zuvor, am 3. Juni, seliggesprochen hatte. Am 17. Februar 1952 wurde sein verehrter Leichnam unter den Altar der Tempelgangkapelle im Petersdom gelegt.
Nach der Seligsprechung ging das Heiligsprechungsverfahren zügig voran: Am 17. Januar 1954 wurden die beiden für den Abschluß des Prozesses erforderlichen Wunder anerkannt, und am 29. Mai desselben Jahres fand vor 800.000 Menschen die Zeremonie auf dem Petersplatz statt. Der letzte Papst, der bis dahin heiliggesprochen wurde, war der heilige Pius V. am 22. Mai 1712, und nun der heilige Pius X.: beide mit dem Namen Pius, beide feste und mutige Verteidiger des Glaubens und der Kirche, zwei starke und kräftige Bollwerke gegen Irrtümer und Häresien. Der erste hatte protestantische Ideen zum Feind, die durch das Konzil von Trient eingedämmt wurden, der zweite widersetzte sich modernistischen Ideen, die später mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in die Kirche eingeführt wurden.
In der Ansprache nach dem Heiligsprechungsritus fand Pius XII. Worte, mit denen er sowohl Antonio Michele Ghislieri OP/Papst Pius V. als auch Giuseppe Melchiorre Sarto/Papst Pius X. würdigte, die aber in der aktuellen Politik des Vatikans heute einen ziemlich schrillen Widerhall finden, eine Tatsache, die alle alarmieren sollte, denen das Schicksal der Kirche auf Erden am Herzen liegt: „Der unbesiegte Meister der Kirche und durch die Vorsehung bestimmte Heilige unserer Zeit […] hatte das Aussehen eines im Kampf stehenden Riesen zur Verteidigung eines unschätzbaren Schatzes: der inneren Einheit der Kirche in ihrem innersten Fundament: dem Glauben. […] die Klarheit und Festigkeit, mit der Pius X. den siegreichen Kampf gegen die Irrtümer des Modernismus führte, zeugen von dem heroischen Grad, in dem die Tugend des Glaubens in seinem heiligen Herzen brannte. In seiner einzigartigen Sorge um die Bewahrung des göttlichen Erbes für die ihm anvertraute Herde kannte der große Papst keine Schwäche vor irgendeiner hohen Würde oder Autorität von Personen, kein Zögern angesichts verlockender, aber falscher Lehren innerhalb und außerhalb der Kirche und auch keine Furcht, sich persönliche Beleidigungen oder ungerechte Verleumdungen seiner reinen Absichten zuzuziehen.“ In der Tat hat Pius X. nicht auf die Sirenen der Welt gehört und sich nicht von den revolutionären subjektiven Theologien jener verführen lassen, die die Kirche dazu bringen wollten, sich selbst, d. h. Christus, zu verlassen, um von der protestantischen, antichristlichen und atheistischen Welt akzeptiert zu werden.
Eben deshalb hat er das Programm seines Pontifikats bereits in der ersten Enzyklika E supremi vom 4. Oktober 1903 feierlich verkündet, in der er erklärte, daß es sein einziges Ziel sei, Instaurare omnia in Christo (Eph 1,10), das heißt, alles zur Einheit in Christus zurückzuführen. „‘Welches aber ist der Weg’, fragte Pius XII. an jenem Tag, als der Leichnam des heiligen Pius X. von Pferden durch die Stadt Rom gezogen wurde, ‚der den Weg zu Jesus Christus öffnet‘, und blickte dabei liebevoll auf die verlorenen und zögernden Seelen seiner Zeit. Die Antwort, die gestern wie heute und durch die Jahrhunderte hindurch gilt, lautet: die Kirche!“. Aber die nachkonziliare Kirche begann sofort unter den Schlägen des Modernismus zu ächzen, der sich über die Tradition der Kirche erhob, sich aber weiterhin als ihr Opfer präsentierte: Da das Wesen der Institution Kirche (die restauriert, aber niemals revolutioniert werden kann) nicht revolutionär ist, hat sich eine Krise aufgetan, die nur mit dem Arianismus des 4. und 5. Jahrhunderts vergleichbar ist.
Die weisen Worte von Pius XII. bringen uns zurück zur Realität der Fakten und zum Realismus des heiligen Pius X: Pius XII. betonte seine Dankbarkeit gegenüber Pius X. für seine Fehlerdiagnosen und seine Therapien, und er rief seine Fürsprache an, damit die Kirche von „neuen Kämpfen dieser Art“ verschont bleibe, aber er betonte auch, daß das große Werk, das er gegen den Modernismus – die tödliche Umarmung zwischen den Menschen der Kirche und der Welt, zwischen den liberalen Ideen und der katholischen Religion – vollbracht hatte, von solcher Bedeutung war, daß es „weit über die katholische Welt selbst hinausging. Jene, die, wie der Modernismus, Glauben und Wissenschaft in ihrer Quelle und ihrem Gegenstand trennen, wirken in diesen beiden lebenswichtigen Bereichen eine so schädliche Spaltung, ‚daß kaum etwas mehr Tod ist‘. Man hat es praktisch gesehen: Der Mensch, der um die Jahrhundertwende bereits im Innersten gespalten war und noch immer dem Irrglauben anhing, er besitze seine Einheit im subtilen Schein von Harmonie und Glück, der auf einem rein irdischen Fortschritt beruhte, brach damals unter dem Gewicht einer ganz anderen Wirklichkeit zusammen. Pius X. sah mit wachsamen Augen diese geistige Katastrophe der modernen Welt herannahen, diese bittere Enttäuschung vor allem der gebildeten Schichten.“
Die Katastrophe steht uns vor Augen und auch vor den Augen der Kinder… Am vergangenen Samstag fand im Rom der Apostelfürsten Petrus und Paulus, im Rom der Märtyrer, der Katakomben und der Päpste, die 30. Homo-Parade der LGBTQIA+-Welt mit ihren Kostümen und Parolen statt. Unterdessen billigen viele Priester die Todsünde der Homosexualität, legitimieren sie und kultivieren sie für sich und ihre Nächsten. Und genau in diesem „Stolz“ („Pride“) wurde Papst Franziskus verspottet und verunglimpft, als er vor wenigen Tagen die Präsenz von Homosexuellen in der kirchlichen Welt öffentlich anprangerte.
Vierzig mephistophelische Zirkuswagen zogen durch Rom, das Zentrum der Katholizität, und das Motto der radikalliberalen Partei +Europa (Mehr Europa) lautete in Anspielung auf das von Franziskus gebrauchte Wort „frociaggine“: „Freie Schwuchteleien in einem freien Staat“. Das ist es, was der Liberalismus und die Freimaurerei in den Jahrzehnten seit dem Zeitalter der „Lumina“ (Aufklärung) hervorgebracht haben, „Lumina“, die auch die Hirten „illuminiert“ haben, trotz der heiligen Kämpfe von Papst Pius X.
Er erkannte, wie uns Pius XII. sagt, wie der scheinbare, von revolutionären Ideen vergiftete Glaube, der nicht in Gott, dem Offenbarer, begründet ist, sondern „in einem rein menschlichen Boden wurzelt, sich für viele im Atheismus auflösen würde. Er sah auch das verhängnisvolle Schicksal einer Wissenschaft, die im Gegensatz zur Natur und in willkürlicher Selbstbeschränkung den Weg zum absolut Wahren und Guten versperrt und so dem Menschen ohne Gott, angesichts der unbesiegbaren Finsternis, in der sein ganzes Sein liegt, nur eine Haltung der Angst oder des Hochmuts läßt.“
Papst Pius X. hat mit weitsichtigem Denken und schnellem Handeln all diesem Übel das einzig mögliche und wahre Heil entgegengesetzt: die katholische, biblische Glaubenswahrheit, die als „rationabile obsequium“ (Röm 12,1) gegenüber Gott und seiner Offenbarung akzeptiert wird. „Indem er auf diese Weise Glauben und Wissenschaft aufeinander abstimmte, die eine als übernatürliche Erweiterung und manchmal auch als Bestätigung der anderen, und die letztere als Hinführung zur ersteren, gab er dem christlichen Menschen die Einheit und den Frieden des Geistes zurück, die unausweichliche Voraussetzungen des Lebens sind.“
Die Filme des Istituto Luce sind geblieben, um den Jubel der Kirche und damit auch jenes 29. Mai vor 70 Jahren visuell zu dokumentieren und zu zeigen, wie sehr sich die von der Tradition geerbte katholische Sensibilität von derjenigen unterscheidet, die seit Johannes XXIII. vom Modernismus übernommen wurde.
Die Aufgabe des Papstes besteht darin, die Gläubigen im Glauben zu bestärken, und diese Aufgabe wurde von Pius X. heldenhaft erfüllt: „Seine Standhaftigkeit gegenüber dem Irrtum mag vielleicht fast als ein Stein des Anstoßes erscheinen; in Wirklichkeit ist sie der äußerste karitative Dienst, den ein Heiliger als Oberhaupt der Kirche der ganzen Menschheit erweist.“
In erster Linie war er ein wahrer Priester: als bescheidener Pfarrer, als Bischof, als Patriarch von Venedig, als Papst. Er schätzte vor allem, daß die Heiligkeit die Erstlingsfrucht des Priesters ist, der berufen ist, den Hohen und Ewigen Priester nachzuahmen: den Sohn Gottes. Der Priester des neuen Gesetzes ist Gott wohlgefällig in der immerwährenden Erneuerung des Kreuzesopfers in der Heiligen Messe, bis Christus das Endgericht vollzieht (1 Kor 11,24–26). Pius X. ist der Papst, der die Wesentlichkeit des heiligen Priestertums und des heiligen Altaropfers, der Nahrung der Seelen, bekräftigt hat: „Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben“ (Joh 6,58).
Wenn in unserer traurigen Zeit viele Seelen, die trotz des ohrenbetäubenden, bösartigen Lärms zur Besinnung kommen, die überlieferte Heilige Messe suchen und heilige Priester aufsuchen, um im Geiste geheilt zu werden, so ist dies auch ein Verdienst des heiligen Pius X., der in seiner Enzyklika Pascendi Dominici Gregis (8. September 1907), in klarer und kluger Weise die Übel der heutigen westlichen und antichristlichen Zivilisation darlegte, die ein „Leben erzwingt, das gegenwärtig von der Technisierung und der übermäßigen Organisation der gesamten Existenz, der Arbeit und sogar der Freizeit überwältigt zu werden droht“. Das ist genau das, was geschehen ist und das wir als Sklaven erleiden.
In der tiefen Schau, die er von der Kirche als Gesellschaft hatte, erkannte der heilige Pius X. in der göttlichen Hostie – Jesus Christus in Leib, Blut, Seele, Gottheit – die Kraft, das innere Leben eines jeden Menschen und das Leben der Kirche selbst zu nähren und sie über alle anderen menschlichen Vereinigungen zu erheben: „Ein Vorbild der Vorsehung für die heutige Welt“, nannte ihn Pius XII. bei dieser Gelegenheit, „in der die irdische Gesellschaft, die sich selbst immer mehr zu einem Rätsel geworden ist, ängstlich nach einer Lösung sucht, um sich selbst wieder eine Seele zu geben!“
*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ (Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und reformiert hat, 2014) und vor allem ihr Buch „San Francesco“ (Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte, 2019).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
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