Von Cristina Siccardi*
Es wird ein Tag kommen, an dem es heißen wird:
„Es gab eine Zeit in der Geschichte der Menschheit, in der in der westlichen Welt Kinder mit Zustimmung der Staaten im Mutterleib getötet wurden; Pornographie wurde in sozialen Medien praktiziert; Jugendliche nahmen bereits im Alter von 10 und 11 Jahren Drogen; an Schulen wurde seit dem Kindergarten die Gender-Theorie gelehrt, in der argumentiert wurde, daß es nicht nur ein männliches und ein weibliches Geschlecht gibt, sondern ganz unterschiedliche Geschlechter, d. h. Schwule, Lesben, Transsexuelle … und dafür gab es keine Familie mehr, aber viele Familienformen. Es war eine aus dem Lot geratene Welt, verrückt, gewissenlos, in der die Tugenden abgeschafft und die Sünden, auch die Todsünden, von der Kirche begrüßt wurden; sogar der Papst gab Interviews, in denen er die Notwendigkeit betonte, eingetragene Partnerschaften zwischen Schwulen anzuerkennen … und die Leute, die sich der vorherrschenden Kultur nicht anpaßten, wurden in den Fernsehsalons verspottet und zum Schweigen gebracht – wie auch in den meisten Pfarreien. In den Seminaren zirkulierten Psychoanalytiker, und die materialistische Sichtweise hielt Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen gefangen. Trotz der Pressefreiheit war es schwierig geworden, die Leute zum Nachdenken zu bringen: Besonders die ‚Gebildeten‘ und sogar die Prälaten waren so von Lügen trunken, produziert von einer nunmehr transhumanen Masse, die auch von den Vätern einer neuen Kirche hervorgebracht wurde.“
Unter den Vätern der neuen Kirche befindet sich auch David Maria Turoldo (1916–1992), der „verdammte Poet“ des 20. Jahrhunderts, der „im kirchlichen und weltlichen Bereich als prophetische Gestalt“ gilt. Er war ein begeisterter Befürworter der ekklesiologischen Revolution und „des unruhigen Gewissens der Kirche“. Pater Turoldo wurde lange Zeit von der römischen Kongregation für die Glaubenslehre, die vor dem Konzil das Heilige Offizium genannt wurde, „besonders beobachtet“. Der Servitenorden selbst, zu dessen Priestern er gehörte, entfernte ihn von verschiedenen Posten und versetzte ihn von einem Haus in ein anderes, bis Turoldo nach dem Konzil, als auch die Disziplinarmaßnahmen der Kirche viel konzilianter geworden waren, dank Giorgio La Pira, dem progressiven Bürgermeister von Florenz, seinem Freund und Mitarbeiter, einen „festen Wohnsitz“ fand.
Turoldo vertrat die Meinung, ganz dem Liberalismus folgend, daß der Glaube eine Privatsache sei und nicht öffentlich bezeugt zu werden habe, um niemand zu beleidigen. Dabei wußte er genau, daß die Apostel und Märtyrer aller Zeiten für Christus gestorben sind, weil sie ihren Glauben vor aller Welt bekannt haben. Und so behauptete er auch, daß Scheidung und Abtreibung schon „ein Übel waren und sind, das auf der Glaubens- und Gewissensebene verortet ist im Respekt gegenüber jenen, die nicht glauben, daß Abtreibung und Scheidung ein Übel sind“.
Im Mittelpunkt von Turoldos Denken stand, daß der Mensch nichts anderes zu tun habe, als sich zu seinem eigenen Menschsein zu bekehren. Deshalb war für ihn die Bekehrung zu Christus auf der Grundlage der katholischen Glaubenslehre ein für immer beendeter, veralteter und daher überflüssiger Diskurs.
Turoldo schrieb sowohl in Prosa als auch in Poesie, und das viel. In den Jahren des ungezügelten Protests, der zu den gegenwärtigen Abirrungen führte, war er eine Hauptfigur. Die Schlagzeilen von Zeitungen wie dem Corriere della Sera und La Stampa schrien es von den Titelseiten:
„Der unbequeme Bruder, der für die Scheidung kämpft.“
Seine Militanz war nicht für Christus, sondern für „Bürgerrechte“. Intellektuelle und Journalisten der laizistischen Welt trugen ihn auf Händen, weil er Priester und Ordensmann war, der für ihre „gerechte Sache“ kämpfte, so wie heute Renato Zero Papst Franziskus in der Frage der Homosexuellen-„Rechte“ unterstützt, während die Katholiken fassungslos und verloren in einem immer spröderen und sich von Glaubensunterweisung leerenden Schafstall zurückbleiben.
Turoldo, der zu den Vätern der neuen Kirche zählt, die weltweit geschätzt werden, weil sie nicht in die Parameter der Kirchenväter passen, wurde 1983 als Autor der Collecta (oratio prima) in das Römische Meßbuch aufgenommen. Das wiederholte sich 2020 mit der Neuausgabe der italienischen Übersetzung des Missale.
Damit gibt es nicht geringe Schwierigkeiten, die ein Generationenproblem erkennen lassen. Viele Priester, vor allem junge, die frei von der revolutionären Euphorie der Akteure sind, die das Zweite Vatikanische Konzil und dessen Geist prägten, sehen darin altmodische Texte. Die Collecta war stets durch einen nüchternen Charakter geprägt, während die Turoldo-Texte geradezu „bombastisch“ sind. Turoldos Einfügung in das Meßbuch ist schlichtweg unpraktisch.
Von dem Serviten stammen auch Texte wie sein im depressiven Tonfall geschriebenes Gedicht „Oh meine Tage…“:
„Erst am Abend ist es mir gegeben / dem Ablegen beizuwohnen / des Lichtes, wenn / das Leben nunmehr / hoffnungslos verloren ist. / Mein Leichenzug / in jeder Nacht: Emigration /der Sinne, Erkennen / der verratenen Stunden, während / der Geist geraubt ist / unter dem spitzen Bogen / der Existenz: Es begleitet ihn / eine Musik von unaussprechlicher / Stille. / Stattdessen muß ich / jeden Morgen wieder aufstehen / immer träumen / unmögliche Wege.“
Wieviel Bitterkeit, wieviel Angst war in diesem Ordensmann, der sehr wenig von der Frische und Lebhaftigkeit des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe hatte.
In seinem Buch Das große Übel („Il grande male“, Mondadori, Mailand 1987) schrieb er mit der Eingebung des gequälten und unschlüssigen Poeten und weit entfernt von den Gewißheiten, die der Erlöser schenkt, der auf die Erde kam, um mit Seiner Kreuzigung unsere Sünden zu kreuzigen, und daher auch weit entfernt von den Freudengesängen des heiligen Franziskus von Assisi, der auf französisch, lateinisch, italienisch jubelnd durch die Straßen zog:
„Nur Worte, oh Papst: / Worte, und im Gegensatz dazu / der irreparable Tod / des Wortes. / Die Kirchen, ein Lärm / die Menschen immer / mehr allein / und nutzlos. / Und der Himmel ist leer: / Gott noch mehr als tot / ist abwesend!“
In seinen Ultimi Canti („Letzte Gesänge“, Garzanti, Mailand 1991) lesen wir in der dunklen Seele des Autors, der keine überzeugenden Antworten auf seine enttäuschte Suche findet:
„Sofort spürst du, wie die Zeit zerbricht / zwischen den Händen: das letzte / Mal, wenn / du nicht mehr diese Farben sehen wirst / und die Sonne, noch dich mit den Freunden / am Abend treffen wirst… / Also, wie lange noch? / Du und er, / sonst nichts. / Er / Du ohne Antworten / […] Seele mein, denk nicht / schlecht über Ihn: Es ist ihm unmöglich / anders zu handeln.“
Wenn im Römischen Meßbuch der neuen Kirche Platz für Turoldo ist, ist Platz für alle. Kardinal John Henry Newman, Kirchenlehrer in pectore, schrieb ganz andere Texte, die erfüllt sind von beeindruckender Schönheit und himmlischer Freude. Texte, die zutiefst katholisch sind und unseren Seelen sehr guttun, die mehr denn je dürsten, aber nicht nach Doppelgängern, die von Zweifeln geschwächt sind, sondern nach authentischen Zeugen des Evangeliums.
*Cristina Siccardi, Historikerin und Publizistin, zu ihren jüngsten Buchpublikationen gehören „L’inverno della Chiesa dopo il Concilio Vaticano II“ (Der Winter der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Veränderungen und Ursachen, 2013); „San Pio X“ (Der heilige Pius X. Das Leben des Papstes, der die Kirche geordnet und reformiert hat, 2014); „San Francesco“ (Heiliger Franziskus. Eine der am meisten verzerrten Gestalten der Geschichte, 2019).
Von der Autorin zuletzt veröffentlicht:
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Die Worte von Pater Turoldo erinnern mich in ihrem Klang sehr an Nietzsche. Der nihilistische Grundton einer von jeglicher Sinnhaftigkeit entleerten Seele. Dieser Mensch ist einfach krank und todunglücklich. Es muss schrecklich sein, nicht glauben zu können (oder zu wollen?).