Verleumdungen und Wahrheiten: Pius XII., der Nationalsozialismus und die Juden

Das falsche Narrativ


Die Schwarze Legende über das angebliche "Schweigen" von Papst Pius XII. zur Judenverfolgung im Nationalsozialismus ist definitiv widerlegt, dennoch wollen manche die Wahrheit nicht hören und verbreiten weiterhin das falsche Narrativ
Die Schwarze Legende über das angebliche "Schweigen" von Papst Pius XII. zur Judenverfolgung im Nationalsozialismus ist definitiv widerlegt, dennoch wollen manche die Wahrheit nicht hören und verbreiten weiterhin das falsche Narrativ

Von Cri­sti­na Siccardi*

Anzei­ge

Fünf­und­sech­zig Jah­re nach dem Tod von Pius XII. [Euge­nio Maria Pacel­li] und nach vie­len seriö­sen wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en über die enor­me Hil­fe, die Papst Pacel­li wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs für das jüdi­sche Volk gelei­stet hat, gibt es immer noch eine Medi­en­kam­pa­gne, die die Schwar­ze Legen­de sei­nes „Schwei­gens“ zu den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern der Natio­nal­so­zia­li­sten rei­tet, wie es in den ver­gan­ge­nen Tagen durch den Cor­rie­re del­la Sera gesche­hen ist. Es geht um eine Medi­en­kam­pa­gne, die durch Anti-Pacel­li-Strö­mun­gen aus­ge­löst wur­de, die nicht nur in eini­gen jüdi­schen Krei­sen, son­dern lei­der auch in den hei­li­gen Palä­sten behei­ma­tet sind.

Am 16. Sep­tem­ber schrieb Anto­nio Cario­ti für den Cor­rie­re del­la Sera einen Arti­kel, der das Bild von Pius XII. schä­dig­te, der durch den Wil­len von Bene­dikt XVI. seit dem 19. Dezem­ber 2009 als Die­ner Got­tes ver­ehrt wird, und kün­dig­te in der Kul­tur­bei­la­ge La Lettu­ra des Cor­rie­re das Inter­view von Mas­si­mo Fran­co mit dem vati­ka­ni­schen Archi­var Gio­van­ni Coco an, der einen Brief des deut­schen Jesui­ten Lothar König vom 14. Dezem­ber 1942 an den Pri­vat­se­kre­tär des Pap­stes, den Deut­schen Robert Lei­ber, gefun­den hat, in dem das Kre­ma­to­ri­um der SS im Lager Beł­zec in Polen und das Lager Ausch­witz erwähnt werden.

Der Arti­kel hebt her­vor, daß es sich dabei um einen grund­le­gen­den Beweis „für die Exi­stenz eines Nach­rich­ten­flus­ses über die Nazi­ver­bre­chen han­delt, der den Hei­li­gen Stuhl zur glei­chen Zeit erreich­te, als der Völ­ker­mord statt­fand“, aber „Pius XII. zog es vor, zu schwei­gen oder allen­falls sein Bedau­ern in all­ge­mei­nen Wor­ten aus­zu­drücken“.  Das Urteil des Cor­rie­re del­la Sera ent­spricht all jenen, die ohne objek­ti­ven, aber mit bewußt schä­di­gen­dem Geist wei­ter­hin die Schwar­ze Legen­de vom schuld­haf­ten „Schwei­gen“ Pius‘ XII. unter­stüt­zen, die kürz­lich auch vom Rab­bi­ner von Rom, Ric­car­do She­mu­el Di Seg­ni vor­ge­bracht wur­de, als er an der inter­na­tio­na­len Kon­fe­renz „New docu­ments from the pon­ti­fi­ca­te of Pius XII“ („Neue Doku­men­te des Pon­ti­fi­kats von Pius XII.“) vom 9. bis 11. Okto­ber teil­ge­nom­men hat. Heu­te ist die­se fal­sche The­se aber nicht mehr halt­bar dank der vie­len histo­rio­gra­phi­schen Ele­men­te, die seit eini­ger Zeit gesam­melt wur­den und die ein Mosa­ik der bewun­derns­wer­ten tat­kräf­ti­gen Akti­vi­tä­ten bil­den, die auf Geheiß von Papst Pacel­li zugun­sten der ver­folg­ten Juden durch­ge­führt wurden.

Die ankla­gen­de und anrü­chi­ge Vul­ga­ta begann sich ab 1963 zu ent­fal­ten, als in Ber­lin das Thea­ter­stück „Die Stell­ver­tre­ter“ auf­ge­führt wur­de und dazu führ­te, daß über Pius XII. 1999 von dem noch leben­den bri­ti­schen Schrift­stel­ler und Aka­de­mi­ker John Corn­well sogar ein Buch mit dem Titel „Hit­lers Papst“ („Hitler’s Pope“) ver­öf­fent­licht wurde.

Rekon­stru­ie­ren wir also zusam­men­fas­send den Weg, den Papst Pacel­li ein­ge­schla­gen hat, der sich der Absich­ten und Hand­lun­gen Nazi­deutsch­lands sehr wohl bewußt war und dank der Infor­ma­tio­nen, die er erhielt und beob­ach­te­te, in der Lage war, eine aus­ge­klü­gel­te, dyna­mi­sche und kapil­la­re Hilfs­ma­schi­ne­rie in Gang zu setzen.

Pius XII. war dank des Kle­rus stän­dig dar­über infor­miert, was auf Geheiß Hit­lers und sei­ner Män­ner mit den Juden geschah, und es ist gut nach­voll­zieh­bar und ver­ständ­lich, daß er die­se wert­vol­len Infor­ma­tio­nen nicht öffent­lich mach­te, son­dern sie nutz­te, um kon­kret han­deln zu kön­nen, ohne die Juden noch mehr Gräu­el­ta­ten aus­zu­set­zen und eben­so­we­nig die Geweih­ten, Prie­ster und Ordens­leu­te, die von den Nazis eben­falls ver­folgt wur­den. Die Infor­ma­tio­nen stamm­ten aus ver­schie­de­nen Quel­len und gelang­ten auf unter­schied­li­che Wei­se zum Papst. So schrieb der ehr­wür­di­ge Pater Pir­ro Sca­vi­z­zi (1884–1964), ein Mili­tär­seel­sor­ger, am 12. Mai 1942: „Der anti­jü­di­sche Kampf ist uner­bitt­lich und wird immer schlim­mer, mit Depor­ta­tio­nen und Erschie­ßun­gen sogar in gro­ßem Umfang. Das Mas­sa­ker an den Juden in der Ukrai­ne ist jetzt abge­schlos­sen. Auch in Polen und Deutsch­land will man es mit dem System der Mas­sen­tö­tun­gen voll­enden“, wäh­rend Mon­si­gno­re Andrej Szep­tycki (1865–1944), ukrai­ni­scher katho­li­scher Erz­bi­schof und Metro­po­lit von Lem­berg, am 29. August 1942 den Ernst der Lage bestä­tig­te: „Es ver­geht kein Tag, an dem nicht die schreck­lich­sten Ver­bre­chen began­gen wer­den. […] Die Juden sind die ersten Opfer. Die Zahl der in unse­rem klei­nen Land getö­te­ten Juden hat sicher­lich 200.000 über­schrit­ten. Je wei­ter das Heer nach Osten vor­dringt, desto grö­ßer wird die Zahl der Opfer. In Kiew wur­den in nur weni­gen Tagen etwa 130.000 Män­ner, Frau­en und Kin­der hin­ge­rich­tet. In allen Klein­städ­ten der Ukrai­ne wur­den ähn­li­che Mas­sa­ker ver­übt, und das schon seit einem Jahr“.

Die­je­ni­gen, die das Andenken an Pius XII. vor­ur­teils­be­haf­tet beschmut­zen, benut­zen sol­che Zeug­nis­se, um zu behaup­ten, daß der Papst wuß­te, aber nicht öffent­lich anklag­te. In Wirk­lich­keit hat der Papst klu­ger­wei­se nicht nach Wor­ten laut geschimpft, son­dern öffent­lich bekräf­tigt und gehan­delt, wie der Ober­rab­bi­ner von New York, David Gil Dalin, auf dem Mee­ting von Rimi­ni 2001 bezeug­te: „Pius XII. hat öffent­lich und pri­vat vor den Gefah­ren des Natio­nal­so­zia­lis­mus gewarnt und sich wäh­rend des gesam­ten Zwei­ten Welt­kriegs immer für die Juden ein­ge­setzt. Als der Papst von den Gräu­el­ta­ten der Nazis in Polen erfuhr, for­der­te er die Bischö­fe Euro­pas auf, alles in ihrer Macht Ste­hen­de zu tun, um die Juden, die Opfer der Nazi­ver­fol­gung waren, zu ret­ten. Im Janu­ar 1940 ent­hüll­ten Radio Vati­kan und der Osser­va­to­re Roma­no auf Anwei­sung des Pap­stes die schreck­li­chen Gräu­el­ta­ten der unmensch­li­chen Nazi-Tyran­nei an den pol­ni­schen Juden und Katho­li­ken und erklär­ten mit den Wor­ten des Pap­stes, daß die­se Gräu­el­ta­ten das mora­li­sche Gewis­sen der Mensch­heit belei­digt hat­ten.“ Die­se Erklä­rung ist eine aus­ge­zeich­ne­te Ant­wort auf die Anschul­di­gun­gen sei­nes Rab­bi­ner­kol­le­gen Di Segni.

Pacel­lis Werk der Wohl­tä­tig­keit zugun­sten der ver­folg­ten Juden war immens. Er setz­te das hoch­ef­fi­zi­en­te Bureau, die erste Sek­ti­on für aus­wär­ti­ge Ange­le­gen­hei­ten des Staats­se­kre­ta­ri­ats in Gang, die von Mon­si­gno­re Dome­ni­co Tar­di­ni (1888–1961) gelei­tet wur­de, d. h., das vati­ka­ni­sche Infor­ma­ti­ons­bü­ro, wo Nach­rich­ten über Juden, Sol­da­ten und Zivi­li­sten inter­na­tio­nal aus­ge­tauscht wur­den. Das Bureau wur­de zu einer der zuver­läs­sig­sten und per­fek­te­sten huma­ni­tä­ren Hilfs­stel­len der Welt. Johan Icks hat einen wich­ti­gen Auf­satz zu die­sem The­ma geschrie­ben: „Pius XII. und die Juden. Der Archi­var des Vati­kans ent­hüllt end­lich die Rol­le von Papst Pacel­li wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs“ (Riz­zo­li, 2021). Icks, der seit etwa drei­ßig Jah­ren in Rom tätig ist, davon zehn Jah­re als Lei­ter des Archivs der Zwei­ten Sek­ti­on des vati­ka­ni­schen Staats­se­kre­ta­ri­ats, war für die Digi­ta­li­sie­rung aller Doku­men­te des Apo­sto­li­schen Archivs des Vati­kans ver­ant­wort­lich, die das Pon­ti­fi­kat von Pius XII. betref­fen und seit dem 2. März 2020 der Öffent­lich­keit zugäng­lich sind. Icks‘ Auf­satz umfaßt rund 2800 Inter­ven­tio­nen von 1938 bis 1944 zum Schick­sal von mehr als 4000 Juden.

Der israe­li­sche Histo­ri­ker Gary Krupp, Prä­si­dent der Stif­tung Pave the Way, argu­men­tiert, daß Pacel­li wäh­rend und nach dem Zwei­ten Welt­krieg alles in sei­ner Macht Ste­hen­de tat, um Juden zu schüt­zen, zu ver­tei­di­gen und zu ver­stecken, und ist der Ansicht, daß der Stell­ver­tre­ter Chri­sti mehr Juden geret­tet hat als alle ande­ren Staats­ober­häup­ter der Welt zusam­men. Krupp hat rund 76.000 Sei­ten Ori­gi­nal­do­ku­men­te sowie direk­te Zeu­gen­aus­sa­gen und Bei­trä­ge von Wis­sen­schaft­lern aus der gan­zen Welt zusam­men­ge­tra­gen: ein immenses Dos­sier, das die ver­leum­de­ri­sche Legen­de uner­bitt­lich und ein für alle Mal erschüt­tert hat.

Neben der außer­ge­wöhn­li­chen Insti­tu­ti­on des Bure­aus, das zahl­rei­che Ein­rei­se­vi­sa erteil­te, bot die Kir­che ein eben­so beein­drucken­des Netz an Ver­stecken: Der Papst wies die Klö­ster, Kon­ven­te, katho­li­schen Schu­len, Kir­chen und Diö­ze­sen an, Juden Zuflucht zu gewäh­ren, von denen vie­le sogar im Vati­kan Asyl fan­den. Dank des Appells von Bischö­fen und Pfar­rern wur­den sie auch in den Pri­vat­häu­sern hel­den­haf­ter katho­li­scher Gläu­bi­ger auf­ge­nom­men und ver­steckt, die dank der Cari­tas Chri­sti urget nos (Die Lie­be Chri­sti drängt uns), die der ehr­wür­di­ge Stell­ver­tre­ter Chri­sti in uner­müd­li­cher, unauf­ge­reg­ter und unauf­dring­li­cher Dis­kre­ti­on unauf­hör­lich Tag und Nacht über­all dort för­der­te und ein­for­der­te, wo sie gebraucht wur­de, zahl­rei­che Juden vor Depor­ta­tio­nen, Lagern und Kre­ma­to­ri­en retteten.

Jeder kennt Schind­lers Liste, aber zu weni­ge ken­nen noch Pacel­lis Liste. Die von Pius XII. gewoll­te und gelenk­te Hil­fe für die jüdi­sche Welt war so beein­druckend, daß der Ober­rab­bi­ner von Rom, Isra­el Anton Zol­ler (1881–1956), der 1945 zur katho­li­schen Kir­che kon­ver­tier­te, sich zu Ehren des Pap­stes auf den Namen Euge­nio Pio tau­fen ließ. Die israe­li­sche Mini­ster­prä­si­den­tin Gol­da Meir (1898–1978) und der Gene­ral­stabs­chef der israe­li­schen Streit­kräf­te, Mos­he Day­an (1915–1981), bedank­ten sich 1958 öffent­lich bei Papst Pacel­li für sei­nen Ein­satz für die ver­folg­ten Juden. Im Jahr 1967 schätz­te der Schrift­stel­ler und Diplo­mat Pin­chas Lapi­de (1922–1997), ein öster­rei­chi­scher Jude und ein­ge­bür­ger­ter Israe­li, die Zahl der durch das Ein­grei­fen der Katho­li­ken geret­te­ten Juden auf 860.000, eine Zahl, die sich ten­den­zi­ell erhöht, wenn man all jene Tat­sa­chen berück­sich­tigt, die damals noch nicht gezählt wer­den konn­ten, und so zu dem Schluß kommt, daß die Kir­che ins­ge­samt nicht weni­ger als eine Mil­li­on Juden geret­tet hat. Nach einer von Lapi­de selbst erstell­ten Sta­ti­stik über­leb­ten zwi­schen 70 und 90 Pro­zent der euro­päi­schen Juden, die den Holo­caust über­leb­ten, nur dank des Ein­sat­zes der römi­schen Kir­che und ihrer Gläu­bi­gen, die Risi­ken und Gefah­ren auf sich nah­men und sogar mit ihrem Leben bezahl­ten, um dem Völ­ker­mord an den Juden entgegenzuwirken.

*Cri­sti­na Sic­car­di, Histo­ri­ke­rin und Publi­zi­stin, zu ihren jüng­sten Buch­pu­bli­ka­tio­nen gehö­ren „L’inverno del­la Chie­sa dopo il Con­ci­lio Vati­ca­no II“ (Der Win­ter der Kir­che nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil. Ver­än­de­run­gen und Ursa­chen, 2013); „San Pio X“ (Der hei­li­ge Pius X. Das Leben des Pap­stes, der die Kir­che geord­net und erneu­ert hat, 2014) und vor allem ihr Buch „San Fran­ces­co“ (Hei­li­ger Fran­zis­kus. Eine der am mei­sten ver­zerr­ten Gestal­ten der Geschich­te, 2019).

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL


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