
Von Msgr. Dr. Marian Eleganti*
Ich bin 1955 geboren und war begeisterter Ministrant in meiner Kindheit. Zuerst diente ich im Alten Ritus, immer etwas nervös, die lateinischen Antworten nicht zu verpatzen; dann wurde ich mitten im Geschehen umgeschult auf die sogenannte Neue Messe. Als Kind habe ich den Bildersturm in der altehrwürdigen Kreuzkirche meines Heimatortes miterlebt.
Die gotischen Schnitzaltäre wurden unter meinen Kinderaugen niedergerissen. Geblieben sind Volksaltar, leerer Chorraum; das Kreuz im Chorbogen, Maria und Johannes links und rechts an weissen kahlen Wänden: neue sprechende Glasfenster, die von der im Osten aufgehenden Sonne geflutet werden. Mehr nicht: Es war ein Kahlschlag ohnegleichen. Wir Kinder fanden alles normal und angebracht und haben fleissig für den neuen Steinboden gespart, um unseren Beitrag zur Reform bzw. Renovation der Kirche zu leisten. Die Konzilseuphorie wurde von den Priestern überallhin getragen, Synoden wurden einberufen, an denen ich als jugendlicher Teeny selbst teilgenommen habe. Ich habe absolut nicht verstanden, was vor sich ging. Als 20-Jähriger war ich Novize, habe liturgische Spannungen zwischen den Traditionellen und Progressiven unter den Reformern hautnah und schmerzlich miterlebt. Neue kirchliche Berufe wurden eingeführt wie jener des verheirateten Pastoralassistenten. Ich erinnere mich an meine diesbezüglich kritischen Anmerkungen; denn die langsam heraufdämmernden Spannungen und Probleme zwischen geweihtem und ungeweihtem Amt waren von Anfang an absehbar. Der Einbruch der Zahl von Priesteramtskandidaten war vorhersehbar und wurde bald sichtbar. Dem Konzil stand ich als Jugendlicher vorbehaltlos gegenüber, und später studierte ich seine Dokumente mit gläubigem Vertrauen. Trotzdem sind mir seit meinem 20. Lebensjahr einige Dinge aufgefallen: die Entsakralisierung des Chorraumes, des Priestertums und der Hl. Eucharistie wie auch des Kommunionempfangs und die Uneindeutigkeit mancher Textpassagen in Konzilsdokumenten: Das alles habe ich als theologisch noch ungebildeter jugendlicher Laie sehr bald konstatiert. Auch wenn das Priestertum seit meiner Kindheit die stärkste Option in meinem Herzen war, bin ich erst mit 40 Jahren zum Priester geweiht worden. Ich bin mit dem Konzil aufgewachsen, gross geworden und konnte seine Wirkung beobachten, seit es stattgefunden hat. Heute bin ich 70 Jahre alt und Bischof.
Retrospektiv muss ich feststellen: Der Frühling der Kirche ist ausgeblieben; gekommen ist ein unbeschreiblicher Niedergang der Glaubenspraxis und des Glaubenswissens, eine weitverbreitete liturgische Formlosigkeit und Beliebigkeit (bei der ich zum Teil auch selbst mitgewirkt habe, ohne es zu merken).
Aus heutiger Sicht sehe ich alles zunehmend kritischer, auch das Konzil, dessen Texte die meisten bereits hinter sich gelassen haben, immer mit Berufung auf seinen Geist. Was hat man nicht alles in den zurückliegenden 60 Jahren mit dem Heiligen Geist verwechselt, Ihm zugeschrieben. Was alles hat man «Leben» genannt, was nicht Leben brachte, vielmehr auflöste.
Sie wollten das Weltverhältnis der Kirche neu denken, ihre Liturgie neu ordnen und moralische Positionen neu bewerten. Sie sind immer noch dabei, es zu tun. Das Charakteristikum ihrer Reform ist die Fluidität in Lehre, Moral und Liturgie, die Angleichung an weltliche Standards, und die postkonziliare, rücksichtslose Disruption mit allem Bisherigen. Kirche ist für sie vor allem seit 1969 (Editio Typica Ordo Missae. Kard. Benno Gut). Was vorher war, kann man vernachlässigen oder wurde schon revidiert. Es gibt kein Zurück. Die Revolutionärsten unter den Reformern waren sich ihrer revolutionären Akte immer bewusst. Aber ihre postkonziliare Reform, ihre Prozesse, sind gescheitert – auf der ganzen Linie. Sie waren nicht inspiriert. Der Volksaltar ist keine Erfindung der Konzilsväter.
Ich selbst feiere, auch privat, die Hl. Messe im Neuen Ritus. Ich habe aber aufgrund meiner apostolischen Tätigkeit die alte Liturgie meiner Kindheit wieder neu erlernt und sehe den Unterschied, vor allem in den Gebeten und Haltungen, natürlich auch in der Ausrichtung. Retrospektiv erscheint mir der postkonziliare Eingriff in die fast zweitausendjährige, sehr konstante Form der Liturgie als eine recht gewalttätige, kommissarische Rekonstruktion der Hl. Messe in den Jahren nach Konzilsabschluss, die mit grossen Verlusten verbunden blieb, die es aufzuarbeiten gilt. Dies geschah auch aus ökumenischen Gründen. Viele Kräfte auch von protestantischer Seite haben hier direkt mitgewirkt, um die althergebrachte Liturgie dem protestantischen Abendmahl anzugleichen und vielleicht auch der jüdischen Sabbatliturgie. Dies geschah elitär, disruptiv und rücksichtslos durch die römische Liturgiekommission und wurde durch Paul VI. der ganzen Kirche auferlegt, nicht ohne grosse Brüche und Risse im mystischen Leib Christi zu verursachen, die bis heute geblieben sind.
So viel steht für mich fest: Wenn man den Baum an den Früchten erkennt, wäre eine schonungslose und wahrhaftige Neubewertung der postkonziliaren Reform dringend angezeigt: historisch redlich und akribisch, unideologisch und offen wie die neue Generation von jungen Gläubigen, welche die Konzilstexte weder kennen noch lesen. Sie haben auch nicht ein Nostalgieproblem, weil sie nur die Kirche in ihrer heutigen Gestalt kennen. Sie sind einfach zu jung, um Traditionalisten zu sein. Erlebt haben sie allerdings, wie heute Pfarreien ticken, wie sie Liturgie feiern, und was von ihrer eigenen religiösen Sozialisation durch die Pfarrei geblieben ist: wenig! Aus diesem Grund sind sie auch keine Progressiven. Der liberale Katholizismus bzw. der Progressivismus seit den 70er Jahren, zuletzt im Kleid des Synodalen Weges, hat aus heutiger Sicht ausgedient und die Kirche an die Wand gefahren, in eine Sackgasse geführt. Entsprechend gross ist die Frustration. Wir können es überall sehen. Sonntags- und Werktagsgottesdienste besuchen mehrheitlich alte Leute. Die Jungen fehlen, ausser in einigen kirchlichen Hotspots, die dünn gesät sind. Die Reform erledigt sich von selbst, weil niemand mehr hingeht oder die Ergebnisse liest, ein eisernes Gesetz.
Wie kann man die nachkonziliare Reform zum heutigen Zeitpunkt immer noch so unkritisch und borniert sehen, gemessen an ihren Früchten? Warum ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Tradition und der eigenen (Kirchen-)Geschichte immer noch nicht möglich? Warum will man nicht sehen, dass wir an einer Wegscheide stehen und über die Bücher gehen sollten, vor allem liturgisch? To be or not to be des Glaubens und des kirchlichen Lebens entscheidet sich auf dem Boden der Liturgie. Hier lebt oder stirbt der mystische Leib Christi. Das haben Traditionelle und Progressive seit 1965 richtig eingeschätzt. Warum also ist die Tradition bei jungen Menschen im Kommen? Was macht sie für junge Leute so attraktiv? Denkt doch mal darüber nach! Füsse stimmen ab, nicht Räte. Vielleicht ändern wir einfach die Richtung! Versteht Ihr?
*Msgr. Marian Eleganti OSB, promovierter Theologe, war von 1999 bis 2009 Abt der Benediktinerabtei St. Otmarsberg im Kanton Sankt Gallen, dann von 2009 bis 2021 Weihbischof der Diözese Chur. Bischof Eleganti betreibt einen eigenen Blog.
Bild: VaticanNews (Screenshot)
Die bisherigen Klarstellungen von Bischof Eleganti:
- Klarstellungen 18: Synodalität als Code-Wort
- Klarstellungen 17: Resist! Widerstehe!
- Klarstellungen 16: Die Frage der Geschwisterlichkeit mit Andersgläubigen
- Klarstellungen 15: Wer keine Wahrheit hat bzw. einfordert, kann zu allen lieb sein!
- Klarstellungen 14: Migration und Grenzen des Wachstums
- Klarstellungen 13: Die nicht mehr verliebte Braut. Gedanken zum Heiligen Jahr 2025
- Klarstellungen 12: Die Dekonstruktion des Priesters und der Frau
- Klarstellungen 11: Synodalität ist keine neue Offenbarung
- Klarstellungen 10: Wäre ein Ehrenprimat des römischen Pontifex ein echter ökumenischer Fortschritt?
- Klarstellungen 9: Kein Zugang zum VATER ohne JESUS CHRISTUS. Mission ist ein Auftrag Jesu
- Klarstellungen 8: Ihr könnt uns kein Schlangenöl verkaufen!
- Klarstellungen 7: Überlegungen zur Ökumene seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
- Klarstellungen 6: Patriarch des Westens?
- Klarstellungen 5: Eine erste Reaktion zum Neuen Dokument über die Ausübung des Petrusamtes
- Klarstellungen 4: Anmerkungen zu den neuen Normen für den Umgang mit Privatoffenbarungen
- Klarstellungen 3: Unendliche oder unantastbare Würde?
- Klarstellungen 2: Der sakramentale Lockdown der Kirche war ein Kniefall vor der Politik
- Klarstellungen 1: Synodalismus und Gremienkatholizismus
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