(London) Es gibt einen Briefwechsel zwischen Kardinal Vincent Nichols, Erzbischof von Westminster, und der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, in dem der Primas von England um eine Klarstellung zu einigen Punkten des Motu proprio Traditionis custodes bittet. Dieser Briefwechsel setzte bereits zwölf Tage nach der Veröffentlichung des Motu proprio durch Papst Franziskus im vergangenen Juli ein. Die römische Kongregation antwortete dem Kardinal, doch keine Seite scheint es bisher gewagt zu haben, diesen Schriftwechsel zu veröffentlichen. Diesen Schritt setzte nun Gloria.tv. Der Grund für die Zurückhaltung liegt nicht nur darin, daß die römische Antwort „persönlicher Natur“ ist.
Die englische Anfrage
Das Schreiben von Kardinal Nichols ist mit 28. Juli datiert und erging an Kurienerzbischof Arthur Roche, einen Engländer, den Papst Franziskus im Mai zum neuen Präfekten der Gottesdienstkongregation ernannt hatte.
Kardinal Nichols ersuchte unter Verweis auf Rücksprache mit anderen Bischöfen in England und Wales um eine „Orientierungshilfe“ für die Anwendung von Traditionis custodes. Dazu legte er der Kongregation sechs Punkte vor:
„a. Werden Ihre Kongregation und/oder der Päpstliche Rat für Gesetzestexte weitere Leitlinien zur Auslegung oder Anwendung des Motu proprio herausgeben?
b. Das aktuelle Motu proprio setzt „die vorausgehenden Normen, Instruktionen, Gewährungen und Gewohnheiten, die nicht dem entsprechen, was in diesem Motu proprio festgelegt wird, außer Kraft“ (Artikel 8). Wir fragen also, ob die Anwendung von Traditionis custodes, ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, auch die Verwendung der Außerordentlichen Form für andere Sakramente als die Feier der Heiligen Messe (1962) und die Verwendung des Römischen Breviers (1962) aufhebt, das in Artikel 9 von Summorum Pontificum ausdrücklich erwähnt wird?
c. Wie ist die Verwendung des nationalen Kalenders für England und Wales (der auf dem universalen Kalender basiert) mit der Verwendung des „tridentinischen“ Kalenders in Bezug auf Feste wie Fronleichnam usw., die auf verschiedene Tage fallen, zu vereinbaren?d. Es gibt keine eindeutige Korrelation zwischen dem Novus-Ordo-Lektionar, das von der Bischofskonferenz für den Gebrauch in England und Wales approbiert ist, und jenem des Ritus von 1962. Ist es zulässig, direkt auf die Originalausgaben der Bibel (in England und Wales die ursprüngliche Jerusalemer Bibel und die RSV [Revised Standard Version]) zuzugreifen, aus denen die zulässigen Lektionarstexte derzeit entnommen sind, um die entsprechenden Texte zu finden?
e. Was ist mit den „Gruppen“ gemeint, die der Heilige Vater im Motu proprio erwähnt: Sind damit nur formell gebildete Gruppen von Gläubigen gemeint, oder gilt das Motu proprio auch für diejenigen, die sich aus freien Stücken zur Feier der Messe in der außerordentlichen Form versammeln? Dies wäre eine wichtige pastorale Überlegung in England und Wales.
f. Schließlich, wie Sie wissen werden, gibt es seit dem Indult, das Kardinal Heenan im November 1971 erteilt wurde, immer wieder einige Gläubige, die darum bitten, daß ihre Requiem-Riten nach den liturgischen Texten aus der Zeit vor 1970 zelebriert werden. Erlaubt das aktuelle Motu proprio, daß dies weiterhin der Fall ist? Auf welche Weise soll dies der Fall sein? Wäre es zum Beispiel notwendig, das Requiem an einem bestimmten Ort von einem Priester zelebrieren zu lassen, der nach der neuen Befähigung dazu befugt ist?“
Kardinal Nichols machte zudem darauf aufmerksam, daß trotz der sofortigen Wirkung des Motu proprio es „einige Zeit“ in Anspruch nehmen werde, um es „ordnungsgemäß und dauerhaft“ umsetzen zu können.
Der Primas gab die Absicht von Papst Franziskus wieder, offenbar, um im Zweifelsfall Bestätigung oder Hinweise aus Rom zu erhalten:
„Aus der Kombination des Motu-proprio-Textes und des Begleitschreibens wird deutlich, daß der Heilige Vater eine Einheit des liturgischen Gebets wünscht, die durch ‚den einen Ausdruck der lex orandi des römischen Ritus‘ zum Ausdruck kommt. In der Seelsorge müssen wir jene, die mit dem Missale von 1962 verbunden sind, entschlossen zum Missale der heiligen Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. begleiten.“
Sehr konkret wird der Erzbischof von Westminister, wenn er in Rom Nachfrage hält, „wie wir auf die Latin Mass Society reagieren sollen.“ Dazu führt er aus:
„Anbei ein Schreiben, das ich kürzlich von ihrem Vorsitzenden, Dr. Joseph Shaw, erhalten habe, zusammen mit einer kanonischen Auslegung des Motu proprio. Auf der Website und im Briefkopf der LMS wird auch darauf hingewiesen, dass sie ‚eine Vereinigung katholischer Gläubiger ist, die sich der Förderung der überlieferten römischen Liturgie der katholischen Kirche, der damit verbundenen Lehren und Praktiken, der ihr dienenden musikalischen Tradition und der lateinischen Sprache, in der sie gefeiert wird, widmet‘. Das entspricht natürlich nicht der Auffassung des Heiligen Vaters. Wir würden es begrüßen, wenn die Kongregation uns Ratschläge erteilen würde, wie wir am besten mit dieser Situation umgehen können. Ich bin sicher, daß es in der gesamten Kirche ähnliche Gruppen gibt, die ausschließlich den Ritus von 1962 verwenden, wie die FSSP [Petrusbruderschaft] und das Institut Christus König und Hohepriester (ICRSS), die Kirchen in diesem Bezirk haben. Es wäre auch sehr hilfreich, diesbezüglich eine Anleitung zu erhalten.
+ Kardinal Vincent Nichols
Erzbischof von Westminster“
Parallelen zur Stellungnahme von Kardinal Cupich
In diesem Zusammenhang ist an die Stellungnahme von Kardinal Blase Cupich, Erzbischof von Chicago, Papst-Vertrauter und Anführer der bergoglianischen US-Bischöfe, zu erinnern, in der er Traditionis custodes als „Geschenk“ bezeichnete. Darin sind einige Aspekte enthalten, die sich auch in der Antwort der Gottesdienstkongregation an Kardinal Nichols wiederfinden. Es ist anzunehmen, daß Kardinal Cupich bereits Kenntnis von dieser Antwort hatte oder ihm ein ähnliches Schreiben aus Rom übermittelt worden war.
Offensichtlich sind die Parteigänger von Santa Marta der Überzeugung, daß der überlieferte Ritus durch die Liturgiereform von 1969/70 abgeschafft wurde, es dafür nur kein formales Abschaffungsdekret durch Paul VI. gibt. So offen wird es allerdings nicht gesagt, weil Johannes Paul II. 1986 eine neunköpfige Kardinalskommission eingesetzt hatte, die bis auf einen Teilnehmer zum Schluß gelangte, daß der überlieferte Ritus nie aufgehoben oder abgeschafft wurde. Benedikt XVI. widersprach der irrigen Annahme eines Verbots des überlieferten Ritus im Motu proprio Summorum Pontificum ausdrücklich. Im Begleitschreiben zu Summorum Pontificum an die Bischöfe schreibt Benedikt XVI.:
„Was nun die Verwendung des Meßbuchs von 1962 als Forma extraordinaria der Meßliturgie angeht, so möchte ich darauf aufmerksam machen, daß dieses Missale nie rechtlich abrogiert wurde und insofern im Prinzip immer zugelassen blieb.“
Die römische Antwort
Am 4. August unterzeichnete Msgr. Arthur Roche das Antwortschreiben (Prot. Nr. 378/21) der Gottesdienstkongregation an Kardinal Nichols. Das Schreiben wurde auch von Msgr. Vittorio Viola, Sekretär der Kongregation und Träger des Bugnini-Rings, unterzeichnet.
Die Kongregation teilt mit, „keine Leitlinien herausgegeben“ zu haben, aber die „Auswirkungen“ des Motu proprio genau zu beobachten.
Aus diesem Grund wird dem Primas von England eine Antwort „persönlicher Natur“ gegeben, was immer das in einem amtlichen Schriftverkehr bedeuten soll.
Msgr. Roche und Msgr. Viola bestätigen zunächst, daß die Verwendung des Missale von 1962 nur mehr als „Ausnahmekonzession“ zu verstehen sei.
„Es ist auch klar, daß diese außergewöhnlichen Zugeständnisse nur jenen gewährt werden sollten, die die Gültigkeit und Legitimität der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils und das Lehramt der Päpste akzeptieren. Alles im neuen Gesetz ist auf die Rückkehr und Stabilisierung der Liturgie ausgerichtet, wie sie vom Zweiten Vatikanischen Konzil verordnet wurde.“
Dann wird auf die sechs Punkte eingegangen, die Kardinal Nichols der Kongregation vorgelegt hatte:
Zu a. Es wird betont, daß bisher nur die Glaubenskongregation Zuständigkeit in der Sache besaß, dies nun aber zur Gänze auf die Gottesdienstkongregation und die Ordenskongregation übergangen ist. Sie allein seien nun „in ihrem jeweiligen Bereich“ zuständig, nicht mehr die Glaubenskongregation und auch nicht der Päpstliche Rat für die Gesetzestexte oder ein anderes Gremium.
Zu b. „Für die Kongregation ist klar, daß das neue Gesetz aufhebt, was zuvor in Form eines außergewöhnlichen und begrenzten Zugeständnisses gewährt worden war.“ Die „Klugheit“ könne nahelegen, daß „jedoch nur für eine begrenzte Zeit und im Hinblick auf eine größere kirchliche Gemeinschaft“ eine Übergangsphase gewährt wird, allerdings unter „sorgfältiger Überwachung“ und mit einer „klaren Ausrichtung“ auf die vollständige Umsetzung. „Traditionis custodes spricht nur von der Verwendung des Missale Romanum von 1962 und den Eucharistiefeiern.“ Es habe eine „beträchtliche Fehlinterpretation früherer Bestimmungen gegeben“, die sich in Praktiken, Entwicklungen und Förderungen niedergeschlagen hätten, die von den früheren Päpsten weder vorhergesehen noch gebilligt worden seien. Papst Franziskus habe gemäß den Vorstellungen des Zweiten Vatikanischen Konzil die Bedeutung der Rolle des Ortsordinarius „als Moderator, Förderer und Hüter der Liturgie“, die bisher „unterschätzt“ wurde, für die Umsetzung des neuen Gesetzes betont.
„c. Das Calendarium des Missale Romanum von 1962 steht im Gegensatz zum Calendarium Romanum Generale des Missale Romanum von 1970, das vom Konzil beschlossen wurde und das den einzigartigen Ausdruck des römischen Ritus regelt. Die Vorschriften über die obligatorischen Feste im Codex des kanonischen Rechts von 1983 sind jedoch späteren Datums als diese beiden Kalender. Die Bischofskonferenz müsste daher diese Fragen sehr sorgfältig prüfen, bevor sie sich an diese Kongregation wendet, um eine Anpassung gemäß den Canones 1246–1248 zu erreichen. Bei einer solchen Beratung und Entscheidung durch eine Bischofskonferenz wäre auch zu prüfen, wie sich dies auf andere liturgische Bräuche innerhalb desselben kirchlichen Gebiets auswirken würde.
d. Die biblischen Texte, die für die Lesungen des Messbuchs von 1962 verwendet werden sollen, sollten dieselbe Fassung der Heiligen Schrift sein, die von der Bischofskonferenz für ihren Ordo Lectionum Missae genehmigt wurde. Dies würde sicherlich auch für andere liturgische Verwendungen innerhalb desselben kirchlichen Gebiets gelten.
e. Der Begriff ‚Gruppen‘ bezieht sich auf Personalpfarreien, die zuvor für den konzedierten Gebrauch der vorangegangenen Liturgie errichtet wurden, und auf jene Versammlungen von Menschen, die sich regelmäßig zur Feier der Eucharistie unter Verwendung des Missale Romanum von 1962 getroffen haben. Gleichzeitig fordert das Motu proprio die Bischöfe auf, keine neuen Gruppen zu gründen.
f. Was das Indult für Kardinal Heenan vom November 1971 betrifft, von dem Sie schreiben, haben wir unsere Archive durchsucht und nichts Entsprechendes gefunden. Es gibt jedoch eine Korrespondenz zwischen dem Kardinal und Bischof Wheeler über die reformierten Begräbnisriten vom Oktober 1971, aber es gibt keinen Hinweis auf ein Indult oder eine Korrespondenz darüber in dieser Akte. Wenn Eure Eminenz dieses Indult gesehen haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es und den gesamten einschlägigen Schriftverkehr mit dieser Kongregation teilen würden. In jedem Fall ist Traditionis custodes Nr. 8 zu beachten, die alle vorausgehenden Normen, Instruktionen, Gewährungen und Gewohnheiten außer Kraft setzt, die nicht mit dem geltenden Recht übereinstimmen. Zweifellos würde ein früheres Indult unter dieses Verbot fallen.“
Es sei klar, so Erzbischof Roche, daß dies eine Zeit sei, „die von den Seelsorgern ein feines Gespür für die Menschen verlangt, die am meisten von den jetzt geltenden Gesetzen betroffen sind“:
„Die Verwendung älterer liturgischer Texte wurde geregelt und nicht unterdrückt. Die Gründe dafür sind in dem Schreiben des Papstes klar dargelegt. Die Fehlinterpretation und die Förderung des Gebrauchs dieser Texte wurde nach begrenzten Zugeständnissen früherer Päpste dazu benutzt, eine Liturgie zu fördern, die im Widerspruch zur Reform des Konzils steht (und die in der Tat von Papst Paul VI. aufgehoben wurde), sowie eine Ekklesiologie, die nicht Teil des Lehramts der Kirche ist.“
Und bezüglich der Latin Mass Society (LMS) schreibt der Gottesdienstpräfekt, daß die von Kardinal Nichols übermittelte Korrespondenz „ein gutes Beispiel für diese Fehlinterpretation und Förderung dieser Liturgie unter dem Deckmantel“ sei. Es müsse der LMS:
„(…) sehr deutlich gemacht werden, daß nur die Bischöfe in Gemeinschaft mit dem Papst die Moderatoren der Liturgie sind und daß das eigene Verständnis der LMS von Traditionis custodes, wie es von ihnen vorgeschlagen wird, ohne Wert ist und nicht als maßgeblicher Kommentar veröffentlicht werden sollte
+ Arthur Roche
Präfekt
+ Vittorio Francesco Viola, OFM
Sekretär“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: SMM