(Rom) Was denkt Papst Franziskus wirklich? Diese Frage beschäftigt viele, da es oft scheint, als sei Franziskus ein Papst der Widersprüchlichkeiten. Dabei scheint ihm selbst daran gelegen zu sein, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Der Frage ging nun Sandro Magister, der eigentliche Doyen der Vatikanisten, nach und legte eine Zusammenstellung von Aussagen des regierenden Papstes vor, die er hinter verschlossenen Türen gegenüber seinen Mitbrüdern im Jesuitenorden tätigte. Bei jeder Auslandsreise setzt Franziskus ein Treffen mit der örtlichen Jesuitengemeinschaft auf das Programm. Zusammenfassungen der Begegnungen werden nachträglich von seinem engen Vertrauten P. Antonio Spadaro in der römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica veröffentlicht, deren Schriftleiter Spadaro ist. Magister ist der Meinung, daß Franziskus in diesem vertrauten Rahmen mehr preisgibt von dem, was er wirklich denkt. Allerdings muß einschränkend gesagt werden, daß Franziskus weiß, daß seine Antworten auf die Fragen der Mitbrüder veröffentlicht werden, vielmehr er diese Veröffentlichung ausdrücklich gebilligt hat. Mit dem Querschnitt seiner Auswahl bietet Magister jedenfalls einen durchaus erhellenden Einblick in das Denken des amtierenden Nachfolgers auf dem Stuhl Petri.
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Nur-Sultan, Kasachstan, 15. September 2022, Begegnung mit Jesuiten aus Rußland, Weißrußland und Kirgisistan
Über die Verantwortung des Westens im Krieg in der Ukraine
„Es herrscht Krieg, und ich denke, es ist ein Fehler zu denken, daß es sich um einen ‚Cowboy‘-Film handelt, in dem es Gute und Böse gibt. Und es ist auch ein Fehler zu glauben, daß es sich nur um einen Krieg zwischen Rußland und der Ukraine handelt. Nein: Das ist ein Weltkrieg. Das Opfer dieses Konflikts ist hier die Ukraine. Ich möchte begründen, warum dieser Krieg nicht vermieden wurde. Und der Krieg ist in gewisser Weise wie eine Ehe. Um das zu verstehen, muß man die Dynamik untersuchen, die den Konflikt ausgelöst hat. Es gibt internationale Faktoren, die zur Auslösung des Krieges beigetragen haben. Ich habe bereits erwähnt, daß ein Staatschef im Dezember letzten Jahres zu mir kam und mir mitteilte, daß er sehr besorgt sei, weil die NATO daran gegangen ist, vor Rußlands Türen zu bellen, ohne zu verstehen, daß die Russen imperial sind und Unsicherheit an den Grenzen fürchten. Er äußerte die Befürchtung, daß dies einen Krieg auslösen würde, und der ist zwei Monate später ausgebrochen. Man darf also nicht zu vereinfachend über die Ursachen des Konflikts denken. Ich sehe Imperialismen im Konflikt (gegeneinander). Und wenn sie sich bedroht und im Niedergang begriffen fühlen, reagieren die Imperialismen, indem sie denken, daß die Lösung darin besteht, einen Krieg zu beginnen, um das zu bereinigen, und auch um Waffen zu verkaufen und zu testen.“
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Quebec, 29. Juli 2022, Begegnung mit Jesuiten aus Kanada
Über die Synodalität der Kirche
„Es stört mich, daß das Adjektiv ’synodal‘ verwendet wird, als wäre es das neueste Rezept für die Kirche. Wenn man ’synodale Kirche‘ sagt, ist der Ausdruck redundant: Die Kirche ist entweder synodal oder sie ist nicht Kirche. Deshalb sind wir zu einer Synode über die Synodalität gekommen, um dies zu bekräftigen. […] Im Jahr 2001 war ich Berichterstatter für die Bischofssynode. Ich ersetzte Kardinal Egan, der wegen der Tragödie der Twin Towers in seine Diözese New York zurückkehren mußte. Ich erinnere mich, daß Stellungnahmen gesammelt und an das Generalsekretariat geschickt wurden. Ich sammelte also das Material, um es dann zur Abstimmung vorzulegen. Der Sekretär der Synode kam zu mir, las das Material und sagte mir, ich solle dieses oder jenes entfernen. Es gab Dinge, die er nicht für angemessen hielt und einer Zensur unterwarf. Kurz gesagt, es gab eine Vorauswahl des Materials. Es wurde nicht verstanden, was eine Synode ist. […] Es scheint mir grundlegend zu sein, zu wiederholen, wie ich es oft tue, daß die Synode weder eine politische Versammlung noch ein Ausschuß für parlamentarische Entscheidungen ist. […] Manchmal ist man schnell mit einer Idee, man streitet sich und dann passiert etwas, das die Dinge wieder zusammenbringt, das sie kreativ harmonisiert. […] Das Risiko besteht auch darin, das Gesamtbild, den Sinn der Dinge zu verlieren. Das ist mit der Reduzierung der Synodenthemen auf eine bestimmte Frage geschehen. Die Synode über die Familie, zum Beispiel. Es hieß, sie sei organisiert worden, um wiederverheirateten Geschiedenen die Kommunion zu geben. Aber in dem nachsynodalen Schreiben zu diesem Thema gibt es nur eine einzige Fußnote, denn alle anderen sind Überlegungen zum Thema Familie, wie etwa die zum Familienkatechumenat. Es gibt also eine große Vielfalt: Man kann sich nicht auf eine einzige Frage konzentrieren. Ich wiederhole: Wenn die Kirche eine ist, dann ist sie synodal.“
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Rom, Vatikan, 19. Mai 2022, Begegnung mit den Schriftleitern der europäischen Jesuitenzeitschriften (nicht nur Jesuiten, auch einige Laien)
Mehr über die Verantwortung des Westens für den Krieg in der Ukraine
„Wir müssen uns von dem üblichen Rotkäppchen-Muster lösen: Rotkäppchen war gut und der Wolf war der Bösewicht. Hier gibt es keine metaphysischen Guten und Bösen auf abstrakte Art und Weise. Es zeigt sich etwas Globales, mit Elementen, die stark miteinander verwoben sind. Ein paar Monate vor Kriegsbeginn traf ich einen Staatschef, einen weisen Mann, der sehr wenig spricht, aber sehr weise ist. Und nachdem er über die Dinge gesprochen hatte, über die er sprechen wollte, sagte er mir, daß er über die Entwicklung der NATO sehr besorgt sei. Ich fragte ihn, warum, und er sagte: ‚Sie bellen vor den Toren Rußlands. Und sie verstehen nicht, daß die Russen imperial sind und keiner fremden Macht erlauben, sich ihnen zu nähern‘. Er schloß mit den Worten: ‚Die Situation könnte zu einem Krieg führen‘. Dies war seine Meinung. Am 24. Februar begann der Krieg. Dieses Staatsoberhaupt war in der Lage, die Zeichen der Zeit zu erkennen. […] Die Gefahr ist, daß […] wir nicht das ganze Drama sehen, das sich hinter diesem Krieg abspielt, der vielleicht irgendwie entweder provoziert oder nicht verhindert wurde. Und ich registriere das Interesse am Testen und Verkaufen von Waffen. Das ist sehr traurig, aber darum geht es ja schließlich auch. Jemand mag mir an dieser Stelle sagen: ‚Aber Sie sind ja für Putin!‘ Nein, das bin ich nicht. So etwas zu sagen wäre vereinfachend und falsch. Ich bin einfach dagegen, die Komplexität auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu reduzieren, ohne über die Wurzeln und Interessen nachzudenken, die sehr komplex sind. Während wir die Grausamkeit der russischen Truppen sehen, dürfen wir die Probleme nicht vergessen, um ihre Lösung zu versuchen. Es stimmt auch, daß die Russen dachten, daß alles in einer Woche vorbei sein würde. Aber sie haben sich verkalkuliert. Sie fanden ein mutiges Volk vor, ein Volk, das ums Überleben kämpft und eine Geschichte des Kampfes hat. […] Was wir vor Augen haben, ist eine Situation des Weltkriegs, der globalen Interessen, der Waffenverkäufe und der geopolitischen Vereinnahmung, die ein heldenhaftes Volk martert.“
Zu den Beziehungen zum Patriarchen von Moskau
„Ich hatte ein 40-minütiges Gespräch mit Patriarch Kyrill. Im ersten Teil las er mir eine Erklärung vor, in der er Motive nannte, um den Krieg zu rechtfertigen. Als er geendet hatte, mischte ich mich ein und sagte ihm: ‚Bruder, wir sind keine Staatskleriker, wir sind Seelsorger des Volkes‘. Ich sollte ihn am 14. Juni in Jerusalem treffen, um über unsere Angelegenheiten zu sprechen. Aber wegen des Krieges haben wir in gegenseitigem Einvernehmen beschlossen, das Treffen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, damit unser Dialog nicht missverstanden wird“.
Gegen die „Restauratoren“
„Denn das Konzil, an das sich manche Hirten am besten erinnern, ist das Konzil von Trient. Und das ist kein Unsinn, was ich sage. Die Restauration ist soweit gegangen, das [Zweite Vatikanische] Konzil zu knebeln. Die Zahl der Gruppen von ‚Restauratoren‘ – zum Beispiel in den Vereinigten Staaten – ist beeindruckend. Ein argentinischer Bischof erzählte mir, daß er gebeten wurde, eine Diözese zu verwalten, die in die Hände dieser ‚Restauratoren‘ gefallen war. Sie hatten das Konzil nie akzeptiert. Es gibt Ideen und Verhaltensweisen, die von einem Restaurationismus herrühren, der das Konzil grundsätzlich nicht akzeptiert hat. Das genau ist das Problem: daß in einigen Kontexten das Konzil noch nicht akzeptiert wurde. […] Ihr wart noch nicht geboren, aber ich war 1974 Zeuge des Leidensweges des Generaloberen P. Pedro Arrupe in der XXXII. Generalkongregation. Zu jener Zeit kam es zu einer konservativen Reaktion, um die prophetische Stimme Arrupes zu blockieren! […] Ein Jesuit der Provinz von Loyola hatte sich besonders gegen P. Arrupe verbissen. Erinnern wir an ihn. Er wurde an verschiedene Orte geschickt und sogar nach Argentinien, und er bereitete überall Probleme. Einmal sagte er zu mir: ‚Du bist einer, der nichts versteht. Aber die wahren Schuldigen sind P. Arrupe und P. Calvez. Der schönste Tag in meinem Leben wird der sein, an dem ich sie am Galgen auf dem Petersplatz hängen sehen werde.‘ Warum erzähle ich Euch diese Geschichte? Um Euch verstehen zu lassen, wie die nachkonziliare Zeit war. Und das geschieht erneut.“
Über die deutsche Synode und den Fall der Kölner Diözese:
„Dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Msgr. Bätzing, habe ich gesagt: ‚In Deutschland gibt es eine sehr gute evangelische Kirche. Wir brauchen nicht zwei’. Problematisch wird es, wenn der synodale Weg von den intellektuellen, theologischen Eliten ausgeht und sehr stark von Druck von außen beeinflußt wird. Es gibt einige Diözesen, in denen der synodale Weg mit den Gläubigen beschritten wird, mit dem Volk, langsam. Ich wollte einen Brief über den synodalen Weg schreiben. Ich habe ihn selbst geschrieben, und ich habe einen Monat gebraucht, um ihn zu schreiben. Ich wollte die Kurie nicht einbeziehen. Ich habe es ganz allein gemacht. Das Original ist auf spanisch, und der auf deutsch ist eine Übersetzung. Dort habe ich geschrieben, was ich denke.
Dann die Situation in der Diözese Köln. Als die Situation sehr turbulent war, bat ich den Erzbischof, für sechs Monate wegzugehen, damit sich die Dinge beruhigten und ich klar sehen konnte. Denn wenn das Wasser aufgewühlt ist, kann man nicht klar sehen. Als er zurückkam, bat ich ihn, ein Rücktrittsschreiben zu verfassen. Er tat dies und gab es mir. Und er schrieb einen Entschuldigungsbrief an die Diözese. Ich habe ihn an seinem Platz gelassen, um zu sehen, was passieren würde, aber ich habe seinen Rücktritt in der Hand.“
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Valletta, 3. April 2022, Begegnung mit den Jesuiten von Malta
Mehr über die Zensur bei der Synode von 2001
„Ich erinnere mich, daß ich im Jahr 2001 Berichterstatter für die Bischofssynode war. Eigentlich war Kardinal Egan der Berichterstatter, aber wegen der Tragödie der Zwillingstürme mußte er nach New York, in seine Diözese, zurückkehren. Ich war die Vertretung. Alle Meinungen, auch die der einzelnen Gruppen, wurden gesammelt und an das Generalsekretariat weitergeleitet. Ich sammelte das Material und ordnete es. Der Sekretär der Synode prüfte es und sagte, daß dieses oder jenes, das durch eine Abstimmung der verschiedenen Gruppen gebilligt worden war, entfernt werden soll. Es gab Dinge, die er nicht für angemessen hielt. Kurz gesagt, es gab eine Vorauswahl des Materials. Offensichtlich hat man nicht verstanden, was eine Synode ist.“
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Athen, 4. Dezember 2021, Begegnung mit den Jesuiten von Griechenland
Über den Rückgang der Gesellschaft Jesu und vieler Ordensgemeinschaften
„Eine Sache, die Aufmerksamkeit verlangt, ist die Schwächung der Gesellschaft. Als ich ins Noviziat eintrat, waren wir 33.000 Jesuiten. Wie viele sind wir jetzt? Mehr oder weniger die Hälfte. Und unsere Zahl wird weiter abnehmen. Das ist bei vielen Orden und Kongregationen so. Das hat eine Bedeutung, und wir müssen uns fragen, welche. Letztlich hängt dieser Rückgang nicht von uns ab. Die Berufung schickt der Herr. Wenn sie nicht kommt, hängt es nicht von uns ab. Ich glaube, der Herr erteilt uns eine Lehre für das Ordensleben. Für uns hat sie eine Bedeutung im Sinne von Demütigung. […] Was meint der Herr damit? Demütige dich, demütige dich! Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe. Wir müssen uns an die Demütigung gewöhnen.“
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Preßburg, 12. September 2021, Begegnung mit den Jesuiten der Slowakei
Über die Machenschaften im Vorfeld des Konklaves
„[Ich bin] noch am Leben. Und das, obwohl einige Leute meinen Tod wollten. Ich weiß, daß es sogar Begegnungen zwischen Prälaten gab, die der Meinung waren, daß es um den Papst ernster stehe, als gesagt wurde. Sie haben das Konklave vorbereitet. Geduld! Gott sei Dank geht es mir gut. Diesen chirurgischen Eingriff machen zu lassen war eine Entscheidung, die ich nicht treffen wollte: Es war eine Krankenschwester, die mich überzeugt hat. Krankenschwestern und ‑pfleger haben manchmal mehr Verständnis für die Situation als Ärzte, weil sie in direktem Kontakt mit den Patienten stehen.“
Zu den Angriffen gegen Franziskus aus dem Inneren der Kirche
„Es gibt einen großen katholischen Fernsehsender, der anstandslos ständig schlecht über den Papst spricht. Ich persönlich verdiene vielleicht Angriffe und Beleidigungen, weil ich ein Sünder bin, aber die Kirche verdient das nicht: Das ist ein Werk des Teufels. Ich habe das sogar einigen von ihnen gesagt. Ja, es gibt auch Kleriker, die böse Kommentare über mich machen. Manchmal fehlt mir die Geduld, vor allem, wenn sie Urteile fällen, ohne in einen echten Dialog einzutreten. Da kann ich nichts tun. Ich gehe trotzdem weiter, ohne in ihre Gedanken- und Fantasiewelt einzutreten. Ich möchte mich nicht darauf einlassen, und deshalb ziehe ich es vor, zu predigen, zu predigen.“
Über die Ideologie des „Rückwärtsgehens“
„Darunter leiden wir heute in der Kirche: der Ideologie der Rückwärtsgewandtheit. Sie ist eine Ideologie, die die Köpfe kolonisiert. Sie ist eine Form der ideologischen Kolonisierung. Es handelt sich nicht wirklich um ein universelles Problem, sondern eher um ein spezifisches Problem der Kirchen in bestimmten Ländern. Das Leben macht uns Angst. […] Es macht uns Angst, vor dem Volk Gottes zu zelebrieren, das uns ins Gesicht schaut und uns die Wahrheit sagt. Es macht uns Angst, in den seelsorglichen Erfahrungen voranzukommen. Ich denke an die Arbeit, die auf der Synode über die Familie geleistet wurde – Pater Spadaro war anwesend –, um den Menschen klar zu machen, daß Paare in zweiter Ehe nicht schon zur Hölle verdammt sind. Es macht uns Angst, Menschen mit sexueller Vielfalt zu begleiten. […] Das ist das Übel dieses Moments: den Weg in der Starrheit und im Klerikalismus zu suchen, die zwei Perversionen sind.“
Über die Gender-Ideologie
„Die Ideologie hat immer einen teuflischen Reiz, […] weil sie nicht verkörpert ist. Wir leben derzeit in einer Zivilisation der Ideologien, das ist wahr. Wir müssen sie an ihren Wurzeln entlarven. Die Gender-Ideologie […] ist gefährlich, ja. So wie ich sie verstehe, ist sie es, weil sie abstrakt ist in bezug auf das konkrete Leben einer Person, so als ob eine Person abstrakt nach Belieben entscheiden könnte, ob und wann sie ein Mann oder eine Frau sein will. Abstraktion ist für mich immer ein Problem. Das hat jedoch nichts mit dem Thema Homosexualität zu tun. Wenn es ein homosexuelles Paar gibt, können wir mit ihnen Seelsorge betreiben und in der Begegnung mit Christus vorankommen. Wenn ich von der Ideologie spreche, spreche ich von der Idee, der Abstraktion, für die alles möglich ist, nicht vom konkreten Leben der Menschen und ihrer realen Situation.“
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Bangkok, Thailand, 22. November 2019, Begegnung mit den Jesuiten von Südostasien
Gegen „pharisäische Heuchelei“
„Es gibt kein Rezept. Es gibt Bezugsprinzipien, aber der Weg, der zurückzulegen ist, ist immer ein kleiner Pfad, ’senderito‘, der im Gebet und in der Unterscheidung konkreter Situationen entdeckt werden muß. Es gibt keine eindeutigen Regeln, die immer gelten. Der Weg öffnet sich, indem man mit offenem Denken und nicht mit abstrakten Prinzipien der Diplomatie vorgeht. Man schaut auf die Zeichen und unterscheidet den Weg, den man gehen muß. […] Manchmal hingegen, wenn wir wollen, daß alles gut organisiert, präzise, starr, definiert auf immer gleiche Weise ist, dann werden wir zu Heiden, wenn auch verkleidet als Priester. Ich denke, Jesus hat in diesem Zusammenhang viel über die pharisäische Heuchelei gesprochen. […] Es braucht, kurz gesagt, die Tugend der Besonnenheit, die auch eine Tugend der Regierung ist. Aber Vorsicht! Verwechselt nicht die Besonnenheit mit bloßer Ausgewogenheit. Die Besonnenen des Gleichgewichts waschen am Ende immer ihre Hände in Unschuld. Und ihr Schutzpatron ist der ‚heilige‘ Pilatus.“
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Maputo, 5. September 2019, Begegnung mit Jesuiten aus Mosambik und Simbabwe
Gegen Proselytenmacherei
„Ich habe es schon oft gesagt: Proselytismus ist nicht christlich. Heute habe ich eine gewisse Bitterkeit empfunden, als ich das Treffen mit den jungen Leuten beendete. Eine Dame kam mit einem jungen Mann und einer jungen Frau auf mich zu. Mir wurde gesagt, daß sie einer eher fundamentalistischen Bewegung angehören. Sie sagte mir in perfektem Spanisch: ‚Eure Heiligkeit, ich komme aus Südafrika. Dieser Junge war Hindu und konvertierte zum katholischen Glauben. Dieses Mädchen war Anglikanerin und konvertierte zum katholischen Glauben‘. Aber sie erzählte mir das auf eine triumphierende Weise, als ob sie mit einer Trophäe von der Jagd käme. Ich fühlte mich unwohl und sagte ihr: ‚Gnädigste, Evangelisierung ja, Proselytismus nein‘. Was ich meine, ist, daß Evangelisierung befreit! Der Proselytismus hingegen führt zum Verlust der Freiheit. Der Proselytismus ist nicht in der Lage, einen religiösen Weg in Freiheit zu schaffen. Es geht immer darum, daß Menschen auf die eine oder andere Weise unterdrückt werden. Bei der Evangelisierung ist Gott der Handelnde, beim Proselytismus ist es das eigene Ich. […] Leider gibt es aber nicht nur bei den Sekten, sondern auch innerhalb der katholischen Kirche fundamentalistische Gruppen. Sie legen den Schwerpunkt eher auf Proselytismus als auf Evangelisierung.“
Gegen den Klerikalismus
„Der Klerikalismus ist eine echte Perversion in der Kirche. Der Hirte hat die Fähigkeit, vor der Herde herzugehen, um den Weg zu zeigen, in der Mitte der Herde zu stehen, um zu sehen, was in ihr vorgeht, und auch hinter der Herde zu stehen, um sicherzustellen, daß niemand zurückbleibt. Der Klerikalismus hingegen verlangt, daß der Hirte immer an der Spitze steht, den Kurs vorgibt und diejenigen, die von der Herde abweichen, mit Exkommunikation bestraft. Kurz gesagt: Es ist genau das Gegenteil von dem, was Jesus getan hat. Der Klerikalismus verurteilt, trennt, peitscht, verachtet das Volk Gottes. […] Der Klerikalismus hat die Starrheit als direkte Folge. Habt Ihr schon einmal junge Priester gesehen, die steif in schwarzen Soutanen stecken und einen Hut in Form des Planeten Saturn auf dem Kopf tragen? Hinter all dem starren Klerikalismus stecken ernsthafte Probleme. […] Eine der Dimensionen des Klerikalismus ist die ausschließliche moralische Fixierung auf das sechste Gebot. Ein Jesuit, ein großer Jesuit, hat mir einmal gesagt, ich solle vorsichtig sein, wenn ich die Absolution erteile, denn die schwersten Sünden seien die mit größerer Engelhaftigkeit: Stolz, Arroganz, Dominanz… Und die am wenigsten schweren seien die mit geringerer Engelhaftigkeit, wie Völlerei und Lust. Wir konzentrieren uns auf Sex und schenken sozialer Ungerechtigkeit, Verleumdung, Klatsch und Lüge keine Beachtung. Die Kirche braucht heute in diesem Punkt eine tiefgreifende Umkehr.“
*Bukarest, 31. Mai 2019, Begegnung mit den Jesuiten von Rumänien
Mit dem Volk Gottes
„Es gefällt mir, mich bei Kindern und älteren Menschen aufzuhalten. Es war einmal eine alte Frau. Sie hatte wertvolle, leuchtende Augen. Ich fragte sie: ‚Wie alt sind Sie?‘ ‚Siebenundachtzig“, antwortete sie. ‚Aber was essen Sie, um so rüstig zu sein?‘ ‚Geben Sie mir das Rezept‘, sage ich ihr. ‚Alles!‘, antwortet sie mir, ‚und ich mache die Ravioli selbst‘. Ich sage ihr: ‚Liebe Frau, beten Sie für mich!‘ Sie antwortet: ‚Ich bete jeden Tag für Sie!‘ Und ich frage sie scherzhaft: ‚Sagen Sie mir die Wahrheit: Beten Sie für mich oder gegen mich?‘ ‚Das versteht sich: Ich bete für Sie! Ganz andere in der Kirche beten gegen Sie!‘ Der wahre Widerstand liegt nicht im Volk Gottes, das sich wirklich als Volk fühlt. […] Im Volk Gottes finden wir die Konkretheit des Lebens, der wirklichen Probleme, des Apostolats, der Dinge, die wir tun müssen. Das Volk liebt und haßt, wie man lieben und hassen soll.“
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Panama, 26. Januar 2019, Begegnung mit den Jesuiten von Mittelamerika
Über die „gasförmige“ Wirtschaft
„Was uns die virtuelle Kultur vorschlägt, ist etwas Flüssiges, Gasförmiges, ohne Wurzeln, ohne Stamm, ohne alles. Das Gleiche geschieht in der Wirtschafts- und Finanzwelt. Dieser Tage las ich in den Nachrichten einen Bericht über das Treffen in Davos, daß die allgemeine Verschuldung der Länder viel höher ist als das Bruttosozialprodukt aller zusammen. Es ist wie beim Betrug mit einem Kettenbrief: Die Zahlen schwellen an, Millionen und Milliarden, aber dahinter ist nichts als Rauch, alles ist flüssig, gasförmig, und früher oder später wird es zusammenbrechen.“
Über die Befreiungstheologie
„Wer die Befreiungstheologie verurteilte, verurteilte alle Jesuiten in Mittelamerika. Ich hörte schreckliche Verurteilungen. […] Damals nahm ich eines Tages das Flugzeug zu einem Treffen. Ich bin von Buenos Aires aus gestartet, aber weil das Ticket billiger war, hatte ich einen Zwischenstopp in Madrid und flog dann nach Rom. In Madrid kam ein mittelamerikanischer Bischof an Bord. Ich begrüßte ihn, er begrüßte mich, wir setzten uns nebeneinander und kamen ins Gespräch. Ich fragte ihn nach Romeros Seligsprechungsprozeß, und er sagte: ‚Auf keinen Fall. Das wäre wie eine Heiligsprechung des Marxismus‘. Das war nur das Vorspiel. Er fuhr in diesem Tempo fort. […] Aber er war sicher nicht der einzige, der so dachte. Einige andere Mitglieder der kirchlichen Hierarchie standen den damaligen Regimen sehr nahe, sie waren sehr ‚eingebunden‘. […] Das Wichtigste ist, sich nicht von der Ideologie der einen oder anderen Seite überwältigen zu lassen, oder sogar von der schlimmsten von allen, nämlich der aseptischen Ideologie. ‚Sich nicht einmischen‘: Das ist die schlimmste Ideologie. Das war die Einstellung des Bischofs, den ich im Flugzeug getroffen hatte und der ein Aseptiker war. […] Sicher, einige sind der marxistischen Analyse verfallen. Aber ich erzähle Euch etwas Lustiges: Der große Verfolgte, Gustavo Gutiérrez, der Peruaner, konzelebrierte mit mir und dem damaligen Präfekten für die Glaubenslehre, Kardinal Müller, die Messe. Und das geschah, weil ihn mir Müller selbst als seinen Freund brachte. Wenn damals jemand gesagt hätte, daß eines Tages der Präfekt der Glaubenslehre Tages Gutiérrez zur Konzelebration mit dem Papst mitbringen würde, hätte man ihn für betrunken gehalten.“
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: La Civiltà Cattolica (Screenshot)