(Madrid) Ein Buch enthüllt Merkwürdiges: Tarcisio Bertone, unter Papst Benedikt XVI. Kardinalstaatssekretär, wollte den Jesuitenorden unter kommissarische Aufsicht stellen lassen. Zum Apostolischen Kommissar des größten Männerordens der katholischen Kirche sollte der Jesuit Jorge Mario Bergoglio, der heutige Papst, ernannt werden.
Die Enthüllung findet sich im Buch „I gesuiti“ („Die Jesuiten. Vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis zu Papst Franziskus“) des studierten Politologen und Theologen Gianni La Bella. Ab 1983 war La Bella Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Politikwissenschaftlichen Fakultät der römischen Universität La Sapienza und von 1985–1993 Verantwortlicher der Abteilung Wirtschaft und Soziales der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax. Ab 1995 lehrte er Wirtschaftsgeschichte und Geschichte der Internationalen Beziehungen an der römischen Universität LUISS. Seit 2005 ist er außerordentlicher Professor für Zeitgeschichte und Interkulturelle Mediationsmethoden an der Universität Modena und Reggio Emilia.
Sein Buch erschien bereits im Mai 2019, doch erst die am Dienstag in einer Madrider Jesuitenniederlassung vorgestellte spanische Ausgabe „Los Jesuitas“ verschaffte einem merkwürdigen Detail größere Aufmerksamkeit. Wegen des Niedergangs des Jesuitenordens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil machte der damalige Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone im Jahr 2007 den Vorschlag, den Orden unter kommissarische Verwaltung zu stellen und den Jesuiten und damaligen Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, zum Kommissar zu ernennen.
Der Kontext
Im Jahr 2007 war Bertone, zuvor Erzbischof von Genua, seit wenigen Monaten Kardinalstaatssekretär der Kirche. In dieses Amt hatte ihn Papst Benedikt XVI. berufen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern und auch seinem Nachfolger gehörte er nicht dem Diplomatischen Corps des Heiligen Stuhls an. Er war sozusagen ein Außenstehender. Genau das war einer der Gründe, weshalb sich Benedikt XVI. für ihn entschieden hatte. Eine Entscheidung, die für zahlreiche Diskussionen sorgte.
Der Jesuitenorden war von seinem 28. Generaloberen Pedro Arrupe, der dem Orden des heiligen Ignatius von Loyola seit 1965 vorstand, in eine schwere Krise gestürzt worden. Der Baske Arrupe erklärte den Orden nach den Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils umzugestalten, führte ihn aber in eine Allianz mit dem Sozialismus – eine Weichenstellung mit weitreichenden und schwerwiegenden Auswirkungen in der Ersten und der Dritten Welt. Als Papst Johannes Paul II. gewählt wurde, der, im Gegensatz zu Arrupe, den „Realen Sozialismus“ in Polen aus eigener Anschauung kannte, zog er die Handbremse, weil der Orden vor dem Zusammenbruch stand. Johannes Paul II. nützte Arrupes gesundheitliche Probleme, um ihn zu entmachten und die Wahl eines Nachfolgers von Arrupes Gnaden zu verhindern. 1983 wurde mit Billigung des Vatikans Peter Hans Kolvenbach zum neuen Generaloberen gewählt. Arrupe, um den sich in einem Teil des Ordens eine mythische Verehrung ausbreitete, verstarb 1991 in Rom. Eine wirkliche Trendwende konnte durch die zu zaghafte vatikanische Intervention aber nicht erreicht werden.
2007 hatte Kolvenbach dem Vatikan seinen Rücktritt angekündigt und bereitete die Übertragung seiner Vollmachten an einen Nachfolger vor. Das rief Kardinalstaatssekretär Bertone auf den Plan, der eine Chance sah, einen erneuten Versuch zur Erneuerung des Ordens zu unternehmen. Wie schon 1981/1983, mitten in der Auseinandersetzung mit der marxistischen Befreiungstheologie, war der Heilige Stuhl dabei vor allem von der Sorge getrieben, die Wahl eines zweiten Arrupe zu verhindern.
Kardinal Bertone warf die Idee auf, statt der Wahl eines Nachfolgers von Kolvenbach einen Apostolischen Kommissar einzusetzen, um den Niedergang des Ordens und seine negativen Einflüsse auf die Weltkirche zu stoppen.
Als Kommissar hatte Bertone an den damaligen Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Kardinal Bergoglio, gedacht. Das erstaunt und zeigt, wie lange einmal zugewiesene Etikettierungen nachwirken können. Bertone dachte an Bergoglio, weil dieser in Rom als „konservativ“ galt. Diese Einordnung hatte er sich wegen seines ordensinternen Konfliktes „erworben“. Insgesamt war sie aber kurzsichtig. Rom war offensichtlich nur lückenhaft über den Konflikt und seine tatsächlichen Beweggründe informiert und zog falsche Schlüsse. Auch die Möglichkeit, daß Rom bewußt lückenhaft oder falsch informiert wurde, ist nicht ausgeschlossen, aber einer Frage, die nicht geklärt ist. Die Tatsache, daß Bergoglio in den 80er Jahren ordensintern von Mitbrüdern ins Exil geschickt worden war, die in Rom als Arrupe-Anhänger galten, ließ ihn zur interessanten Option werden und begründete seinen plötzlichen Aufstieg in den 90er Jahren.
Das Mißverständnis
Was im Rom von Johannes Paul II. nicht beachtet wurde oder nicht ausreichend bekannt war: Bergoglio war 1974/1975 selbst Mitglied der berühmt-berüchtigten 32. Generalkongregation des Jesuitenordens, auf der der Orden von Arrupe politisch auf den Sozialismus und kirchlich auf den Modernismus ausgerichtet wurde. Bergoglio gehörte zu den Protegés Arrupes. Der Konflikt mit seinen Mitbrüdern innerhalb der Argentinischen Ordensprovinz lag auf einer ganz anderen Ebene und hatte nicht zuletzt mit Bergoglios Charakter zu tun.
In Rom verkannte man die Lage und wollte in dem ordensintern kaltgestellten und in die Provinz abgeschobenen Jesuiten ein brauchbares ordensinternes Gegengewicht erkennen. Kolvenbachs negative Stellungnahme zu einer möglichen Bischofsernennung Bergoglios scheint diese römischen Hoffnungen noch beflügelt zu haben. Die Existenz dieser Stellungnahme ist gesichert, sie selbst aber seit der Wahl von Papst Franziskus aus den Archiven verschwunden.
Liest man die Etappen des innerkirchlichen Aufstiegs Bergoglios scheint ihm fatalerweise ein großes Mißverständnis zugrundezuliegen. Das findet seine Bestätigung in einem weiteren Detail jenes versuchten Manövers von Kardinal Bertone. Durch dessen Einfluß auf Benedikt XVI. sei es nicht dieser Papst gewesen, der 2007 den Vorschlag seines Kardinalstaatssekretärs verwarf. Es sei Bergoglio selbst gewesen, der sich weigerte, als päpstlicher Kommissar an die Spitze seines Ordens zu treten.
Zudem: Als Kolvenbach von Bertone über dessen Vorschlag unterrichtet wurde, sei er„ratlos und irritiert“. Er bat Papst Benedikt XVI. dringend um eine Audienz und versicherte diesem, daß ein vom Vatikan dem Orden auferlegter Kommissar von den Jesuiten „nicht geduldet“ werden würde. Damit war die Option Bergoglio und überhaupt der Vorschlag eines Kommissars vom Tisch. 2008 wurde der Spanier Adolfo Nicolas zum 30. Jesuitengeneral gewählt.
Seit 2016 wird der Jesuitenorden von General Arturo Sosa Abascal geleitet, der zwar kein zweiter Arrupe ist, aber dessen Allianz von Christentum und Sozialismus so ernst nahm, daß er sie theoretisch untermauerte und in den 80er Jahren dem kommunistischen Diktator Fidel Castro zujubelte. Seit seiner Wahl zum General des Jesuitenordens im Herbst 2016 fiel er durch irritierende bis skandalöse Aussagen auf, die ihm eine Anzeige wegen Häresie bei der Glaubenskongregation einbrachte. Dort bleibt sie freilich in der Schublade liegen, schließlich wurde Kardinal Gerhard Müller kurz nach Einbringung der Anzeige als Glaubenspräfekt entlassen. Seither sind sowohl der Papst als auch der derzeitige Glaubenspräfekt Jesuiten.
Währenddessen betreibt General Sosa, wiederum mit vatikanischer Unterstützung, die Seligsprechung seines Vorgängers Pedro Arrupe, den Papst Franziskus im November 2019 als „Prophet“ bezeichnete und im November 2014 als „Vorbild“ empfahl. Der offizielle Seligsprechungsprozeß wurde vom Orden im Juli 2018 eröffnet, vom Vatikan im Februar 2019. Damit soll auch Arrupes Traum von der Allianz zwischen Christentum und Sozialismus zu den Altären erhoben werden.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: InfoVaticana