Unter dem Pseudonym Vigilius führt der Autor eine bemerkenswerte neue Perspektive in die Kritik des derzeitigen Pontifikats ein und legt diese in einer messerscharfen Analyse vor. Diese neue Perspektive, die internationale Aufmerksamkeit verdient, muß in ihrer Schlußfolgerung erschüttern. In der Vergangenheit wurde ansatzweise und in groben Zügen bereits in eine ähnliche Richtung gedacht, doch das Erkannte ließ offensichtlich viele zurückschrecken. Der Autor hat diesen Schauder nicht nur überwunden, sondern ist der Frage systematisch und konsequent nachgegangen und hat das Erkannte als neuen Ansatz in der Beurteilung des aktuellen Pontifikats auch ausformuliert. Dabei geht es um nichts weniger als die Existenz der Kirche. Vigilius wird mit anderen Autoren ab Mai zu theologischen und philosophischen Themen auf dem neuen Blog www.einsprueche.com veröffentlichen. Wir dürfen also auf weitere bemerkenswerte Texte gespannt sein und wünschen dem neuen Projekt alles Gute.
Der große Verlust oder das Pontifikat des Jorge Bergoglio
Von Vigilius*
Das Pontifikat Jorge Bergoglios ist durch vielzählige Ambivalenzen charakterisiert. So redet der Papst gegen die woke Ideologie, empfängt aber fortwährend Repräsentanten eben dieses Milieus, er nennt Abtreibung Mord und läßt gleichzeitig seinen Kurienerzbischof Paglia zu diesem gravierenden Casus sehr verhaltene Stellungnahmen verbreiten, schickt kritische Briefe an den Synodalen Weg und läßt, während er Bischof Strickland absetzt, bei den Deutschen schließlich doch alles laufen, äußert sich religionsrelativistisch und nimmt das dann wieder zurück, gibt Eugenio Scalfari mehrere Interviews theologisch äußerst dubiosen Inhaltes, während er Katechesen hält, die gegenläufige Positionen formulieren – usf.
Diese Ambiguitäten und der Umstand, daß der Papst seinen lehramtlichen Primat noch nie formell für die Formulierung einer Häresie in Anspruch nahm, haben im konservativen Lager vielfach für Verwirrung gesorgt und – neben dem Bedürfnis, das päpstliche Amt nicht zu beschädigen – die Neigung befördert, bei aller Kritik an einzelnen Punkten doch scheinbar differenziert zu bleiben. Eines der häufig gehörten Relativierungsnarrative lautet, daß Franziskus von sprunghafter Natur, primär politisch und praktisch ausgerichtet, zudem überhaupt kein systematisch-theoretischer Kopf und im übrigen von schlechten Beratern umgeben sei.
Nun will ich nicht in Abrede stellen, daß es diese Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten gibt. Gleichwohl bin ich nicht der Ansicht, daß in diesem Pontifikat keine Systematik entdeckt werden könnte. Es mag in der Persönlichkeit des Papstes selber Unklarheiten und immer wieder auftauchende traditionale Erinnerungsbestände sowie irritierend divergente vatikanische Verlautbarungen geben. Ich möchte die Frage offenlassen, ob und in welchem Umfang die merkwürdigen Inkohärenzen geplant-taktischer Natur sind, um die Konservativen immer mal wieder zu beruhigen und den Widerstand gegen dieses Pontifikat einzuhegen. Vermutlich ist das gelegentlich der Fall. Insgesamt scheint es mir aber weit eher so, daß es echte Wirrnisse sind, aber von der Art, daß sie nicht einfachhin aufgrund einer fehlenden organisierenden Mitte passieren, sondern gerade die intrinsische Folge jener von mir angenommenen Systematik darstellen, die das Sein der Kirche völlig neu bestimmen will und deren nächste Folgen in einer so alten Institution wie der katholischen Kirche chaotisch sein müssen.
Es ist signifikant, daß Franziskus selber mehrfach gesagt hat, er wolle alles durcheinanderbringen. Das Chaos ist aber kein Selbstzweck, sondern sowohl unumgängliche Folge der Revolution als auch deren Selbstrealisierungsmittel. So gibt es gewissermaßen unterhalb der momenthaft aufscheinenden traditionalen Relikte einen revolutionären Hauptstrom, ein geistiges Grundgefälle, das die – mal mehr, mal weniger offen zu Tage tretende – eigentliche Definitionsmitte der bergoglianischen Ära bildet. Man darf sich von Dokumenten wie „Dignitas infinita“ nicht blenden lassen.
„Jeder große Gedanke ist ungerecht“ sagt Nicolás Gómez Dávila. Das ist er deswegen, weil man natürlich immer noch mehr differenzieren, weitere Akzentuierungen, Nuancen und Ambiguitäten reklamieren könnte. Gleichwohl hebt seine konstitutionelle Ungerechtigkeit die grundsätzliche Wahrheit des Gedankens nicht auf. Außerdem benötigen wir solche Gedanken, da wir ohne sie die Übersicht und uns im Dickicht jenes Distinktionseifers verlören, der im akademischen Feld weit verbreitet ist und durchaus so lange zu differenzieren vermag, bis das Phänomen verschwunden ist und man gar nichts mehr sieht. Es ist die Aufgabe des Denkens, das Phänomen möglichst trennscharf zu machen.
Im Folgenden möchte ich mich mit der bergoglianischen Systematik beschäftigen, von deren Existenz ich überzeugt bin. Damit soll keineswegs gesagt sein, Franziskus sei ein bedeutender Theologe. Das ist er sicher nicht, in Wahrheit hat Jorge Bergoglio niemals irgendwelche Sätze von Rang formuliert. Das eindrucksvollste Merkmal seines Pontifikates besteht einzig in der Penetranz, mit der er, skrupellos und selbstgewiß, wie es nur mediokre Geister zu sein vermögen, ein altes, keineswegs von ihm erfundenes Projekt der Vollendung zutreibt. Ironischerweise besteht genau in dieser katalysatorischen Wirksamkeit seine bedauernswerte historische Bedeutung, die wie ein düsterer Fluch bleibend auf seinem Andenken lasten wird.
Fratelli tutti
Es gibt aus der Anfangsphase seines Pontifikates eine bemerkenswerte kleine Ansprache von Franziskus, die er seinem Freund, dem 2014 tödlich verunglückten anglikanisch-episkopalen Geistlichen Tony Palmer auf dessen Handy gesprochen hat, damit Palmer eben diese Botschaft den Teilnehmern eines pentekostalisch geprägten Kongresses präsentieren konnte1. Zu Beginn dieses sich als spontan gerierenden, gleichwohl systematisch durchkonzipierten Videos entschuldigt sich der Papst dafür, nicht Englisch, sondern Italienisch zu sprechen, um mit dem gezielten sentimentalen Kategorienwechsel anzuschließen, er wolle überhaupt nicht Englisch oder Italienisch, sondern „herzerfüllt“ mit „der Grammatik der Liebe“ sprechen.
Diese Sache ist brillant inszeniert. An die Stelle rational-distinktiver theologischer Begriffe, die um der Wahrheitsfrage willen einen argumentativen Streit und damit legitime Gegnerschaft ermöglichen könnten, tritt die Gefühlsebene, die ein geschicktes taktisches Manöver ist, mit dem mögliche Widersacher der von Franziskus vertretenen inhaltlichen Position a priori delegitimiert und aus dem Feld geschlagen werden. Das umstandslos vom Redner etablierte emotionalisierte Koordinatensystem eröffnet nämlich einen hochmoralischen Diskurs, in dem alle Einwände sogleich als hartherzig und verletzend erscheinen müssen. Franziskus bestimmt selbst noch für seine Gegner die Spielregeln. Zugleich entspricht dieser „Herzensrede“ präzise das vorgetragene Kernanliegen, das durch die gewählte rhetorische Methode zugleich abgesichert und realisiert wird: grenzenüberschreitende Einheit und bedingungslose Brüderlichkeit. Beides, so bekundet der Bischof von Rom, realisiere er bereits mit dem von ihm explizit so genannten „Bischof-Bruder Tony Palmer“. In diesem Szenario kann der Kritiker derartiger Einheitsemphasen nichts anderes mehr als ein Bösewicht sein. In seiner Verhärtung mißachtet er die von Papst Franziskus ausdrücklich bekundete „Sehnsucht nach Umarmung“ der anderskonfessionellen Brüder, um jene theologischen Unterscheidungen vorzuziehen, die der Papst ausdrücklich und differenzierungsfrei als sündige Trennungen identifiziert.
Im weiteren Verlauf seiner von der Grammatik der Liebe bestimmten Rede kommt der Papst auf die alttestamentliche Josefsgeschichte zu sprechen, die das organisierende Zentrum seiner ganzen Ansprache bildet. Josefs Brüder gehen, von Hunger getrieben, nach Ägypten, um sich Brot zu kaufen. Ihr Geld, so merkt Franziskus mit bedeutungsschwerer Miene an, können sie ja nicht essen. Dann aber finden sie etwas noch viel Wichtigeres als das Brot, nämlich die Wiedervereinigung mit dem Bruder. „Wir alle haben Geld“, sagt Franziskus, „das Geld unserer Kultur, unserer Geschichte, wir haben eine Menge kultureller Reichtümer, religiöser Reichtümer, und wir haben verschiedene Traditionen.“ Und jetzt kommt die große Gegenüberstellung: „Aber wir haben uns zu begegnen als Brüder.“ Es sind, so der Papst, die gemeinschaftssehnsüchtigen „Tränen der Liebe“, die uns zueinander führen und die viel bedeutender sind als die genannten sekundären Reichtümer der partikularen religiösen Traditionen, die die uneigentliche Sphäre der theologischen Wahrheitsfragen und entsprechenden Konfliklinien bilden. Präziser formuliert: Die „Tränen der Liebe“ machen uns nicht allererst zu Brüdern, sondern lassen uns den unter den doktrinären Sätzen der Partikulartraditionen verdeckten eigentlichen Schatz entdecken, daß wir immer schon Brüder sind.
Damit ist das schlichte und gleichwohl äußerst folgenreiche Grundaxiom der bergoglianischen Weltsicht formuliert. Sie wird von der Idee beherrscht, daß die universale Brüderlichkeit jenseits sekundärer religiöser Traditionen das für die Sittlichkeit und das konkrete politische Handeln, aber auch das für die Theologie und die geistliche Praxis der Einzelnen sowie der gesamten Kirche bedeutendste Prinzip überhaupt sei.
Während seiner bisherigen Amtszeit hat Papst Franziskus die Leitkategorie der universalen Brüderlichkeit um den Aspekt der ökologischen Verantwortung für „Mutter Erde“ erweitert. Beide Motive bilden aber nur zwei Seiten der einen Medaille. In seinen beiden Schriften „Laudato Si’“ und „Laudate Deum“ rückt die Sorge um den Planeten in den zentralen Fokus der kirchlichen Aufmerksamkeit. Noch einmal von dem gravierenden Problem abgesehen, daß sich der Papst hier zum Sachwalter bestimmter, wissenschaftlich durchaus umstrittener ökonomischer sowie klimaökologischer Positionen macht und damit den präzise umgrenzten Bezirk lehramtlicher Kompetenz definitiv überschreitet, versucht Franziskus, dem ökologischen Paradigma – weit über dessen bloß natürlich-ethische Relevanz hinaus – theologische Zentralität zu verleihen.
Aus diesem Grunde sind die berühmten Einlassungen des Papstes bei einem Fokolaretreffen, das den internationalen Aktionstag zur Sensibilisierung gegen Umweltverschmutzung, „earth-day“ genannt, feierlich zelebrierte, auch so bedeutsam. Wenn Franziskus hier verkündet, unsere gemeinsame Menschlichkeit bilde die entscheidende Größe, der gegenüber gelte: „‘Ich aber gehöre zu dieser Religion, oder zu jener anderen …‘ Das ist nicht wichtig!“ 2, dann ist dieser Satz nicht deswegen bemerkenswert, weil er behauptet, unter der Rücksicht des Kampfes gegen die Umweltverschmutzung sei die konkrete Religionszugehörigkeit unbedeutend. Das wäre trivial. Er ist vielmehr deswegen relevant, weil Jorge Bergoglio, und zwar unzweideutig, grundlegend davon ausgeht, daß der Kampf gegen die Umweltverschmutzung als Integral des Kampfes für eine bessere, will sagen: eine sozialistische Brüderlichkeitswelt das wichtigste Anliegen der Religion überhaupt sei und deswegen, konsequenterweise, die sonstigen Unterschiede der religiösen Traditionen von marginaler Relevanz seien.
Der Einsatz für die als theologischen Kernbestand des kirchlichen Selbstverständnisses etablierte Idee der universalen Brüderlichkeit jenseits religiöser Partikulartraditionen, die um den sozial-ökologischen Welttransformationsgedanken angereichert wurde, bildet die Definitionsmitte des bergoglianischen Universums. Sie ist in den Augen Jorge Bergoglios gewissermaßen der articulus stantis et cadentis ecclesiae, der die Existenz der Kirche überhaupt erst rechtfertigt. Die Implikate dieser paradoxalen Position – daß das Wesen einer Partikulartradition darin bestehe, sich gerade selber, also die differentia specifica, als eine solche in ein Umgreifenderes zu relativieren und damit aufzuheben – sind für die katholische Kirche so ungeheuerlich, daß wir sie in einem nächsten Schritt eigens beleuchten müssen. Zunächst gilt es aber, das Phänomen überhaupt zureichend sichtbar zu machen.
Wie wenig übertrieben die Behauptung dieser Definitionsmitte ist, zeigt sich daran, daß sie sich während des gesamten Pontifikates sogar in der Weise durchgehalten hat, daß sie – nicht zuletzt unter politischen Rücksichten – immer stärker als alles imprägnierendes Prinzip hervorgetreten ist. Jüngstes Beispiel ist die aktuelle Fastenbotschaft des Papstes, mit der er, wie vor zehn Jahren allegorisch in den orientalischen Raum zurückkehrend, die Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens interpretiert. Der Text, dessen Lektüre ein wahres Bußwerk genannt werden kann, trägt den Titel „Durch die Wüste führt Gott uns zur Freiheit“.
Man ahnt schon alles, und man ahnt richtig. Der Pharao und das Sklavenhaus stehen für jene „erdrückenden Bindungen“, die „die Geschwisterlichkeit, die uns ursprünglich miteinander verbindet“, verleugnen, während diese Geschwisterlichkeit selber das „gelobte Land“ bildet. Da ist sie wieder, die „fraternità universale“, die auf der vatikanischen Webseite selber mit „Geschwisterlichkeit“ ins Deutsche übersetzt wird und die den articulus stantis et cadentis ecclesiae bergogliensis bildet. Dementsprechend dechiffriert Franziskus die Sehnsucht der murrenden Israeliten nach den Fleischtöpfen Ägyptens und die darin nachwirkende Herrschaft des Pharao als Wunsch zur Rückkehr in „erdrückende Bindungen“, welcher Wunsch mit jener „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ identisch ist, die von Franziskus, daran erinnert der Papst ausdrücklich, auf seiner Reise zu den Migranten in Lampedusa kritisiert wurde.
In der Fastenzeit geht es nach Jorge Bergoglio nun darum, den – mehrfach als solchen bemühten – „Traum des gelobten Landes“ gegen ein „Wachstumsmodell, das uns spaltet“, und „die Erde, das Wasser und die Luft verunreinigt“, zur Geltung zu bringen. Das dem gelobten Land entgegengesetzte Reich des Pharao wird aber nicht nur durch ökonomische Bindungen und öko-ethische Fehlhaltungen bestimmt, sondern mindestens ebenso sehr durch jene Bindungen, die sich auf je „unsere Position“, „Tradition“ oder sozial-kulturelle Gruppe beziehen. Die „Fastenzeit“ soll uns diese zu Ungleichheiten führenden partikularen Beziehungen erkennen lassen, damit wir sodann die ökonomische, soziale und religiös-traditionelle „Sicherheit des bereits Gesehenen“ zugunsten des Auszugs in die neue Welt der „weltweiten Geschwisterlichkeit“ preisgeben.
Dieser Traum von der „neuen Welt“ und „neuen Menschheit“, die sich nicht mehr „an Geld, an bestimmte Projekte, Ideen, Ziele, an unsere Position, an eine Tradition oder sogar bestimmte Menschen bindet“, ist nach Jorge Bergoglio nichts geringeres als der „Traum Gottes“ selbst vom „Gelobten Land, auf das wir zugehen, wenn wir aus der Sklaverei aussteigen“. Gott träumt den sozialistischen Wiederentdeckungs- und Wiederweckungstraum der immer schon existierenden universalen Brüderlichkeit, in der das „Dunkel der Ungleichheiten“ vertrieben wird und alle zu „Weggefährtinnen und Weggefährten“ werden. Es ist ein Traum, in dem exklusivistische Wahrheitsansprüche, religiöse Dogmatiken, distinktive religiöse Gemeinschaftsidentitäten sowie alle umgrenzten Kultur- und Volkszugehörigkeiten ihre vorgeblich erdrückende Bindungskraft verloren haben. Freiheit ist demgegenüber bestimmt als das Sein jenseits der Fesseln der Partikularität, als Identität mit dem Allgemeinen des Kosmos grenzenloser Geschwisterlichkeit.
Das Gelobte Land realisiert sich prozeßhaft, wir müssen uns dafür mit allen Kräften einsetzen und unsere als egoistisch geltenden Fixierungen auf Partikularidentitäten überwinden. Das bedeutet nicht zuletzt, daß wir gegen unsere Versuchung kämpfen müssen, aufgrund von Sicherheitsbedürfnissen ein bestimmtes Glaubensbekenntnis jenseits der immer schon existierenden universalen Brüderlichkeit absolut zu setzen. Die päpstliche Geschwisterlichkeitstheorie macht es unumgänglich, daß sich ihr alle theologischen Bestände unterwerfen und entsprechend neudekliniert werden müssen. Auch muß sich jedes Märtyrertum um eines Glaubensbekenntnisses willen ebenso auflösen wie jede auf ein spezifisches Glaubensbekenntnis bezogene Mission; beides wird zu den Kategorien des „sozialen Engagements“ und „hörenden Dialogs“ umgeformt, die zu den neuen spirituellen Leitdimensionen avancieren. Die Überwindung „unserer Ideen“ und „unserer Tradition“ sowie der korrelierenden klassisch-religiösen Aktivitäten, kurz: die Überwindung alles „Indietristischen“ wird zum zentralen religiösen Gebot, zu Gottes eigenem Willen und Auftrag erklärt.
Es ist eine offenkundige Tatsache, daß Papst Franziskus ein autoritärer Machtmensch ist. Die Herrschaft, so lautet ja meine These, wird jedoch weit weniger irrational ausgeübt, als das in etlichen Schilderungen dieses Pontifikates behauptet wird. Bei Papst Franziskus gibt es eine Grundagenda, und es ist die beschriebene, deren kirchlicher Implementierung er mit bemerkenswerter Konsequenz dient. Franziskus ist primär weder Pragmatiker noch Politiker, er ist, um mit seinen eigenen Worten zu sprechen, vor allem ein „Träumer“. Weniger romantisch formuliert: Jorge Bergoglio ist primär ein Ideologe.
Der große Verlust
Im Folgenden geht es mir darum, die theologische Tiefendimension der nunmehr auch von einem Papst vertretenen Theorie der nur noch sekundär relevanten religiösen Traditionen zu erhellen. Vermutlich wird es vielen religiösen Überzeugungen schwerfallen, die bergoglianische Relativitätstheorie zu goutieren; am ehesten ist sie wohl an die asiatischen Spiritualitäten anschlußfähig. Für die katholische Kirche ist sie aber vernichtend.
Entscheidenderweise ist es nämlich das Wesenscharakteristikum der katholischen Tradition, sich gerade nicht als einen bloßen Traditionszusammenhang zu begreifen. Die Tradition der Kirche versteht die Kirche grundlegend nicht als ein Gefüge von Traditionsbildungen, also von bewußtseinsmäßigen Vorstellungen, Glaubensformeln und symbolischen Praxen, sondern als inneres Moment eines ontologischen Ereignisses, aus dem diese Traditionsbildungen logisch überhaupt erst hervorgehen. Schon mit den Texten des Neuen Testamentes affirmiert und bezeugt das kirchliche Bewußtsein dieses entscheidende Seinsereignis, mit dem die Kirche steht und fällt. Träte an die Stelle dieses traditionellen Glaubens der Glaube an die Tradition selber, hätte der Nihilismus schon Einzug gehalten und verschwände à la longue auch der Traditionszusammenhang.
Das Ereignis, auf das sich der traditionelle Glaube der Kirche fundamental bezieht, besteht darin, daß Gott in einem unableitbaren und unendlich über die bloßen Möglichkeiten der geschaffenen Natur hinausreichenden Gnadenakt in Christus einen neuen, mithin übernatürlichen Seinszusammenhang konstituiert hat. „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Kreatur.“ (2 Kor, 5,17) Die Neuheit dieses neuen Seins haben die Kirchenväter mit großer Kühnheit als die theosis des Menschen beschrieben, darin der Mensch zwar Kreatur bleibt, aber in der Gnade über die Sphäre der bloßen Schöpfung unendlich hinausgehoben wird und einen solchen ihn innerlich verwandelnden Anteil am göttlichen Leben, an Gottes eigener Heiligkeit selber erhält, daß der Mystiker Johannes vom Kreuz den in Christus umgestalteten Menschen mit einem Holzscheit vergleichen kann, der, ins lodernde Feuer gelegt, von der ihn erfassenden Glut äußerlich kaum noch abgrenzbar ist. In der prosaischeren Sprache der scholastischen Theologie heißt das, daß der Heilige Geist das Prinzip unserer geistigen Akte und in der visio beata sogar des menschlichen Leibes wird.
Wie bereits Augustinus, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus behaupten3, ist der menschliche Geist konstitutionell durch einen „appetitus innatus“ charakterisiert, der auf das übernatürlichen Leben ausgerichtet ist, das in der unverhüllten Anschauung Gottes seine innere Vollendung findet. Wenngleich dem Menschen zwar das desiderium in visionem beatificam wesensinhärent ist, vermag die geschaffene Natur dieses übernatürliche Ziel ihrer eigenen natürlichen Sehnsucht aus sich selbst aber nie zu erreichen. Zudem hat die Natur auf ihre Vollendung kein Anrecht, die Gabe des Zieles bleibt reine Gnade auch im Sinne der völligen Ungeschuldetheit. Das heißt: Es gehört gerade zur Wesensbestimmung des Menschen, sich selber so enteignet und so wenig autonom zu sein, daß er material und formal zur Vollendung der eigenen Natur von einer externen, unverfügbaren Freiheit völlig abhängig ist, die sich zwar erbarmen, dieses Erbarmen aber auch verweigern kann. Hier wird ein Abhängigkeitsverhältnis formuliert, das radikaler nicht mehr gedacht werden kann.
Von großer Relevanz ist nun in unserem Kontext, daß sich die katholische Kirche zu dem von ihr bezeugten übernatürlichen Sein in Christus nicht äußerlich verhält. Sie handelt in ihrer Verkündigung nicht einfach von einer Sache, die von ihr selbst wesenhaft verschieden wäre, sondern begreift sich, wie ich vorhin formulierte, als inneres Moment des skizzierten ontologischen Ereignisses. Das neue Sein in Christus ist die Kirche nämlich selber. Sie ist als sein geisterfüllter Leib nichts geringeres als die übernatürliche Lebensgemeinschaft mit dem menschgewordenen Sohn, von dem als ihrem versammelnden übernatürlichen Haupt her sie die eine, heilige und katholische ist, in der sich uns die trinitarische Lebensgemeinschaft Gottes erschließt. „Extra Christum nulla salus“ ist sachkonvergent mit „extra ecclesiam nulla salus“.
Dementsprechend sind die menschliche Brüderlichkeit und die „Einheit des Menschengeschlechts“ tatsächlich zentrale Topoi des christlichen Glaubens, aber sie sind es nur unter dem unbedingt zu beachtenden Vorzeichen dieses übernatürlichen Zusammenhanges. Noch einmal von der Frage abgesehen, ob allein aus erbsündentheologischen Gründen die Rede überhaupt sinnvoll ist, wir seien immer schon qua Menschen Brüder und bildeten eine Menschheitsfamilie, wird die Brüderlichkeitskategorie für den katholischen Begriff allererst unter der Übernatürlichkeitsrücksicht des ekklesiologisch ausgeformten Seins in Christus eine substantiell relevante Dimension. Es entspricht völlig dem Neuen Testament, daß für Johannes vom Kreuz selbst die leibliche Bruderschaft ontologisch eine radikal sekundäre Dimension darstellt.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die bergoglianische Position für die Kirche zerstörerisch ist. Sie ist zerstörerisch, weil der Papst den ontologischen Status der Tradition falsch bestimmt, und er bestimmt ihn falsch, weil er den eigentlichen Gegenstand des Glaubens falsch bestimmt. Franziskus läßt die Kirche der Tradition nahtlos unter die Kategorie logischer Nachrangigkeit fallen, weil sie für ihn nichts anderes als eine Tradition ist. In diesem Sinne ist Bergoglio ein radikaler Traditionalist. Den traditionellen Bekenntnissen entspricht keine Realität an sich. Für Jorge Bergoglio sind das alles bloße Ideen und prinzipiell beliebige Praxen, man könnte auch sagen, die Tradition der Kirche ist ein bloßer, in sich zirkulierender Diskurs, dessen Wahrheitsanspruch von Leuten erfunden wurde, die sich aufgrund psychologisch erklärbarer Abgrenzungsbedürfnisse gern in Sicherheiten wiegen und abgehobene klerikale Sonderwelten konstruieren, in denen sie in Spitzenrochettes liturgische Opern aufführen.
Das moderne Projekt der Naturalisierung des Christentums
Aufgrund dieses Pontifikates ist die immanentistische Propaganda der natürlichen Brüderlichkeitstheologie in der Kirche mittlerweile hemmungslos und ubiquitär geworden. Gleichwohl hat Jorge Bergoglio sie nicht erfunden. Das Projekt der Naturalisierung des Christentums reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück und zieht sich von der Aufklärung über den Deutschen Idealismus und den liberalen Protestantismus sowie die diversen modernistischen Entwürfe des 19. Jahrhunderts und politisierenden Theologien des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Eine seiner aktuellen Manifestationen ist das seit längerem in theologischen Kreisen beliebte Ansinnen, das Neue Testament als eine bloße innere Weiterschreibung des Alten Testamentes zu betrachten und – wie das der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet signifikanterweise gern praktiziert – vorrangig vom „Juden Jesus“ zu sprechen.4 Man könnte das die Alttestamentarisierung des Neuen Testamentes nennen.
Die Pointe dieses Vorganges besteht darin, die Heilsverheißungen des Neuen Testamentes ihres übernatürlichen und damit ihres christologischen Charakters zu entkleiden und das primär diesseitigkeitsbezogene religiöse Verhältnis Israels absolut zu setzen. Das Rettungshandeln Gottes bezieht sich im Alten Testament wesentlich auf innerweltliche Dimensionen: Der von Gott Gesegnete hat ein langes irdisches Leben und bekommt männlichen Nachwuchs, das Volk Israels erhält ein bestimmtes geographisches Territorium zur Heimat, die Lebensvollzüge des Volkes werden durch den göttlichen Gebotswillen geordnet, Gott verhängt über das gehorsamsunwillige Israel physische Strafen, wie er Israel auch wieder aus irdischer Knechtschaft befreit, er steht dem Volk im Kampf mit anderen Völkern zur Seite usw. Entsprechend wird Jahwe als der wahre Gott in der jüdischen Theologie dadurch ausgewiesen, daß er im Unterschied zu den Göttern der anderen Völker tatsächlich hilft, er erweist seine Macht empirisch.
Es waren vor allem die Kirchenväter, die bahnbrechend eine christologische Hermeneutik des Alten Testamentes entwickelten. Die alttestamentlichen Texte wurden vor allem präfigurativ und allegorisch gelesen, wie es die Kirche bis heute etwa in der Liturgie der Osternacht macht: Das Abrahamsopfer verweist auf das Opfer Christi, der Durchzug durch das Rote Meer ist ein Sinnbild der Taufe, das gelobte Land ist die ewige Lebensgemeinschaft mit dem Auferstandenen – und so fort. Das heißt: Diese Interpretation hebt die Theologie Israels und den Bundesschluß am Sinai auf jene eigentlich übernatürliche Ebene, die ontologisch allererst in Christus konstituiert wird. Damit wird Israel als solches in die Kirche als den mystischen Leib Christi aufgehoben. Es gibt einen Verweiszusammenhang beider Testamente, aber der ist streng christozentrisch organisiert.
Die viel beschworene Subtilisierung des alttestamentlichen Gottesbildes in der Gottesrede des Neuen Testamentes bedeutet deshalb auch keineswegs, daß der neutestamentliche Gott keine dunklen Züge mehr trägt. Im Kern besteht die Sublimierung vielmehr in dem beschriebenen Vorgang, daß aus der theologischen Sphäre des Alten Testamentes eine wahrhaft übernatürliche und mystische wird: Das Zentrum der Heilsbewegung ist die durch die gratia Christi eröffnete innere Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott, die die visio beatifica zu ihrem wesentlichen Ziel hat. Zugleich ist damit unter epistemischer Rücksicht gesagt, daß sich das Alte Testament gar nicht aus sich selbst heraus zureichend verstehen läßt, sondern allein Christus dessen entscheidender hermeneutischer Zugang ist. Im Zuge der Entfaltung der modernen Theologie ist dieses Interpretationsverhältnis nun insofern umgekehrt worden, als die Bestimmung des Heilshandelns Jesu und diejenige des Seins Jesu selbst in einem lediglich linearen Kontinuum zum heilstheologischen Grundansatz des Alten Testament vorgenommen wird. Das heißt: Der geschilderte Präfigurationszusammenhang, der eine eigentümliche Komposition von Kontinuität und Diskontinuität bildet, wird in dieser neuen Hermeneutik aufgegeben. Das bedeutet indes nichts geringeres als den Verlust jener Übernatürlichkeitstheologie, die die kirchliche Auslegungstradition der Heiligen Schrift bis in die Liturgie hinein bislang prägte. Die hinter dieser Operation stehende Intention ist aber keineswegs eine spezifisch gesuchte Nähe zum Glauben Israels. Vielmehr wird die Alttestamentarisierung um einer allgemeinen Achsenverschiebung in der Bestimmung des eigentlichen Gegenstandes des christlichen Glaubens willen strategisch genutzt. Angestrebt wird ein innerweltlich orientiertes Christentum, dessen Fokus empirische, natürlich-sittliche, psychologische und politische Zusammenhänge sind. Wie in der Fastenansprache des Papstes erscheint Gott in diesem Horizont nur mehr als derjenige, der diese veränderte Welt durch unser Engagement hervorbringen und das diesseitige Leben verbessern will.
Kürzlich veröffentlichte der Blogger Caminante Wanderer einen Text mit dem Titel „Sie haben uns die Religion geraubt“.5 Wanderer bezieht sich unmittelbar auf den von Papst Franziskus kürzlich ernannten neuen Erzbischof von Buenos Aires, Jorge García Cuerva, der in einem auf der Webseite der argentinischen Bischofskonferenz erschienen Video einen Ostergruß formuliert. Dieser bischöfliche Sermon ist vor allem dadurch charakterisiert, daß er die theologische Bestimmung des Osterfestes unterschiedslos mit dem alttestamentlichen Exodus und Passahfest in eins fallen läßt. Wanderer konstatiert, daß der Bischof „den Herrn Jesus Christus mit keinem Wort (erwähnt). Er ist aus dem Horizont der Religion getilgt worden, weil Er politisch unkorrekt ist. Der Primas spricht nur noch von einem humanistischen Gott, dem Voltaire und die schärfsten Vertreter des Antichristentums, ohne zu zögern, zugestimmt hätten.“
Diese bischöfliche Ansprache ist eine der unzähligen Erscheinungen der geschilderten Naturalisierungstheologie. Es ist nur folgerichtig, daß der Bischof, der dem amtierenden Papst theologisch sehr nahe steht und nicht zufällig auf seinen Posten gekommen ist, nicht mehr vom stellvertretenden Sühnetod Christi, sondern allein von „Befreiung“ und der Heraufführung einer gerechteren Welt redet, die er im Auszug Israels aus Ägypten und in einem nun sehr vage gewordenen Sinne im Osterfest versinnbildlicht sieht.
Wie umfänglich sich diese Programmatik durch Papst Bergoglios katalysatorische Wirksamkeit in der Kirche schon hat implementieren lassen, erkennt man etwa auch an jenen ebenfalls emblematischen Vorgängen, die ich noch kurz erwähnen möchte. So hat der Cheforganisator des letztjährigen Weltjugendtreffens in Portugal, den Franziskus mittlerweile zum Kardinal gemacht hat, zum Besten gegeben, man wolle niemanden zu Christus und zur Kirche bekehren, sondern wesentlich sei allein, daß alle einfach so da und angenommen seien, wie sie es in ihrer natürlichen Daseinsverfassung eben sind. Der entscheidende Aspekt ist die natürliche, grenzenlose Geschwisterlichkeit, die, so Franziskus, den ekklesiologischen Inklusionismus impliziere, daß „alle, alle, alle“ dazugehören. Ähnlich spricht der neuernannte Bischof von Hongkong, der jede bekehrerische und missionarische, das heißt: jede christozentrische Ambition der Kirche leugnet und statt dessen davon handelt, man wolle nur die allumfassende, sich bedingungslos auf alle erstreckende göttliche Liebe und Barmherzigkeit verkündigen – so wie Jesus es angeblich getan habe.
Und da seit den Anfängen der Kirche die Mariologie eine Fakultät der Christologie ist, wird mittlerweile auch die Gottesmutter vom vatikanischen Chefmariologen Pater Stefano Cecchin entzaubert und, dem aktuellen Lehramt von Papst Franziskus folgend, an die heute herrschenden emanzipatorischen Parameter sowie an das transkulturelle Versöhnlichkeitsideal angeglichen. Insgesamt besteht das Wesentliche der Gestalten Jesu und Mariens nach des Paters Auffassung darin, uns jenseits beunruhigender Botschaften geschwisterlich als freundliche Modelle für ein glückliches und erfülltes Leben zu dienen.6 Der übernatürliche Kosmos, angefangen bei der Rede von der Gnadenmittlerschaft Mariens bis zur Theologie der Sühne, taucht hier substantiell nicht mehr auf. So erscheint in all diesen Phänomenen immer derselbe Grundvorgang der Naturalisierung und Säkularisierung ursprünglich übernatürlich verstandener theologischer Bestände, die denen längst peinlich geworden sind, die gerade dazu berufen wären, sie zu verkündigen und zu verteidigen.
Agere contra ecclesiam
Jorge Bergoglio einen Ideologen zu nennen, ist zwar eine korrekte Prädikation, stellt aber eine objektivierende Fremdzuschreibung dar. Man sollte niemals übersehen, daß sich Franziskus selber keineswegs als Ideologe, sondern vielmehr als Vollstrecker des göttlichen Willens versteht, als Gladius Dei, der gegen die von ihm ausgemachten Feinde des göttlichen Traumes vom gelobten Land zu Felde ziehen muß. Bekämpft werden müssen die pharaohaften, mit ihren eigensinnigen Wahrheitsansprüchen spaltenden „Indietristi“. Es ist nicht ohne Ironie: Jorge Bergoglio meint, eine göttliche Mission zu besitzen, und zwar eine solche, die gerade in der Abschaffung der Mission besteht. Bergoglio ficht den letzten aller Kriege, der gerade in der Ausmerzung der Feinde des Friedens, mithin der traditionenversessenen Feinde der universalen Geschwisterlichkeit besteht, und dieser Krieg zur Beendigung aller Wahrheitskonflikte und Ungleichheiten ist nach Carl Schmitt der grausamste von allen, denn er muß den Gegner der voraussetzungslosen, totalen Harmonie zum moralischen Ungeheuer erklären7. Es handelt sich um einen päpstlichen Dschihad, der allein das beständige Wüten gegen die Vertreter der religiösen Dogmatik erklären kann. Daß diese Vertreter die wahren Gegner Gottes sind, folgt zwingend aus der bergoglianischen Orthodoxie des natürlichen Brüderlichkeitsuniversalismus, die alles, was in der Kirche vormals als rechtgläubig galt, nunmehr als gottwidrige Häresie ansehen und auf dem Scheiterhaufen der Zärtlichkeit verbrennen muß.
Mir scheint, daß erst der Begriff Jorge Mario Bergoglios als dieser Gladius Dei dessen politische Akte zureichend erklären kann. Der theologische Vorwurf der Gegner dieses Pontifikates, daß Franziskus gegen die Kirche agiere, wird von Bergoglio selber, und zwar intentional ernsthaft, gegen seine Kritiker erhoben. Es handelt sich hier um jene „große Inversion“, von der Caminante Wanderer gesprochen hat.8 Deswegen bin ich nicht der Ansicht Erzbischof Viganòs, daß Jorge Bergoglio bei seiner Übernahme des Papstamtes den Konsens, mit diesem Amt das zu wollen, was die Kirche mit ihm will, persönlich verweigert habe. Keineswegs will Franziskus für die Kirche absichtsvoll etwas Schlechtes. Wäre das so, müßte Franziskus ja den korrekten Begriff prinzipiell noch voraussetzen. Das Gegenteil ist wahr: Er will für die Kirche, so wie er sie versteht, nur das Allerbeste, und dazu nutzt er die Möglichkeiten seines Amtes voll aus. Er will die Kirche gerade aus der Hand derjenigen retten, deren Glauben er mit Dom Hélder Câmara für nichts anderes als einen ideologischen Überbau hält, eine antijesuanische Erfindung von elitären, rigoristischen Leuten, die gern in barocken Welten schweben, statt sich, wie es das Evangelium ja in der Lesart der universalen Geschwisterlichkeitstheologie vorgeblich fordert, um den globalen Sozialismus, die Förderung schwuler Verhältnisse, den Umweltschutz und den Klimawandel sowie die möglichst vielzählige Verschiffung von muslimischen Migranten nach Europa zu kümmern.
Umgekehrt wird vor diesem Hintergrund aber nicht nur einsichtig, warum Franziskus so vehement gegen Leute wie Kardinal Burke oder Bischof Strickland zu Felde zieht, während die Bischöfe Georg Bätzing und Franz-Josef Overbeck noch immer im Amt sind und ihre Agenda im Grunde ungehindert umsetzen können, sondern es plausibilisiert sich auch der Schulterschluß des Papstes mit den globalen Finanzeliten. Kürzlich hat José Arturo Quarracino einen Text publiziert, in dem er, wie mir scheint zutreffend, darauf hinweist, daß Franziskus kein Peronist, sondern vielmehr ein Parteigänger der Globalisten wie Georg Soros sei.9 Dafür sprechen nicht nur die diversen politischen Akte bis hin zu den einschlägigen Berufungen in die päpstlichen Akademien, sondern vor allem die bergoglianische Theologie selber. Ob Bergoglio die globalistischen Eliten richtig einschätzt, sei dahingestellt. Offenkundig geht er aber davon aus, daß diese Leute mit ihren weltumspannenden Programmen des inklusiven Kapitalismus, der ökologischen Wende, des Klimaschutzes, der Überwindung nationaler Grenzen, der Förderung einer One-world-Religion usf. genau an jenem Projekt mitarbeiten, das seine eigene universale Geschwisterlichkeitstheorie und sein Verständnis der Kirche als Sachwalterin des „gelobten Landes“ dieser natürlichen Geschwisterlichkeit formuliert.
Der verabschiedete Christus
Nimmt man die Aussagen des Papstes ernst, ist der Schluß unvermeidbar, daß es in seinem geistigen Kosmos jenes übernatürliche Sein in Christus nicht mehr gibt, für das die Märtyrer in den Tod gingen, die Missionare, angefangen bei Paulus, unter härtesten Entbehrungen die Welt bereisten, das zugleich die Einsiedler der Welt den Rücken zukehren ließ und das kontemplative Ordensleben begründete, das das sakramentale priesterliche Amt sowie die Liturgien und großartigen Kirchenarchitekturen hervorbrachte, in denen sich der übernatürliche Lebenszusammenhang vermittelt und feiert. Das bedeutet aber ebenso unvermeidlich, daß es für Jorge Bergoglio nicht nur die Kirche als den mystischen Leib Christi, sondern grundlegend den Christus selber nicht mehr gibt.
Eugenio Scalfari hatte nach einem seiner Interviews mit Franziskus – vom Vatikan undementiert – behauptet, der Papst würde nicht an die Gottheit Jesu Christi glauben. Ich halte es im Kontext der tatsächlich verifizierbaren Aussagen Jorge Bergoglios für hoch plausibel, daß Scalfari hier korrekt zitierte. Wie sollte Franziskus auch an die Gottheit Jesu glauben können, wenn es doch gerade dieses theologische Prädikat ist, das entscheidenderweise die Theologie der universalen natürlichen Brüderlichkeit jenseits sekundärer religiöser Traditionen verunmöglicht?
Wenn Jesus der Christus, die inkarnierte zweite göttliche Person ist, dann kann sein Wirken auf gar nichts anderes abzielen als auf die Konstitution jenes übernatürlichen Lebenszusammenhanges, der in der durch die heiligmachende Gnade eröffneten mystischen Einheit mit ihm selber besteht. Dann ist er selbst, und zwar er allein in Person, die göttliche Wahrheit, dann ist sein Tod ein stellvertretender Sühneakt zur Ermöglichung gerade dieser Einheit, dann entscheidet sich die Frage des ewigen Heils und Unheils allein an ihm, dann ist er selber der zentrale Gegenstand der Anbetung, dann muß sich jedes Knie vor ihm beugen. Wenn er der Christus ist, dann sind die Sakramente als sein eigenes Handeln am Menschen zum Heil unabdingbar, dann ist die Kirche sowohl die zentrale Heilsmittlerin als auch die übernatürliche Communio mit Christus selber, dann muß es Mission geben, die darauf abzielt, alle Menschen zu ihm als dem Christus zu bekehren. Ist er der Christus, dann kann es keine kirchliche Gottesrede ohne Christologie geben, weil er ja der einzige Weg zur Gottheit ist, die sich nur in ihm in ihrem inneren Lebensgeheimnis offenbart und zugänglich macht. Wenn er der Christus ist, dann ist Maria Gottesgebärerin und hat als alleinigen Auftrag, zu ihrem Sohn hinzuführen.
Mit diesem Christus ist keine One-world-Religion zu machen, er sperrt sich in seinem absolutistischen Selbstanspruch gegen jede Relativierung. Er ist schlechterdings unvergleichlich. Kurz: Wenn Jesus der Christus ist, dann sind all die Artikulationen, angefangen bei Jorge Bergoglios zitierten Sätzen bis zu den unzähligen Statements der bergoglianischen Bischöfe, logisch unmöglich. Was umgekehrt heißt, daß diese Statements, sofern die Herren noch einigermaßen bei Verstand sind, die bewußte, wenn auch explizit uneingestandene Negation der klassischen Christologie voraussetzen. Darüber kann die ganze Barmherzigkeitsrhetorik und scheinbare Jesus-Nähe in der bergoglianischen Deutung des Neuen Testamentes nicht hinwegtäuschen. Im Grunde erscheint Jesus in diesen Exegesen – wie schon bei Goethe – als der maßgebliche Gegner des Christus.
Damit haben wir einen erschütternden Befund vor uns gebracht. Im Unterschied zu Päpsten wie Johannes XXII. oder Honorius, die einzelne Elemente der kirchlichen Dogmatik falsch verstanden, besitzt Franziskus die Chuzpe, sich über das Ganze der kirchlichen Tradition herzumachen und das Vorzeichen vor dem Gesamten zu ändern. Damit bricht die katholische Kirche vollständig in sich zusammen. Die Kirche des Jorge Bergoglio hat mit der, von der die Tradition handelt, substantiell nichts mehr zu tun, sie ist in der Sache etwas radikal anderes.
Aus Sicht der ursprünglichen Kirche dürfte Franziskus die natürliche Brüderlichkeitskategorie der Tradition der Kirche niemals überordnen, weil er damit nur einen Zusammenhang verstetigen will, den Paulus – explizit auch im Blick auf Interpersonalitätsfragen – die „schemata tou kosmou toutou“ (1 Kor 7,31) nennt. Diese Gestalten der alten Welt sind aber von Gott dazu bestimmt, in Christus zu jenem übernatürlichen Brüderlichkeitszusammenhang, das heißt zu jener neuen Schöpfung zu werden, die die katholische Kirche in ihren sakramentalen Vollzügen vermittelt und in intenso selber bereits ist. Nur sie ist das „gelobte Land“. Das Wirken eines Papstes müßte mit aller Kraft genau auf diese Dimension ausgerichtet sein. Während Gott selber damit befaßt ist, in der übernatürlichen Gnade den Menschen zu vergöttlichen und einen neuen Himmel und eine neue Erde hervorzubringen, fokussiert sich der bornierte päpstliche Blick auf die alte Welt und degradiert die neue, von der die kirchliche Tradition seit zwei Jahrtausenden handelt, zu einer Sache sekundärer Relevanz. Das ist wirklich grotesk.
Zugleich muß die Kirche den Papst darauf aufmerksam machen, daß die Dekonstruktion der Mission, die vom Papst der Proselytenmacherei verdächtigt wird, den Menschen auf die alte Welt fixiert, ihm also inhumanerweise jene übernatürliche Sphäre vorenthält, auf die er doch zur Erfüllung seiner Menschlichkeit gerade hingeordnet ist. Die natürliche Brüderlichkeitstheologie stillt den besprochenen „appetitus innatus“, also jenen eigentlichen Hunger nicht, der dem Menschen als Menschen zu eigen ist. Deswegen liebt nur die klassische Mission der Kirche den Menschen wirklich.
Allerdings müssen wir uns nunmehr, nach langen Verdrängungs- und Beschönigungsversuchen, endlich eingestehen, daß die theologische Traditionslinie, in der Franziskus steht, schon immer genau diese Transmutation beabsichtigte.
Es wäre im übrigen ein wichtiges Unterfangen, genau zu untersuchen, welche Rolle die drei relevanten Vorgängerpäpste in diesem Geschehen tatsächlich spielen. Das ist, vor allem im Blick auf Josef Ratzinger, viel komplexer, als es die konservativen Idolatrien Benedikts wahrhaben möchten. Man muß sich nur die Frage stellen, wie es erklärbar ist, daß nach dem deutlich über drei Jahrzehnte währenden Gemeinschaftspontifikat von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. unmittelbar das passieren konnte, was wir nun schon seit elf Jahren erleiden. Das kann nicht nur mit personalpolitischen Fehlentscheidungen und mangelndem psychologischem Judiz zusammenhängen.
Wie auch immer: Die Kirche hat einen Zustand erreicht, in dem der Christus nicht nur vielen Amtsträgern anstößig und peinlich geworden ist. Der Geist des übernatürlichen Mysteriums ist – unter heftiger päpstlicher Assistenz – aus der Kirche weitflächig gewichen, sie ist zu einem Saustall verkommen. Diese Verleugnung durch seine eigene Kirche wird sich der Herr nicht gefallen lassen.
*Vigilius, der Autor dieses Beitrags, wird ab Mai 2024 zusammen mit anderen Autoren den Blog www.einsprueche.com starten, auf dem regelmäßig Essays zu theologischen und philosophischen Themen erscheinen sollen.
Bild: Katholisches.info/KI-generiert
1 Tony Palmer, The Miracle of Unity Has Begun. Bishop Tony Palmer & Pope Francis, in: Youtube, 28.02.2024
2 José Arturo Quarracino, Das politische Engagement von Jorge Mario Bergoglio ad maiorem Soros’ gloriam, in: Katholisches.info, 31.01.2024.
3 Vgl. dazu Rupert Johannes Mayer, Zum desiderium naturale visionis Dei nach Johannes Duns Scotus und Thomas de Vio Cajetan: Eine Anmerkung zum Denken Henri De Lubacs, in: Angelicum 85 (2008), 737–763
4 Striet exemplifiziert das hier dargestellte theologische Gefälle hervorragend. Von der klassischen Christologie der Kirche ist bei Striet nichts mehr zu finden. In den öden Strietschen Theorieversuchen wird sie, wie überhaupt alle traditionalen Überzeugungen, ins aufklärerische Flachland eingeebnet. Vgl. bspw. Walter Homolka, Magnus Striet, Christologie auf dem Prüfstand, Jesus der Jude – Christus der Erlöser, Freiburg 2019
5 Caminante Wanderer: Nos robaron la religión, in: Caminante Wanderer, 01.04.2024.
6 Giuseppe Nardi, „Bestimmte Bilder von Maria sind heute nicht mehr nachvollziehbar“. Ein Interview mit Pater Stefano Cecchin von der Päpstlichen Marianischen Akademie und der Beobachtungsstelle für Marienerscheinungen, in: Katholisches.info, 16.10.2023.
7 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 92015, 35.
8 Caminante Wanderer, La gran inversión, in: Caminante Wanderer, 02.10.2023.
9 José Arturo Quarracino, Das politische Engagement von Jorge Mario Bergoglio ad maiorem Soros’ gloriam, in: Katholisches.info, 31.01.2024.