Der große Verlust oder das Pontifikat des Jorge Mario Bergoglio

Der bergoglianische Brüderlichkeitsuniversalismus


Der Kosmos grenzenloser Geschwisterlichkeit von Papst Franziskus. Eine Analyse seines Denkens und seines daraus folgenden Handelns.
Der Kosmos grenzenloser Geschwisterlichkeit von Papst Franziskus. Eine Analyse seines Denkens und seines daraus folgenden Handelns.

Unter dem Pseud­onym Vigi­li­us führt der Autor eine bemer­kens­wer­te neue Per­spek­ti­ve in die Kri­tik des der­zei­ti­gen Pon­ti­fi­kats ein und legt die­se in einer mes­ser­schar­fen Ana­ly­se vor. Die­se neue Per­spek­ti­ve, die inter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit ver­dient, muß in ihrer Schluß­fol­ge­rung erschüt­tern. In der Ver­gan­gen­heit wur­de ansatz­wei­se und in gro­ben Zügen bereits in eine ähn­li­che Rich­tung gedacht, doch das Erkann­te ließ offen­sicht­lich vie­le zurück­schrecken. Der Autor hat die­sen Schau­der nicht nur über­wun­den, son­dern ist der Fra­ge syste­ma­tisch und kon­se­quent nach­ge­gan­gen und hat das Erkann­te als neu­en Ansatz in der Beur­tei­lung des aktu­el­len Pon­ti­fi­kats auch aus­for­mu­liert. Dabei geht es um nichts weni­ger als die Exi­stenz der Kir­che. Vigi­li­us wird mit ande­ren Autoren ab Mai zu theo­lo­gi­schen und phi­lo­so­phi­schen The­men auf dem neu­en Blog www​.ein​sprue​che​.com ver­öf­fent­li­chen. Wir dür­fen also auf wei­te­re bemer­kens­wer­te Tex­te gespannt sein und wün­schen dem neu­en Pro­jekt alles Gute.

Der große Verlust oder das Pontifikat des Jorge Bergoglio

Anzei­ge

Von Vigi­li­us*

Das Pon­ti­fi­kat Jor­ge Berg­o­gli­os ist durch viel­zäh­li­ge Ambi­va­len­zen cha­rak­te­ri­siert. So redet der Papst gegen die woke Ideo­lo­gie, emp­fängt aber fort­wäh­rend Repä­sen­tan­ten eben die­ses Milieus, er nennt Abtrei­bung Mord und läßt gleich­zei­tig sei­nen Kuri­en­erz­bi­schof Paglia zu die­sem gra­vie­ren­den Casus sehr ver­hal­te­ne Stel­lung­nah­men ver­brei­ten, schickt kri­ti­sche Brie­fe an den Syn­oda­len Weg und läßt, wäh­rend er Bischof Strick­land absetzt, bei den Deut­schen schließ­lich doch alles lau­fen, äußert sich reli­gi­ons­re­la­ti­vi­stisch und nimmt das dann wie­der zurück, gibt Euge­nio Scal­fa­ri meh­re­re Inter­views theo­lo­gisch äußerst dubio­sen Inhal­tes, wäh­rend er Kate­che­sen hält, die gegen­läu­fi­ge Posi­tio­nen for­mu­lie­ren – usf.

Die­se Ambi­gui­tä­ten und der Umstand, daß der Papst sei­nen lehr­amt­li­chen Pri­mat noch nie for­mell für die For­mu­lie­rung einer Häre­sie in Anspruch nahm, haben im kon­ser­va­ti­ven Lager viel­fach für Ver­wir­rung gesorgt und – neben dem Bedürf­nis, das päpst­li­che Amt nicht zu beschä­di­gen – die Nei­gung beför­dert, bei aller Kri­tik an ein­zel­nen Punk­ten doch schein­bar dif­fe­ren­ziert zu blei­ben. Eines der häu­fig gehör­ten Rela­ti­vie­rungs­nar­ra­ti­ve lau­tet, daß Fran­zis­kus von sprung­haf­ter Natur, pri­mär poli­tisch und prak­tisch aus­ge­rich­tet, zudem über­haupt kein syste­ma­tisch-theo­re­ti­scher Kopf und im übri­gen von schlech­ten Bera­tern umge­ben sei.

Nun will ich nicht in Abre­de stel­len, daß es die­se Wider­sprüch­lich­kei­ten und Unge­reimt­hei­ten gibt. Gleich­wohl bin ich nicht der Ansicht, daß in die­sem Pon­ti­fi­kat kei­ne Syste­ma­tik ent­deckt wer­den könn­te. Es mag in der Per­sön­lich­keit des Pap­stes sel­ber Unklar­hei­ten und immer wie­der auf­tau­chen­de tra­di­tio­na­le Erin­ne­rungs­be­stän­de sowie irri­tie­rend diver­gen­te vati­ka­ni­sche Ver­laut­ba­run­gen geben. Ich möch­te die Fra­ge offen­las­sen, ob und in wel­chem Umfang die merk­wür­di­gen Inko­hä­ren­zen geplant-tak­ti­scher Natur sind, um die Kon­ser­va­ti­ven immer mal wie­der zu beru­hi­gen und den Wider­stand gegen die­ses Pon­ti­fi­kat ein­zu­he­gen. Ver­mut­lich ist das gele­gent­lich der Fall. Ins­ge­samt scheint es mir aber weit eher so, daß es ech­te Wirr­nis­se sind, aber von der Art, daß sie nicht ein­fach­hin auf­grund einer feh­len­den orga­ni­sie­ren­den Mit­te pas­sie­ren, son­dern gera­de die intrin­si­sche Fol­ge jener von mir ange­nom­me­nen Syste­ma­tik dar­stel­len, die das Sein der Kir­che völ­lig neu bestim­men will und deren näch­ste Fol­gen in einer so alten Insti­tu­ti­on wie der katho­li­schen Kir­che chao­tisch sein müssen.

Es ist signi­fi­kant, daß Fran­zis­kus sel­ber mehr­fach gesagt hat, er wol­le alles durch­ein­an­der­brin­gen. Das Cha­os ist aber kein Selbst­zweck, son­dern sowohl unum­gäng­li­che Fol­ge der Revo­lu­ti­on als auch deren Selbst­rea­li­sie­rungs­mit­tel. So gibt es gewis­ser­ma­ßen unter­halb der moment­haft auf­schei­nen­den tra­di­tio­na­len Relik­te einen revo­lu­tio­nä­ren Haupt­strom, ein gei­sti­ges Grund­ge­fäl­le, das die – mal mehr, mal weni­ger offen zu Tage tre­ten­de – eigent­li­che Defi­ni­ti­ons­mit­te der berg­o­glia­ni­schen Ära bil­det. Man darf sich von Doku­men­ten wie „Digni­tas infi­ni­ta“ nicht blen­den lassen.

„Jeder gro­ße Gedan­ke ist unge­recht“ sagt Nicolás Gómez Dávila. Das ist er des­we­gen, weil man natür­lich immer noch mehr dif­fe­ren­zie­ren, wei­te­re Akzen­tu­ie­run­gen, Nuan­cen und Ambi­gui­tä­ten rekla­mie­ren könn­te. Gleich­wohl hebt sei­ne kon­sti­tu­tio­nel­le Unge­rech­tig­keit die grund­sätz­li­che Wahr­heit des Gedan­kens nicht auf. Außer­dem benö­ti­gen wir sol­che Gedan­ken, da wir ohne sie die Über­sicht und uns im Dickicht jenes Distink­ti­ons­ei­fers ver­lö­ren, der im aka­de­mi­schen Feld weit ver­brei­tet ist und durch­aus so lan­ge zu dif­fe­ren­zie­ren ver­mag, bis das Phä­no­men ver­schwun­den ist und man gar nichts mehr sieht. Es ist die Auf­ga­be des Den­kens, das Phä­no­men mög­lichst trenn­scharf zu machen.

Im Fol­gen­den möch­te ich mich mit der berg­o­glia­ni­schen Syste­ma­tik beschäf­ti­gen, von deren Exi­stenz ich über­zeugt bin. Damit soll kei­nes­wegs gesagt sein, Fran­zis­kus sei ein bedeu­ten­der Theo­lo­ge. Das ist er sicher nicht, in Wahr­heit hat Jor­ge Berg­o­glio nie­mals irgend­wel­che Sät­ze von Rang for­mu­liert. Das ein­drucks­voll­ste Merk­mal sei­nes Pon­ti­fi­ka­tes besteht ein­zig in der Pene­tranz, mit der er, skru­pel­los und selbst­ge­wiß, wie es nur medio­kre Gei­ster zu sein ver­mö­gen, ein altes, kei­nes­wegs von ihm erfun­de­nes Pro­jekt der Voll­endung zutreibt. Iro­ni­scher­wei­se besteht genau in die­ser kata­ly­sa­to­ri­schen Wirk­sam­keit sei­ne bedau­erns­wer­te histo­ri­sche Bedeu­tung, die wie ein düste­rer Fluch blei­bend auf sei­nem Andenken lasten wird.

Fratelli tutti

Es gibt aus der Anfangs­pha­se sei­nes Pon­ti­fi­ka­tes eine bemer­kens­wer­te klei­ne Anspra­che von Fran­zis­kus, die er sei­nem Freund, dem 2014 töd­lich ver­un­glück­ten angli­ka­nisch-epi­skopa­len Geist­li­chen Tony Pal­mer auf des­sen Han­dy gespro­chen hat, damit Pal­mer eben die­se Bot­schaft den Teil­neh­mern eines pen­te­ko­sta­lisch gepräg­ten Kon­gres­ses prä­sen­tie­ren konn­te1. Zu Beginn die­ses sich als spon­tan gerie­ren­den, gleich­wohl syste­ma­tisch durch­kon­zi­pier­ten Vide­os ent­schul­digt sich der Papst dafür, nicht Eng­lisch, son­dern Ita­lie­nisch zu spre­chen, um mit dem geziel­ten sen­ti­men­ta­len Kate­go­rien­wech­sel anzu­schlie­ßen, er wol­le über­haupt nicht Eng­lisch oder Ita­lie­nisch, son­dern „herz­er­füllt“ mit „der Gram­ma­tik der Lie­be“ sprechen.

Die­se Sache ist bril­lant insze­niert. An die Stel­le ratio­nal-distink­ti­ver theo­lo­gi­scher Begrif­fe, die um der Wahr­heits­fra­ge wil­len einen argu­men­ta­ti­ven Streit und damit legi­ti­me Geg­ner­schaft ermög­li­chen könn­ten, tritt die Gefühls­ebe­ne, die ein geschick­tes tak­ti­sches Manö­ver ist, mit dem mög­li­che Wider­sa­cher der von Fran­zis­kus ver­tre­te­nen inhalt­li­chen Posi­ti­on a prio­ri dele­gi­ti­miert und aus dem Feld geschla­gen wer­den. Das umstands­los vom Red­ner eta­blier­te emo­tio­na­li­sier­te Koor­di­na­ten­sy­stem eröff­net näm­lich einen hoch­mo­ra­li­schen Dis­kurs, in dem alle Ein­wän­de sogleich als hart­her­zig und ver­let­zend erschei­nen müs­sen. Fran­zis­kus bestimmt selbst noch für sei­ne Geg­ner die Spiel­re­geln. Zugleich ent­spricht die­ser „Her­zens­re­de“ prä­zi­se das vor­ge­tra­ge­ne Kern­an­lie­gen, das durch die gewähl­te rhe­to­ri­sche Metho­de zugleich abge­si­chert und rea­li­siert wird: gren­zen­über­schrei­ten­de Ein­heit und bedin­gungs­lo­se Brü­der­lich­keit. Bei­des, so bekun­det der Bischof von Rom, rea­li­sie­re er bereits mit dem von ihm expli­zit so genann­ten „Bischof-Bru­der Tony Pal­mer“. In die­sem Sze­na­rio kann der Kri­ti­ker der­ar­ti­ger Ein­heits­em­pha­sen nichts ande­res mehr als ein Böse­wicht sein. In sei­ner Ver­här­tung miß­ach­tet er die von Papst Fran­zis­kus aus­drück­lich bekun­de­te „Sehn­sucht nach Umar­mung“ der ander­skon­fes­sio­nel­len Brü­der, um jene theo­lo­gi­schen Unter­schei­dun­gen vor­zu­zie­hen, die der Papst aus­drück­lich und dif­fe­ren­zie­rungs­frei als sün­di­ge Tren­nun­gen identifiziert.

Im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner von der Gram­ma­tik der Lie­be bestimm­ten Rede kommt der Papst auf die alt­te­sta­ment­li­che Josefsge­schich­te zu spre­chen, die das orga­ni­sie­ren­de Zen­trum sei­ner gan­zen Anspra­che bil­det. Josefs Brü­der gehen, von Hun­ger getrie­ben, nach Ägyp­ten, um sich Brot zu kau­fen. Ihr Geld, so merkt Fran­zis­kus mit bedeu­tungs­schwe­rer Mie­ne an, kön­nen sie ja nicht essen. Dann aber fin­den sie etwas noch viel Wich­ti­ge­res als das Brot, näm­lich die Wie­der­ver­ei­ni­gung mit dem Bru­der. „Wir alle haben Geld“, sagt Fran­zis­kus, „das Geld unse­rer Kul­tur, unse­rer Geschich­te, wir haben eine Men­ge kul­tu­rel­ler Reich­tü­mer, reli­giö­ser Reich­tü­mer, und wir haben ver­schie­de­ne Tra­di­tio­nen.“ Und jetzt kommt die gro­ße Gegen­über­stel­lung: „Aber wir haben uns zu begeg­nen als Brü­der.“ Es sind, so der Papst, die gemein­schafts­sehn­süch­ti­gen „Trä­nen der Lie­be“, die uns zuein­an­der füh­ren und die viel bedeu­ten­der sind als die genann­ten sekun­dä­ren Reich­tü­mer der par­ti­ku­la­ren reli­giö­sen Tra­di­tio­nen, die die unei­gent­li­che Sphä­re der theo­lo­gi­schen Wahr­heits­fra­gen und ent­spre­chen­den Kon­fli­kli­ni­en bil­den. Prä­zi­ser for­mu­liert: Die „Trä­nen der Lie­be“ machen uns nicht aller­erst zu Brü­dern, son­dern las­sen uns den unter den dok­tri­nä­ren Sät­zen der Par­ti­ku­lar­tra­di­tio­nen ver­deck­ten eigent­li­chen Schatz ent­decken, daß wir immer schon Brü­der sind.

Damit ist das schlich­te und gleich­wohl äußerst fol­gen­rei­che Grund­axi­om der berg­o­glia­ni­schen Welt­sicht for­mu­liert. Sie wird von der Idee beherrscht, daß die uni­ver­sa­le Brü­der­lich­keit jen­seits sekun­dä­rer reli­giö­ser Tra­di­tio­nen das für die Sitt­lich­keit und das kon­kre­te poli­ti­sche Han­deln, aber auch das für die Theo­lo­gie und die geist­li­che Pra­xis der Ein­zel­nen sowie der gesam­ten Kir­che bedeu­tend­ste Prin­zip über­haupt sei.

Wäh­rend sei­ner bis­he­ri­gen Amts­zeit hat Papst Fran­zis­kus die Leit­ka­te­go­rie der uni­ver­sa­len Brü­der­lich­keit um den Aspekt der öko­lo­gi­schen Ver­ant­wor­tung für „Mut­ter Erde“ erwei­tert. Bei­de Moti­ve bil­den aber nur zwei Sei­ten der einen Medail­le. In sei­nen bei­den Schrif­ten „Lau­da­to Si’“ und „Lau­da­te Deum“ rückt die Sor­ge um den Pla­ne­ten in den zen­tra­len Fokus der kirch­li­chen Auf­merk­sam­keit. Noch ein­mal von dem gra­vie­ren­den Pro­blem abge­se­hen, daß sich der Papst hier zum Sach­wal­ter bestimm­ter, wis­sen­schaft­lich durch­aus umstrit­te­ner öko­no­mi­scher sowie kli­ma­öko­lo­gi­scher Posi­tio­nen macht und damit den prä­zi­se umgrenz­ten Bezirk lehr­amt­li­cher Kom­pe­tenz defi­ni­tiv über­schrei­tet, ver­sucht Fran­zis­kus, dem öko­lo­gi­schen Para­dig­ma – weit über des­sen bloß natür­lich-ethi­sche Rele­vanz hin­aus – theo­lo­gi­sche Zen­tra­li­tät zu verleihen.

Aus die­sem Grun­de sind die berühm­ten Ein­las­sun­gen des Pap­stes bei einem Foko­la­re­tref­fen, das den inter­na­tio­na­len Akti­ons­tag zur Sen­si­bi­li­sie­rung gegen Umwelt­ver­schmut­zung, „earth-day“ genannt, fei­er­lich zele­brier­te, auch so bedeut­sam. Wenn Fran­zis­kus hier ver­kün­det, unse­re gemein­sa­me Mensch­lich­keit bil­de die ent­schei­den­de Grö­ße, der gegen­über gel­te: „‘Ich aber gehö­re zu die­ser Reli­gi­on, oder zu jener ande­ren …‘ Das ist nicht wich­tig!“ 2, dann ist die­ser Satz nicht des­we­gen bemer­kens­wert, weil er behaup­tet, unter der Rück­sicht des Kamp­fes gegen die Umwelt­ver­schmut­zung sei die kon­kre­te Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit unbe­deu­tend. Das wäre tri­vi­al. Er ist viel­mehr des­we­gen rele­vant, weil Jor­ge Berg­o­glio, und zwar unzwei­deu­tig, grund­le­gend davon aus­geht, daß der Kampf gegen die Umwelt­ver­schmut­zung als Inte­gral des Kamp­fes für eine bes­se­re, will sagen: eine sozia­li­sti­sche Brü­der­lich­keits­welt das wich­tig­ste Anlie­gen der Reli­gi­on über­haupt sei und des­we­gen, kon­se­quen­ter­wei­se, die son­sti­gen Unter­schie­de der reli­giö­sen Tra­di­tio­nen von mar­gi­na­ler Rele­vanz seien.

Der Ein­satz für die als theo­lo­gi­schen Kern­be­stand des kirch­li­chen Selbst­ver­ständ­nis­ses eta­blier­te Idee der uni­ver­sa­len Brü­der­lich­keit jen­seits reli­giö­ser Par­ti­ku­lar­tra­di­tio­nen, die um den sozi­al-öko­lo­gi­schen Welt­trans­for­ma­ti­ons­ge­dan­ken ange­rei­chert wur­de, bil­det die Defi­ni­ti­ons­mit­te des berg­o­glia­ni­schen Uni­ver­sums. Sie ist in den Augen Jor­ge Berg­o­gli­os gewis­ser­ma­ßen der arti­cu­lus stan­tis et caden­tis eccle­siae, der die Exi­stenz der Kir­che über­haupt erst recht­fer­tigt. Die Impli­ka­te die­ser para­doxa­len Posi­ti­on – daß das Wesen einer Par­ti­ku­lar­tra­di­ti­on dar­in bestehe, sich gera­de sel­ber, also die dif­fe­ren­tia spe­ci­fi­ca, als eine sol­che in ein Umgrei­fen­de­res zu rela­ti­vie­ren und damit auf­zu­he­ben – sind für die katho­li­sche Kir­che so unge­heu­er­lich, daß wir sie in einem näch­sten Schritt eigens beleuch­ten müs­sen. Zunächst gilt es aber, das Phä­no­men über­haupt zurei­chend sicht­bar zu machen.

Wie wenig über­trie­ben die Behaup­tung die­ser Defi­ni­ti­ons­mit­te ist, zeigt sich dar­an, daß sie sich wäh­rend des gesam­ten Pon­ti­fi­ka­tes sogar in der Wei­se durch­ge­hal­ten hat, daß sie – nicht zuletzt unter poli­ti­schen Rück­sich­ten – immer stär­ker als alles imprä­gnie­ren­des Prin­zip her­vor­ge­tre­ten ist. Jüng­stes Bei­spiel ist die aktu­el­le Fasten­bot­schaft des Pap­stes, mit der er, wie vor zehn Jah­ren alle­go­risch in den ori­en­ta­li­schen Raum zurück­keh­rend, die Befrei­ung Isra­els aus der Skla­ve­rei Ägyp­tens inter­pre­tiert. Der Text, des­sen Lek­tü­re ein wah­res Buß­werk genannt wer­den kann, trägt den Titel „Durch die Wüste führt Gott uns zur Freiheit“.

Man ahnt schon alles, und man ahnt rich­tig. Der Pha­rao und das Skla­ven­haus ste­hen für jene „erdrücken­den Bin­dun­gen“, die „die Geschwi­ster­lich­keit, die uns ursprüng­lich mit­ein­an­der ver­bin­det“, ver­leug­nen, wäh­rend die­se Geschwi­ster­lich­keit sel­ber das „gelob­te Land“ bil­det. Da ist sie wie­der, die „fra­ter­ni­tà uni­ver­sa­le“, die auf der vati­ka­ni­schen Web­sei­te sel­ber mit „Geschwi­ster­lich­keit“ ins Deut­sche über­setzt wird und die den arti­cu­lus stan­tis et caden­tis eccle­siae berg­o­gli­en­sis bil­det. Dem­entspre­chend dechif­friert Fran­zis­kus die Sehn­sucht der mur­ren­den Israe­li­ten nach den Fleisch­töp­fen Ägyp­tens und die dar­in nach­wir­ken­de Herr­schaft des Pha­rao als Wunsch zur Rück­kehr in „erdrücken­de Bin­dun­gen“, wel­cher Wunsch mit jener „Glo­ba­li­sie­rung der Gleich­gül­tig­keit“ iden­tisch ist, die von Fran­zis­kus, dar­an erin­nert der Papst aus­drück­lich, auf sei­ner Rei­se zu den Migran­ten in Lam­pe­du­sa kri­ti­siert wurde.

In der Fasten­zeit geht es nach Jor­ge Berg­o­glio nun dar­um, den – mehr­fach als sol­chen bemüh­ten – „Traum des gelob­ten Lan­des“ gegen ein „Wachs­tums­mo­dell, das uns spal­tet“, und „die Erde, das Was­ser und die Luft ver­un­rei­nigt“, zur Gel­tung zu brin­gen. Das dem gelob­ten Land ent­ge­gen­ge­setz­te Reich des Pha­rao wird aber nicht nur durch öko­no­mi­sche Bin­dun­gen und öko-ethi­sche Fehl­hal­tun­gen bestimmt, son­dern min­de­stens eben­so sehr durch jene Bin­dun­gen, die sich auf je „unse­re Posi­ti­on“, „Tra­di­ti­on“ oder sozi­al-kul­tu­rel­le Grup­pe bezie­hen. Die „Fasten­zeit“ soll uns die­se zu Ungleich­hei­ten füh­ren­den par­ti­ku­la­ren Bezie­hun­gen erken­nen las­sen, damit wir sodann die öko­no­mi­sche, sozia­le und reli­gi­ös-tra­di­tio­nel­le „Sicher­heit des bereits Gese­he­nen“ zugun­sten des Aus­zugs in die neue Welt der „welt­wei­ten Geschwi­ster­lich­keit“ preisgeben.

Die­ser Traum von der „neu­en Welt“ und „neu­en Mensch­heit“, die sich nicht mehr „an Geld, an bestimm­te Pro­jek­te, Ideen, Zie­le, an unse­re Posi­ti­on, an eine Tra­di­ti­on oder sogar bestimm­te Men­schen bin­det“, ist nach Jor­ge Berg­o­glio nichts gerin­ge­res als der „Traum Got­tes“ selbst vom „Gelob­ten Land, auf das wir zuge­hen, wenn wir aus der Skla­ve­rei aus­stei­gen“. Gott träumt den sozia­li­sti­schen Wie­der­ent­deckungs- und Wie­derweckungs­traum der immer schon exi­stie­ren­den uni­ver­sa­len Brü­der­lich­keit, in der das „Dun­kel der Ungleich­hei­ten“ ver­trie­ben wird und alle zu „Weg­ge­fähr­tin­nen und Weg­ge­fähr­ten“ wer­den. Es ist ein Traum, in dem exklu­si­vi­sti­sche Wahr­heits­an­sprü­che, reli­giö­se Dog­ma­ti­ken, distink­ti­ve reli­giö­se Gemein­schafts­iden­ti­tä­ten sowie alle umgrenz­ten Kul­tur- und Volks­zu­ge­hö­rig­kei­ten ihre vor­geb­lich erdrücken­de Bin­dungs­kraft ver­lo­ren haben. Frei­heit ist dem­ge­gen­über bestimmt als das Sein jen­seits der Fes­seln der Par­ti­ku­la­ri­tät, als Iden­ti­tät mit dem All­ge­mei­nen des Kos­mos gren­zen­lo­ser Geschwisterlichkeit.

Das Gelob­te Land rea­li­siert sich pro­zeß­haft, wir müs­sen uns dafür mit allen Kräf­ten ein­set­zen und unse­re als ego­istisch gel­ten­den Fixie­run­gen auf Par­ti­ku­la­riden­ti­tä­ten über­win­den. Das bedeu­tet nicht zuletzt, daß wir gegen unse­re Ver­su­chung kämp­fen müs­sen, auf­grund von Sicher­heits­be­dürf­nis­sen ein bestimm­tes Glau­bens­be­kennt­nis jen­seits der immer schon exi­stie­ren­den uni­ver­sa­len Brü­der­lich­keit abso­lut zu set­zen. Die päpst­li­che Geschwi­ster­lich­keits­theo­rie macht es unum­gäng­lich, daß sich ihr alle theo­lo­gi­schen Bestän­de unter­wer­fen und ent­spre­chend neu­de­kli­niert wer­den müs­sen. Auch muß sich jedes Mär­ty­rer­tum um eines Glau­bens­be­kennt­nis­ses wil­len eben­so auf­lö­sen wie jede auf ein spe­zi­fi­sches Glau­bens­be­kennt­nis bezo­ge­ne Mis­si­on; bei­des wird zu den Kate­go­rien des „sozia­len Enga­ge­ments“ und „hören­den Dia­logs“ umge­formt, die zu den neu­en spi­ri­tu­el­len Leit­di­men­sio­nen avan­cie­ren. Die Über­win­dung „unse­rer Ideen“ und „unse­rer Tra­di­ti­on“ sowie der kor­re­lie­ren­den klas­sisch-reli­giö­sen Akti­vi­tä­ten, kurz: die Über­win­dung alles „Indiet­ri­sti­schen“ wird zum zen­tra­len reli­giö­sen Gebot, zu Got­tes eige­nem Wil­len und Auf­trag erklärt.

Es ist eine offen­kun­di­ge Tat­sa­che, daß Papst Fran­zis­kus ein auto­ri­tä­rer Macht­mensch ist. Die Herr­schaft, so lau­tet ja mei­ne The­se, wird jedoch weit weni­ger irra­tio­nal aus­ge­übt, als das in etli­chen Schil­de­run­gen die­ses Pon­ti­fi­ka­tes behaup­tet wird. Bei Papst Fran­zis­kus gibt es eine Grund­agen­da, und es ist die beschrie­be­ne, deren kirch­li­cher Imple­men­tie­rung er mit bemer­kens­wer­ter Kon­se­quenz dient. Fran­zis­kus ist pri­mär weder Prag­ma­ti­ker noch Poli­ti­ker, er ist, um mit sei­nen eige­nen Wor­ten zu spre­chen, vor allem ein „Träu­mer“. Weni­ger roman­tisch for­mu­liert: Jor­ge Berg­o­glio ist pri­mär ein Ideologe.

Der große Verlust

Im Fol­gen­den geht es mir dar­um, die theo­lo­gi­sche Tie­fen­di­men­si­on der nun­mehr auch von einem Papst ver­tre­te­nen Theo­rie der nur noch sekun­där rele­van­ten reli­giö­sen Tra­di­tio­nen zu erhel­len. Ver­mut­lich wird es vie­len reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen schwer­fal­len, die berg­o­glia­ni­sche Rela­ti­vi­täts­theo­rie zu gou­tie­ren; am ehe­sten ist sie wohl an die asia­ti­schen Spi­ri­tua­li­tä­ten anschluß­fä­hig. Für die katho­li­sche Kir­che ist sie aber vernichtend.

Ent­schei­den­der­wei­se ist es näm­lich das Wesens­cha­rak­te­ri­sti­kum der katho­li­schen Tra­di­ti­on, sich gera­de nicht als einen blo­ßen Tra­di­ti­ons­zu­sam­men­hang zu begrei­fen. Die Tra­di­ti­on der Kir­che ver­steht die Kir­che grund­le­gend nicht als ein Gefü­ge von Tra­di­ti­ons­bil­dun­gen, also von bewußt­seins­mä­ßi­gen Vor­stel­lun­gen, Glau­bens­for­meln und sym­bo­li­schen Pra­xen, son­dern als inne­res Moment eines onto­lo­gi­schen Ereig­nis­ses, aus dem die­se Tra­di­ti­ons­bil­dun­gen logisch über­haupt erst her­vor­ge­hen. Schon mit den Tex­ten des Neu­en Testa­men­tes affir­miert und bezeugt das kirch­li­che Bewußt­sein die­ses ent­schei­den­de Sein­s­er­eig­nis, mit dem die Kir­che steht und fällt. Trä­te an die Stel­le die­ses tra­di­tio­nel­len Glau­bens der Glau­be an die Tra­di­ti­on sel­ber, hät­te der Nihi­lis­mus schon Ein­zug gehal­ten und ver­schwän­de à la longue auch der Traditionszusammenhang.

Das Ereig­nis, auf das sich der tra­di­tio­nel­le Glau­be der Kir­che fun­da­men­tal bezieht, besteht dar­in, daß Gott in einem unab­leit­ba­ren und unend­lich über die blo­ßen Mög­lich­kei­ten der geschaf­fe­nen Natur hin­aus­rei­chen­den Gna­den­akt in Chri­stus einen neu­en, mit­hin über­na­tür­li­chen Seins­zu­sam­men­hang kon­sti­tu­iert hat. „Ist jemand in Chri­stus, dann ist er eine neue Krea­tur.“ (2 Kor, 5,17) Die Neu­heit die­ses neu­en Seins haben die Kir­chen­vä­ter mit gro­ßer Kühn­heit als die theo­sis des Men­schen beschrie­ben, dar­in der Mensch zwar Krea­tur bleibt, aber in der Gna­de über die Sphä­re der blo­ßen Schöp­fung unend­lich hin­aus­ge­ho­ben wird und einen sol­chen ihn inner­lich ver­wan­deln­den Anteil am gött­li­chen Leben, an Got­tes eige­ner Hei­lig­keit sel­ber erhält, daß der Mysti­ker Johan­nes vom Kreuz den in Chri­stus umge­stal­te­ten Men­schen mit einem Holz­scheit ver­glei­chen kann, der, ins lodern­de Feu­er gelegt, von der ihn erfas­sen­den Glut äußer­lich kaum noch abgrenz­bar ist. In der pro­sa­ische­ren Spra­che der scho­la­sti­schen Theo­lo­gie heißt das, daß der Hei­li­ge Geist das Prin­zip unse­rer gei­sti­gen Akte und in der visio bea­ta sogar des mensch­li­chen Lei­bes wird.

Wie bereits Augu­sti­nus, Tho­mas von Aquin und Johan­nes Duns Sco­tus behaup­ten3, ist der mensch­li­che Geist kon­sti­tu­tio­nell durch einen „appe­ti­tus inna­tus“ cha­rak­te­ri­siert, der auf das über­na­tür­li­chen Leben aus­ge­rich­tet ist, das in der unver­hüll­ten Anschau­ung Got­tes sei­ne inne­re Voll­endung fin­det. Wenn­gleich dem Men­schen zwar das desi­de­ri­um in visio­nem bea­ti­fi­cam wesens­in­hä­rent ist, ver­mag die geschaf­fe­ne Natur die­ses über­na­tür­li­che Ziel ihrer eige­nen natür­li­chen Sehn­sucht aus sich selbst aber nie zu errei­chen. Zudem hat die Natur auf ihre Voll­endung kein Anrecht, die Gabe des Zie­les bleibt rei­ne Gna­de auch im Sin­ne der völ­li­gen Unge­schul­det­heit. Das heißt: Es gehört gera­de zur Wesens­be­stim­mung des Men­schen, sich sel­ber so ent­eig­net und so wenig auto­nom zu sein, daß er mate­ri­al und for­mal zur Voll­endung der eige­nen Natur von einer exter­nen, unver­füg­ba­ren Frei­heit völ­lig abhän­gig ist, die sich zwar erbar­men, die­ses Erbar­men aber auch ver­wei­gern kann. Hier wird ein Abhän­gig­keits­ver­hält­nis for­mu­liert, das radi­ka­ler nicht mehr gedacht wer­den kann.

Von gro­ßer Rele­vanz ist nun in unse­rem Kon­text, daß sich die katho­li­sche Kir­che zu dem von ihr bezeug­ten über­na­tür­li­chen Sein in Chri­stus nicht äußer­lich ver­hält. Sie han­delt in ihrer Ver­kün­di­gung nicht ein­fach von einer Sache, die von ihr selbst wesen­haft ver­schie­den wäre, son­dern begreift sich, wie ich vor­hin for­mu­lier­te, als inne­res Moment des skiz­zier­ten onto­lo­gi­schen Ereig­nis­ses. Das neue Sein in Chri­stus ist die Kir­che näm­lich sel­ber. Sie ist als sein gei­ster­füll­ter Leib nichts gerin­ge­res als die über­na­tür­li­che Lebens­ge­mein­schaft mit dem mensch­ge­wor­de­nen Sohn, von dem als ihrem ver­sam­meln­den über­na­tür­li­chen Haupt her sie die eine, hei­li­ge und katho­li­sche ist, in der sich uns die tri­ni­ta­ri­sche Lebens­ge­mein­schaft Got­tes erschließt. „Extra Chri­s­tum nulla salus“ ist sach­kon­ver­gent mit „extra eccle­si­am nulla salus“.

Dem­entspre­chend sind die mensch­li­che Brü­der­lich­keit und die „Ein­heit des Men­schen­ge­schlechts“ tat­säch­lich zen­tra­le Topoi des christ­li­chen Glau­bens, aber sie sind es nur unter dem unbe­dingt zu beach­ten­den Vor­zei­chen die­ses über­na­tür­li­chen Zusam­men­han­ges. Noch ein­mal von der Fra­ge abge­se­hen, ob allein aus erb­sün­den­theo­lo­gi­schen Grün­den die Rede über­haupt sinn­voll ist, wir sei­en immer schon qua Men­schen Brü­der und bil­de­ten eine Mensch­heits­fa­mi­lie, wird die Brü­der­lich­keits­ka­te­go­rie für den katho­li­schen Begriff aller­erst unter der Über­na­tür­lich­keits­rück­sicht des ekkle­sio­lo­gisch aus­ge­form­ten Seins in Chri­stus eine sub­stan­ti­ell rele­van­te Dimen­si­on. Es ent­spricht völ­lig dem Neu­en Testa­ment, daß für Johan­nes vom Kreuz selbst die leib­li­che Bru­der­schaft onto­lo­gisch eine radi­kal sekun­dä­re Dimen­si­on darstellt.

Vor die­sem Hin­ter­grund wird ver­ständ­lich, war­um die berg­o­glia­ni­sche Posi­ti­on für die Kir­che zer­stö­re­risch ist. Sie ist zer­stö­re­risch, weil der Papst den onto­lo­gi­schen Sta­tus der Tra­di­ti­on falsch bestimmt, und er bestimmt ihn falsch, weil er den eigent­li­chen Gegen­stand des Glau­bens falsch bestimmt. Fran­zis­kus läßt die Kir­che der Tra­di­ti­on naht­los unter die Kate­go­rie logi­scher Nach­ran­gig­keit fal­len, weil sie für ihn nichts ande­res als eine Tra­di­ti­on ist. In die­sem Sin­ne ist Berg­o­glio ein radi­ka­ler Tra­di­tio­na­list. Den tra­di­tio­nel­len Bekennt­nis­sen ent­spricht kei­ne Rea­li­tät an sich. Für Jor­ge Berg­o­glio sind das alles blo­ße Ideen und prin­zi­pi­ell belie­bi­ge Pra­xen, man könn­te auch sagen, die Tra­di­ti­on der Kir­che ist ein blo­ßer, in sich zir­ku­lie­ren­der Dis­kurs, des­sen Wahr­heits­an­spruch von Leu­ten erfun­den wur­de, die sich auf­grund psy­cho­lo­gisch erklär­ba­rer Abgren­zungs­be­dürf­nis­se gern in Sicher­hei­ten wie­gen und abge­ho­be­ne kle­ri­ka­le Son­der­wel­ten kon­stru­ie­ren, in denen sie in Spit­zen­ro­chet­tes lit­ur­gi­sche Opern aufführen.

Das moderne Projekt der Naturalisierung des Christentums

Auf­grund die­ses Pon­ti­fi­ka­tes ist die imma­nen­ti­sti­sche Pro­pa­gan­da der natür­li­chen Brü­der­lich­keits­theo­lo­gie in der Kir­che mitt­ler­wei­le hem­mungs­los und ubi­qui­tär gewor­den. Gleich­wohl hat Jor­ge Berg­o­glio sie nicht erfun­den. Das Pro­jekt der Natu­ra­li­sie­rung des Chri­sten­tums reicht bis ins 18. Jahr­hun­dert zurück und zieht sich von der Auf­klä­rung über den Deut­schen Idea­lis­mus und den libe­ra­len Pro­te­stan­tis­mus sowie die diver­sen moder­ni­sti­schen Ent­wür­fe des 19. Jahr­hun­derts und poli­ti­sie­ren­den Theo­lo­gien des 20. Jahr­hun­derts bis in die Gegen­wart. Eine sei­ner aktu­el­len Mani­fe­sta­tio­nen ist das seit län­ge­rem in theo­lo­gi­schen Krei­sen belieb­te Ansin­nen, das Neue Testa­ment als eine blo­ße inne­re Wei­ter­schrei­bung des Alten Testa­men­tes zu betrach­ten und – wie das der Frei­bur­ger Fun­da­men­tal­theo­lo­ge Magnus Striet signi­fi­kan­ter­wei­se gern prak­ti­ziert – vor­ran­gig vom „Juden Jesus“ zu spre­chen.4 Man könn­te das die Alt­te­sta­men­ta­ri­sie­rung des Neu­en Testa­men­tes nennen.

Die Poin­te die­ses Vor­gan­ges besteht dar­in, die Heils­ver­hei­ßun­gen des Neu­en Testa­men­tes ihres über­na­tür­li­chen und damit ihres chri­sto­lo­gi­schen Cha­rak­ters zu ent­klei­den und das pri­mär dies­sei­tig­keits­be­zo­ge­ne reli­giö­se Ver­hält­nis Isra­els abso­lut zu set­zen. Das Ret­tungs­han­deln Got­tes bezieht sich im Alten Testa­ment wesent­lich auf inner­welt­li­che Dimen­sio­nen: Der von Gott Geseg­ne­te hat ein lan­ges irdi­sches Leben und bekommt männ­li­chen Nach­wuchs, das Volk Isra­els erhält ein bestimm­tes geo­gra­phi­sches Ter­ri­to­ri­um zur Hei­mat, die Lebens­voll­zü­ge des Vol­kes wer­den durch den gött­li­chen Gebots­wil­len geord­net, Gott ver­hängt über das gehorm­sam­s­un­wil­li­ge Isra­el phy­si­sche Stra­fen, wie er Isra­el auch wie­der aus irdi­scher Knecht­schaft befreit, er steht dem Volk im Kampf mit ande­ren Völ­kern zur Sei­te usw. Ent­spre­chend wird Jah­we als der wah­re Gott in der jüdi­schen Theo­lo­gie dadurch aus­ge­wie­sen, daß er im Unter­schied zu den Göt­tern der ande­ren Völ­ker tat­säch­lich hilft, er erweist sei­ne Macht empirisch.

Es waren vor allem die Kir­chen­vä­ter, die bahn­bre­chend eine chri­sto­lo­gi­sche Her­me­neu­tik des Alten Testa­men­tes ent­wickel­ten. Die alt­te­sta­ment­li­chen Tex­te wur­den vor allem prä­fi­gu­ra­tiv und alle­go­risch gele­sen, wie es die Kir­che bis heu­te etwa in der Lit­ur­gie der Oster­nacht macht: Das Abra­hams­op­fer ver­weist auf das Opfer Chri­sti, der Durch­zug durch das Rote Meer ist ein Sinn­bild der Tau­fe, das gelob­te Land ist die ewi­ge Lebens­ge­mein­schaft mit dem Auf­er­stan­de­nen – und so fort. Das heißt: Die­se Inter­pre­ta­ti­on hebt die Theo­lo­gie Isra­els und den Bun­des­schluß am Sinai auf jene eigent­lich über­na­tür­li­che Ebe­ne, die onto­lo­gisch aller­erst in Chri­stus kon­sti­tu­iert wird. Damit wird Isra­el als sol­ches in die Kir­che als den mysti­schen Leib Chri­sti auf­ge­ho­ben. Es gibt einen Ver­weis­zu­sam­men­hang bei­der Testa­men­te, aber der ist streng chri­sto­zen­trisch organisiert.

Die viel beschwo­re­ne Sub­ti­li­sie­rung des alt­te­sta­ment­li­chen Got­tes­bil­des in der Got­tes­re­de des Neu­en Testa­men­tes bedeu­tet des­halb auch kei­nes­wegs, daß der neu­te­sta­ment­li­che Gott kei­ne dunk­len Züge mehr trägt. Im Kern besteht die Sub­li­mie­rung viel­mehr in dem beschrie­be­nen Vor­gang, daß aus der theo­lo­gi­schen Sphä­re des Alten Testa­men­tes eine wahr­haft über­na­tür­li­che und mysti­sche wird: Das Zen­trum der Heils­be­we­gung ist die durch die gra­tia Chri­sti eröff­ne­te inne­re Lebens­ge­mein­schaft des Men­schen mit Gott, die die visio bea­ti­fi­ca zu ihrem wesent­li­chen Ziel hat. Zugleich ist damit unter epi­ste­mi­scher Rück­sicht gesagt, daß sich das Alte Testa­ment gar nicht aus sich selbst her­aus zurei­chend ver­ste­hen läßt, son­dern allein Chri­stus des­sen ent­schei­den­der her­me­neu­ti­scher Zugang ist. Im Zuge der Ent­fal­tung der moder­nen Theo­lo­gie ist die­ses Inter­pre­ta­ti­ons­ver­hält­nis nun inso­fern umge­kehrt wor­den, als die Bestim­mung des Heils­han­delns Jesu und die­je­ni­ge des Seins Jesu selbst in einem ledig­lich linea­ren Kon­ti­nu­um zum heils­theo­lo­gi­schen Grund­an­satz des Alten Testa­ment vor­ge­nom­men wird. Das heißt: Der geschil­der­te Prä­fi­gu­ra­ti­ons­zu­sam­men­hang, der eine eigen­tüm­li­che Kom­po­si­ti­on von Kon­ti­nui­tät und Dis­kon­ti­nui­tät bil­det, wird in die­ser neu­en Her­me­neu­tik auf­ge­ge­ben. Das bedeu­tet indes nichts gerin­ge­res als den Ver­lust jener Über­na­tür­lich­keits­theo­lo­gie, die die kirch­li­che Aus­le­gungs­tra­di­ti­on der Hei­li­gen Schrift bis in die Lit­ur­gie hin­ein bis­lang präg­te. Die hin­ter die­ser Ope­ra­ti­on ste­hen­de Inten­ti­on ist aber kei­nes­wegs eine spe­zi­fisch gesuch­te Nähe zum Glau­ben Isra­els. Viel­mehr wird die Alt­te­sta­men­ta­ri­sie­rung um einer all­ge­mei­nen Ach­sen­ver­schie­bung in der Bestim­mung des eigent­li­chen Gegen­stan­des des christ­li­chen Glau­bens wil­len stra­te­gisch genutzt. Ange­strebt wird ein inner­welt­lich ori­en­tier­tes Chri­sten­tum, des­sen Fokus empi­ri­sche, natür­lich-sitt­li­che, psy­cho­lo­gi­sche und poli­ti­sche Zusam­men­hän­ge sind. Wie in der Fasten­an­spra­che des Pap­stes erscheint Gott in die­sem Hori­zont nur mehr als der­je­ni­ge, der die­se ver­än­der­te Welt durch unser Enga­ge­ment her­vor­brin­gen und das dies­sei­ti­ge Leben ver­bes­sern will.

Kürz­lich ver­öf­fent­lich­te der Blog­ger Cami­nan­te Wan­de­rer einen Text mit dem Titel „Sie haben uns die Reli­gi­on geraubt“.5 Wan­de­rer bezieht sich unmit­tel­bar auf den von Papst Fran­zis­kus kürz­lich ernann­ten neu­en Erz­bi­schof von Bue­nos Aires, Jor­ge Gar­cía Cuer­va, der in einem auf der Web­sei­te der argen­ti­ni­schen Bischofs­kon­fe­renz erschie­nen Video einen Oster­gruß for­mu­liert. Die­ser bischöf­li­che Ser­mon ist vor allem dadurch cha­rak­te­ri­siert, daß er die theo­lo­gi­sche Bestim­mung des Oster­fe­stes unter­schieds­los mit dem alt­te­sta­ment­li­chen Exodus und Pas­sah­fest in eins fal­len läßt. Wan­de­rer kon­sta­tiert, daß der Bischof „den Herrn Jesus Chri­stus mit kei­nem Wort (erwähnt). Er ist aus dem Hori­zont der Reli­gi­on getilgt wor­den, weil Er poli­tisch unkor­rekt ist. Der Pri­mas spricht nur noch von einem huma­ni­sti­schen Gott, dem Vol­taire und die schärf­sten Ver­tre­ter des Anti­chri­sten­tums, ohne zu zögern, zuge­stimmt hätten.“

Die­se bischöf­li­che Anspra­che ist eine der unzäh­li­gen Erschei­nun­gen der geschil­der­ten Natu­ra­li­sie­rungs­theo­lo­gie. Es ist nur fol­ge­rich­tig, daß der Bischof, der dem amtie­ren­den Papst theo­lo­gisch sehr nahe steht und nicht zufäl­lig auf sei­nen Posten gekom­men ist, nicht mehr vom stell­ver­tre­ten­den Süh­ne­tod Chri­sti, son­dern allein von „Befrei­ung“ und der Her­auf­füh­rung einer gerech­te­ren Welt redet, die er im Aus­zug Isra­els aus Ägyp­ten und in einem nun sehr vage gewor­de­nen Sin­ne im Oster­fest ver­sinn­bild­licht sieht.

Wie umfäng­lich sich die­se Pro­gram­ma­tik durch Papst Berg­o­gli­os kata­ly­sa­to­ri­sche Wirk­sam­keit in der Kir­che schon hat imple­men­tie­ren las­sen, erkennt man etwa auch an jenen eben­falls emble­ma­ti­schen Vor­gän­gen, die ich noch kurz erwäh­nen möch­te. So hat der Chef­or­ga­ni­sa­tor des letzt­jäh­ri­gen Welt­ju­gend­tref­fens in Por­tu­gal, den Fran­zis­kus mitt­ler­wei­le zum Kar­di­nal gemacht hat, zum Besten gege­ben, man wol­le nie­man­den zu Chri­stus und zur Kir­che bekeh­ren, son­dern wesent­lich sei allein, daß alle ein­fach so da und ange­nom­men sei­en, wie sie es in ihrer natür­li­chen Daseins­ver­fas­sung eben sind. Der ent­schei­den­de Aspekt ist die natür­li­che, gren­zen­lo­se Geschwi­ster­lich­keit, die, so Fran­zis­kus, den ekkle­sio­lo­gi­schen Inklu­sio­nis­mus impli­zie­re, daß „alle, alle, alle“ dazu­ge­hö­ren. Ähn­lich spricht der neu­ernann­te Bischof von Hong­kong, der jede bekeh­re­ri­sche und mis­sio­na­ri­sche, das heißt: jede chri­sto­zen­tri­sche Ambi­ti­on der Kir­che leug­net und statt des­sen davon han­delt, man wol­le nur die all­um­fas­sen­de, sich bedin­gungs­los auf alle erstrecken­de gött­li­che Lie­be und Barm­her­zig­keit ver­kün­di­gen – so wie Jesus es angeb­lich getan habe.

Und da seit den Anfän­gen der Kir­che die Mario­lo­gie eine Fakul­tät der Chri­sto­lo­gie ist, wird mitt­ler­wei­le auch die Got­tes­mut­ter vom vati­ka­ni­schen Chef­ma­rio­lo­gen Pater Ste­fa­no Cec­chin ent­zau­bert und, dem aktu­el­len Lehr­amt von Papst Fran­zis­kus fol­gend, an die heu­te herr­schen­den eman­zi­pa­to­ri­schen Para­me­ter sowie an das trans­kul­tu­rel­le Ver­söhn­lich­keits­ide­al ange­gli­chen. Ins­ge­samt besteht das Wesent­li­che der Gestal­ten Jesu und Mari­ens nach des Paters Auf­fas­sung dar­in, uns jen­seits beun­ru­hi­gen­der Bot­schaf­ten geschwi­ster­lich als freund­li­che Model­le für ein glück­li­ches und erfüll­tes Leben zu die­nen.6 Der über­na­tür­li­che Kos­mos, ange­fan­gen bei der Rede von der Gna­den­mitt­ler­schaft Mari­ens bis zur Theo­lo­gie der Süh­ne, taucht hier sub­stan­ti­ell nicht mehr auf. So erscheint in all die­sen Phä­no­me­nen immer der­sel­be Grund­vor­gang der Natu­ra­li­sie­rung und Säku­la­ri­sie­rung ursprüng­lich über­na­tür­lich ver­stan­de­ner theo­lo­gi­scher Bestän­de, die denen längst pein­lich gewor­den sind, die gera­de dazu beru­fen wären, sie zu ver­kün­di­gen und zu verteidigen.

Agere contra ecclesiam

Jor­ge Berg­o­glio einen Ideo­lo­gen zu nen­nen, ist zwar eine kor­rek­te Prä­di­ka­ti­on, stellt aber eine objek­ti­vie­ren­de Fremd­zu­schrei­bung dar. Man soll­te nie­mals über­se­hen, daß sich Fran­zis­kus sel­ber kei­nes­wegs als Ideo­lo­ge, son­dern viel­mehr als Voll­strecker des gött­li­chen Wil­lens ver­steht, als Gla­di­us Dei, der gegen die von ihm aus­ge­mach­ten Fein­de des gött­li­chen Trau­mes vom gelob­ten Land zu Fel­de zie­hen muß. Bekämpft wer­den müs­sen die pha­rao­haf­ten, mit ihren eigen­sin­ni­gen Wahr­heits­an­sprü­chen spal­ten­den „Indiet­ri­sti“. Es ist nicht ohne Iro­nie: Jor­ge Berg­o­glio meint, eine gött­li­che Mis­si­on zu besit­zen, und zwar eine sol­che, die gera­de in der Abschaf­fung der Mis­si­on besteht. Berg­o­glio ficht den letz­ten aller Krie­ge, der gera­de in der Aus­mer­zung der Fein­de des Frie­dens, mit­hin der tra­di­tio­nen­ver­ses­se­nen Fein­de der uni­ver­sa­len Geschwi­ster­lich­keit besteht, und die­ser Krieg zur Been­di­gung aller Wahr­heits­kon­flik­te und Ungleich­hei­ten ist nach Carl Schmitt der grau­sam­ste von allen, denn er muß den Geg­ner der vor­aus­set­zungs­lo­sen, tota­len Har­mo­nie zum mora­li­schen Unge­heu­er erklä­ren7. Es han­delt sich um einen päpst­li­chen Dschi­had, der allein das bestän­di­ge Wüten gegen die Ver­tre­ter der reli­giö­sen Dog­ma­tik erklä­ren kann. Daß die­se Ver­tre­ter die wah­ren Geg­ner Got­tes sind, folgt zwin­gend aus der berg­o­glia­ni­schen Ortho­do­xie des natür­li­chen Brü­der­lich­keits­uni­ver­sa­lis­mus, die alles, was in der Kir­che vor­mals als recht­gläu­big galt, nun­mehr als gott­wid­ri­ge Häre­sie anse­hen und auf dem Schei­ter­hau­fen der Zärt­lich­keit ver­bren­nen muß.

Mir scheint, daß erst der Begriff Jor­ge Mario Berg­o­gli­os als die­ser Gla­di­us Dei des­sen poli­ti­sche Akte zurei­chend erklä­ren kann. Der theo­lo­gi­sche Vor­wurf der Geg­ner die­ses Pon­ti­fi­ka­tes, daß Fran­zis­kus gegen die Kir­che agie­re, wird von Berg­o­glio sel­ber, und zwar inten­tio­nal ernst­haft, gegen sei­ne Kri­ti­ker erho­ben. Es han­delt sich hier um jene „gro­ße Inver­si­on“, von der Cami­nan­te Wan­de­rer gespro­chen hat.8 Des­we­gen bin ich nicht der Ansicht Erz­bi­schof Viganòs, daß Jor­ge Berg­o­glio bei sei­ner Über­nah­me des Papst­am­tes den Kon­sens, mit die­sem Amt das zu wol­len, was die Kir­che mit ihm will, per­sön­lich ver­wei­gert habe. Kei­nes­wegs will Fran­zis­kus für die Kir­che absichts­voll etwas Schlech­tes. Wäre das so, müß­te Fran­zis­kus ja den kor­rek­ten Begriff prin­zi­pi­ell noch vor­aus­set­zen. Das Gegen­teil ist wahr: Er will für die Kir­che, so wie er sie ver­steht, nur das Aller­be­ste, und dazu nutzt er die Mög­lich­kei­ten sei­nes Amtes voll aus. Er will die Kir­che gera­de aus der Hand der­je­ni­gen ret­ten, deren Glau­ben er mit Dom Hél­der Câma­ra für nichts ande­res als einen ideo­lo­gi­schen Über­bau hält, eine anti­je­su­a­ni­sche Erfin­dung von eli­tä­ren, rigo­ri­sti­schen Leu­ten, die gern in barocken Wel­ten schwe­ben, statt sich, wie es das Evan­ge­li­um ja in der Les­art der uni­ver­sa­len Geschwi­ster­lich­keits­theo­lo­gie vor­geb­lich for­dert, um den glo­ba­len Sozia­lis­mus, die För­de­rung schwu­ler Ver­hält­nis­se, den Umwelt­schutz und den Kli­ma­wan­del sowie die mög­lichst viel­zäh­li­ge Ver­schif­fung von mus­li­mi­schen Migran­ten nach Euro­pa zu kümmern.

Umge­kehrt wird vor die­sem Hin­ter­grund aber nicht nur ein­sich­tig, war­um Fran­zis­kus so vehe­ment gegen Leu­te wie Kar­di­nal Bur­ke oder Bischof Strick­land zu Fel­de zieht, wäh­rend die Bischö­fe Georg Bät­zing und Franz-Josef Over­beck noch immer im Amt sind und ihre Agen­da im Grun­de unge­hin­dert umset­zen kön­nen, son­dern es plau­si­bi­li­siert sich auch der Schul­ter­schluß des Pap­stes mit den glo­ba­len Finanz­eli­ten. Kürz­lich hat José Arturo Quar­ra­ci­no einen Text publi­ziert, in dem er, wie mir scheint zutref­fend, dar­auf hin­weist, daß Fran­zis­kus kein Pero­nist, son­dern viel­mehr ein Par­tei­gän­ger der Glo­ba­li­sten wie Georg Sor­os sei.9 Dafür spre­chen nicht nur die diver­sen poli­ti­schen Akte bis hin zu den ein­schlä­gi­gen Beru­fun­gen in die päpst­li­chen Aka­de­mien, son­dern vor allem die berg­o­glia­ni­sche Theo­lo­gie sel­ber. Ob Berg­o­glio die glo­ba­li­sti­schen Eli­ten rich­tig ein­schätzt, sei dahin­ge­stellt. Offen­kun­dig geht er aber davon aus, daß die­se Leu­te mit ihren welt­um­span­nen­den Pro­gram­men des inklu­si­ven Kapi­ta­lis­mus, der öko­lo­gi­schen Wen­de, des Kli­ma­schut­zes, der Über­win­dung natio­na­ler Gren­zen, der För­de­rung einer One-world-Reli­gi­on usf. genau an jenem Pro­jekt mit­ar­bei­ten, das sei­ne eige­ne uni­ver­sa­le Geschwi­ster­lich­keits­theo­rie und sein Ver­ständ­nis der Kir­che als Sach­wal­te­rin des „gelob­ten Lan­des“ die­ser natür­li­chen Geschwi­ster­lich­keit formuliert.

Der verabschiedete Christus

Nimmt man die Aus­sa­gen des Pap­stes ernst, ist der Schluß unver­meid­bar, daß es in sei­nem gei­sti­gen Kos­mos jenes über­na­tür­li­che Sein in Chri­stus nicht mehr gibt, für das die Mär­ty­rer in den Tod gin­gen, die Mis­sio­na­re, ange­fan­gen bei Pau­lus, unter här­te­sten Ent­beh­run­gen die Welt berei­sten, das zugleich die Ein­sied­ler der Welt den Rücken zukeh­ren ließ und das kon­tem­pla­ti­ve Ordens­le­ben begrün­de­te, das das sakra­men­ta­le prie­ster­li­che Amt sowie die Lit­ur­gien und groß­ar­ti­gen Kir­chen­ar­chi­tek­tu­ren her­vor­brach­te, in denen sich der über­na­tür­li­che Lebens­zu­sam­men­hang ver­mit­telt und fei­ert. Das bedeu­tet aber eben­so unver­meid­lich, daß es für Jor­ge Berg­o­glio nicht nur die Kir­che als den mysti­schen Leib Chri­sti, son­dern grund­le­gend den Chri­stus sel­ber nicht mehr gibt.

Euge­nio Scal­fa­ri hat­te nach einem sei­ner Inter­views mit Fran­zis­kus – vom Vati­kan unde­men­tiert – behaup­tet, der Papst wür­de nicht an die Gott­heit Jesu Chri­sti glau­ben. Ich hal­te es im Kon­text der tat­säch­lich veri­fi­zier­ba­ren Aus­sa­gen Jor­ge Berg­o­gli­os für hoch plau­si­bel, daß Scal­fa­ri hier kor­rekt zitier­te. Wie soll­te Fran­zis­kus auch an die Gott­heit Jesu glau­ben kön­nen, wenn es doch gera­de die­ses theo­lo­gi­sche Prä­di­kat ist, das ent­schei­den­der­wei­se die Theo­lo­gie der uni­ver­sa­len natür­li­chen Brü­der­lich­keit jen­seits sekun­dä­rer reli­giö­ser Tra­di­tio­nen verunmöglicht?

Wenn Jesus der Chri­stus, die inkar­nier­te zwei­te gött­li­che Per­son ist, dann kann sein Wir­ken auf gar nichts ande­res abzie­len als auf die Kon­sti­tu­ti­on jenes über­na­tür­li­chen Lebens­zu­sam­men­han­ges, der in der durch die hei­lig­ma­chen­de Gna­de eröff­ne­ten mysti­schen Ein­heit mit ihm sel­ber besteht. Dann ist er selbst, und zwar er allein in Per­son, die gött­li­che Wahr­heit, dann ist sein Tod ein stell­ver­tre­ten­der Süh­ne­akt zur Ermög­li­chung gera­de die­ser Ein­heit, dann ent­schei­det sich die Fra­ge des ewi­gen Heils und Unheils allein an ihm, dann ist er sel­ber der zen­tra­le Gegen­stand der Anbe­tung, dann muß sich jedes Knie vor ihm beu­gen. Wenn er der Chri­stus ist, dann sind die Sakra­men­te als sein eige­nes Han­deln am Men­schen zum Heil unab­ding­bar, dann ist die Kir­che sowohl die zen­tra­le Heils­mit­t­le­rin als auch die über­na­tür­li­che Com­mu­nio mit Chri­stus sel­ber, dann muß es Mis­si­on geben, die dar­auf abzielt, alle Men­schen zu ihm als dem Chri­stus zu bekeh­ren. Ist er der Chri­stus, dann kann es kei­ne kirch­li­che Got­tes­re­de ohne Chri­sto­lo­gie geben, weil er ja der ein­zi­ge Weg zur Gott­heit ist, die sich nur in ihm in ihrem inne­ren Lebens­ge­heim­nis offen­bart und zugäng­lich macht. Wenn er der Chri­stus ist, dann ist Maria Got­tes­ge­bä­re­rin und hat als allei­ni­gen Auf­trag, zu ihrem Sohn hinzuführen.

Mit die­sem Chri­stus ist kei­ne One-world-Reli­gi­on zu machen, er sperrt sich in sei­nem abso­lu­ti­sti­schen Selbst­an­spruch gegen jede Rela­ti­vie­rung. Er ist schlech­ter­dings unver­gleich­lich. Kurz: Wenn Jesus der Chri­stus ist, dann sind all die Arti­ku­la­tio­nen, ange­fan­gen bei Jor­ge Berg­o­gli­os zitier­ten Sät­zen bis zu den unzäh­li­gen State­ments der berg­o­glia­ni­schen Bischö­fe, logisch unmög­lich. Was umge­kehrt heißt, daß die­se State­ments, sofern die Her­ren noch eini­ger­ma­ßen bei Ver­stand sind, die bewuß­te, wenn auch expli­zit unein­ge­stan­de­ne Nega­ti­on der klas­si­schen Chri­sto­lo­gie vor­aus­set­zen. Dar­über kann die gan­ze Barm­her­zig­keits­rhe­to­rik und schein­ba­re Jesus-Nähe in der berg­o­glia­ni­schen Deu­tung des Neu­en Testa­men­tes nicht hin­weg­täu­schen. Im Grun­de erscheint Jesus in die­sen Exege­sen – wie schon bei Goe­the – als der maß­geb­li­che Geg­ner des Christus.

Damit haben wir einen erschüt­tern­den Befund vor uns gebracht. Im Unter­schied zu Päp­sten wie Johan­nes XXII. oder Hono­ri­us, die ein­zel­ne Ele­men­te der kirch­li­chen Dog­ma­tik falsch ver­stan­den, besitzt Fran­zis­kus die Chuz­pe, sich über das Gan­ze der kirch­li­chen Tra­di­ti­on her­zu­ma­chen und das Vor­zei­chen vor dem Gesam­ten zu ändern. Damit bricht die katho­li­sche Kir­che voll­stän­dig in sich zusam­men. Die Kir­che des Jor­ge Berg­o­glio hat mit der, von der die Tra­di­ti­on han­delt, sub­stan­ti­ell nichts mehr zu tun, sie ist in der Sache etwas radi­kal anderes. 

Aus Sicht der ursprüng­li­chen Kir­che dürf­te Fran­zis­kus die natür­li­che Brü­der­lich­keits­ka­te­go­rie der Tra­di­ti­on der Kir­che nie­mals über­ord­nen, weil er damit nur einen Zusam­men­hang ver­ste­ti­gen will, den Pau­lus – expli­zit auch im Blick auf Inter­per­so­na­li­täts­fra­gen – die „sche­ma­ta tou kos­mou tou­tou“ (1 Kor 7,31) nennt. Die­se Gestal­ten der alten Welt sind aber von Gott dazu bestimmt, in Chri­stus zu jenem über­na­tür­li­chen Brü­der­lich­keits­zu­sam­men­hang, das heißt zu jener neu­en Schöp­fung zu wer­den, die die katho­li­sche Kir­che in ihren sakra­men­ta­len Voll­zü­gen ver­mit­telt und in inten­so sel­ber bereits ist. Nur sie ist das „gelob­te Land“. Das Wir­ken eines Pap­stes müß­te mit aller Kraft genau auf die­se Dimen­si­on aus­ge­rich­tet sein. Wäh­rend Gott sel­ber damit befaßt ist, in der über­na­tür­li­chen Gna­de den Men­schen zu ver­gött­li­chen und einen neu­en Him­mel und eine neue Erde her­vor­zu­brin­gen, fokus­siert sich der bor­nier­te päpst­li­che Blick auf die alte Welt und degra­diert die neue, von der die kirch­li­che Tra­di­ti­on seit zwei Jahr­tau­sen­den han­delt, zu einer Sache sekun­dä­rer Rele­vanz. Das ist wirk­lich grotesk.

Zugleich muß die Kir­che den Papst dar­auf auf­merk­sam machen, daß die Dekon­struk­ti­on der Mis­si­on, die vom Papst der Pro­se­ly­ten­ma­che­rei ver­däch­tigt wird, den Men­schen auf die alte Welt fixiert, ihm also inhu­ma­ner­wei­se jene über­na­tür­li­che Sphä­re vor­ent­hält, auf die er doch zur Erfül­lung sei­ner Mensch­lich­keit gera­de hin­ge­ord­net ist. Die natür­li­che Brü­der­lich­keits­theo­lo­gie stillt den bespro­che­nen „appe­ti­tus inna­tus“, also jenen eigent­li­chen Hun­ger nicht, der dem Men­schen als Men­schen zu eigen ist. Des­we­gen liebt nur die klas­si­sche Mis­si­on der Kir­che den Men­schen wirklich.

Aller­dings müs­sen wir uns nun­mehr, nach lan­gen Ver­drän­gungs- und Beschö­ni­gungs­ver­su­chen, end­lich ein­ge­ste­hen, daß die theo­lo­gi­sche Tra­di­ti­ons­li­nie, in der Fran­zis­kus steht, schon immer genau die­se Trans­mu­ta­ti­on beabsichtigte.

Es wäre im übri­gen ein wich­ti­ges Unter­fan­gen, genau zu unter­su­chen, wel­che Rol­le die drei rele­van­ten Vor­gän­ger­päp­ste in die­sem Gesche­hen tat­säch­lich spie­len. Das ist, vor allem im Blick auf Josef Ratz­in­ger, viel kom­ple­xer, als es die kon­ser­va­ti­ven Ido­la­trien Bene­dikts wahr­ha­ben möch­ten. Man muß sich nur die Fra­ge stel­len, wie es erklär­bar ist, daß nach dem deut­lich über drei Jahr­zehn­te wäh­ren­den Gemein­schafts­pon­ti­fi­kat von Johan­nes Paul II. und Bene­dikt XVI. unmit­tel­bar das pas­sie­ren konn­te, was wir nun schon seit elf Jah­ren erlei­den. Das kann nicht nur mit per­so­nal­po­li­ti­schen Fehl­ent­schei­dun­gen und man­geln­dem psy­cho­lo­gi­schem Judiz zusammenhängen.

Wie auch immer: Die Kir­che hat einen Zustand erreicht, in dem der Chri­stus nicht nur vie­len Amts­trä­gern anstö­ßig und pein­lich gewor­den ist. Der Geist des über­na­tür­li­chen Myste­ri­ums ist – unter hef­ti­ger päpst­li­cher Assi­stenz – aus der Kir­che weit­flä­chig gewi­chen, sie ist zu einem Sau­stall ver­kom­men. Die­se Ver­leug­nung durch sei­ne eige­ne Kir­che wird sich der Herr nicht gefal­len lassen.

*Vigi­li­us, der Autor die­ses Bei­trags, wird ab Mai 2024 zusam­men mit ande­ren Autoren den Blog www​.ein​sprue​che​.com star­ten, auf dem regel­mä­ßig Essays zu theo­lo­gi­schen und phi­lo­so­phi­schen The­men erschei­nen sollen.

Bild: Katho​li​sches​.info/​K​I​-​g​e​n​e​r​i​ert


1 Tony Pal­mer, The Mira­cle of Unity Has Begun. Bishop Tony Pal­mer & Pope Fran­cis, in: You­tube, 28.02.2024

2 José Arturo Quar­ra­ci­no, Das poli­ti­sche Enga­ge­ment von Jor­ge Mario Berg­o­glio ad maio­rem Sor­os’ glo­ri­am, in: Katho​li​sches​.info, 31.01.2024.

3 Vgl. dazu Rupert Johan­nes May­er, Zum desi­de­ri­um natu­ra­le visio­nis Dei nach Johan­nes Duns Sco­tus und Tho­mas de Vio Cajet­an: Eine Anmer­kung zum Den­ken Hen­ri De Lub­acs, in: Ange­li­cum 85 (2008), 737–763

4 Striet exem­pli­fi­ziert das hier dar­ge­stell­te theo­lo­gi­sche Gefäl­le her­vor­ra­gend. Von der klas­si­schen Chri­sto­lo­gie der Kir­che ist bei Striet nichts mehr zu fin­den. In den öden Striet­schen Theo­rie­ver­su­chen wird sie, wie über­haupt alle tra­di­tio­na­len Über­zeu­gun­gen, ins auf­klä­re­ri­sche Flach­land ein­ge­eb­net. Vgl. bspw. Wal­ter Homol­ka, Magnus Striet, Chri­sto­lo­gie auf dem Prüf­stand, Jesus der Jude – Chri­stus der Erlö­ser, Frei­burg 2019

5 Cami­nan­te Wan­de­rer: Nos roba­ron la reli­gión, in: Cami­nan­te Wan­de­rer, 01.04.2024.

6 Giu­sep­pe Nar­di, „Bestimm­te Bil­der von Maria sind heu­te nicht mehr nach­voll­zieh­bar“. Ein Inter­view mit Pater Ste­fa­no Cec­chin von der Päpst­li­chen Maria­ni­schen Aka­de­mie und der Beob­ach­tungs­stel­le für Mari­en­er­schei­nun­gen, in: Katho​li​sches​.info, 16.10.2023.

7 Carl Schmitt, Der Begriff des Poli­ti­schen, Ber­lin 92015, 35.

8 Cami­nan­te Wan­de­rer, La gran inver­sión, in: Cami­nan­te Wan­de­rer, 02.10.2023.

9 José Arturo Quar­ra­ci­no, Das poli­ti­sche Enga­ge­ment von Jor­ge Mario Berg­o­glio ad maio­rem Sor­os’ glo­ri­am, in: Katho​li​sches​.info, 31.01.2024.

Print Friendly, PDF & Email
Anzei­ge

Hel­fen Sie mit! Sichern Sie die Exi­stenz einer unab­hän­gi­gen, kri­ti­schen katho­li­schen Stim­me, der kei­ne Gel­der aus den Töp­fen der Kir­chen­steu­er-Mil­li­ar­den, irgend­wel­cher Orga­ni­sa­tio­nen, Stif­tun­gen oder von Mil­li­ar­dä­ren zuflie­ßen. Die ein­zi­ge Unter­stüt­zung ist Ihre Spen­de. Des­halb ist die­se Stim­me wirk­lich unabhängig.

Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

Das ist müh­sam, es ver­langt eini­ges ab, aber es ist mit Ihrer Hil­fe möglich.

Unter­stüt­zen Sie uns bit­te. Hel­fen Sie uns bitte.

Vergelt’s Gott!