(Rom) Gestern verstarb Eugenio Scalfari, der atheistische Freund von Papst Franziskus. Die Zeitung La Repubblica veröffentlichte heute einen Nachruf von Franziskus auf den Gründer dieser Zeitung. Die Beziehung zwischen Papst Franziskus und dem freimaurerischen Atheisten Eugenio Scalfari gehört zu den bezeichnendsten und rätselhaftesten Seiten des derzeitigen Pontifikats. Bezeichnend und rätselhaft, wenn auch wenig überraschend ist, daß der Nachruf eine Lobrede ist.
Eugenio Scalfari, Jahrgang 1924, war sein ganzes Berufsleben Journalist und Publizist, er stammte aus einer großbürgerlichen Familie mit langer freimaurerischer Tradition, verdiente sich seine ersten Sporen bei faschistischen Tageszeitungen und war 1955 Mitbegründer der radikalliberalen, antiklerikalen Radikalen Partei, 1962–1968 Chefredakteur des Wochenmagazins Espresso (vergleichbar dem deutschen Spiegel), als Unabhängiger 1968–1972 Parlamentsabgeordneter der Sozialistischen Partei PSI, 1976 gründete er links vom großbürgerlich-liberalen Corriere della Sera die Tageszeitung La Repubblica, deren Chefredakteur er bis 1996 war und anschließend ihr Herausgeber. Seine Selbstbezeichnung war Atheist. Als Freimaurer bezeichnete er sich zwar nie, zeigte aber gerne die Ahnengalerie seiner direkten Vorfahren, die Logenbrüder waren.
Als Überschrift für den päpstlichen Nachruf wählte die Redaktion die Worte:
„Eugenio, mein laizistischer Freund, ich werde das Gespräch mit Dir vermissen.“
Scalfari selbst machte seit den 50er Jahren jeden gesellschaftspolitischen Kampf mit, der die Welt ein Stück weiter nach links führen sollte. Zielscheibe seines medialen Aktivismus waren neben der politischen Rechten vor allem die Unauflöslichkeit der Ehe, die Unantastbarkeit eines Menschenlebens und immer wieder die katholische Kirche und ihre Dogmen. In vielen Kämpfen war er als außerparlamentarischer Wortführer erfolgreich: In den 70er Jahren wurden Scheidung und Abtreibung legalisiert, vor wenigen Jahren auch „Homo-Ehe“ und Euthanasie.
Umso mehr mußte es auffallen, daß Papst Franziskus seine begeistertsten Fans, anders kann man es nicht nennen, ausgerechnet in den Reihen der kirchenfeindlichen Radikalen Partei fand, jener radikalliberalen Kleinstpartei, die als Scharnier zwischen marxistischer Linken und linksliberalem Bürgertum großen Einfluß auf die politische Entwicklung in Italien und darüber hinaus ausübte. Die Bandbreite dieser Fans reichte von Marco Pannella über Emma Bonino (immerhin ehemalige Außenministerin, EU-Kommissarin und Soros-Preisträgerin und für Papst Franziskus eine „ganz Große“) bis zum nun verstorbenen Eugenio Scalfari.
Alle entstammten wohlsituierten bürgerlichen Familien, waren gegenüber dem Sozialismus weit offen, schlossen sich aber nie dem Kommunismus an, verinnerlichten jedoch den emanzipatorischen Drang des Liberalismus, der dem Sozialismus noch vorausgeht, weshalb sie in zahlreichen Kämpfen zu führenden Exponenten der politischen Linken werden konnten. Ihr Kampf galt der Legalisierung von Scheidung, Abtreibung, Euthanasie, Drogen und „Homo-Rechten“. Eugenio Scalfari führte ihn als mächtiger Doyen des italienischen Linksjournalismus aus den Spalten der von ihm gegründeten Tageszeitung.
Marco Pannella, der „Mangiapreti“ (Priesterfresser), ein anderer Freund Scalfaris, wurde zum „elektrisierten“ Fan von Franziskus. Pannella, der bereits 2016 starb, hatte noch unter Papst Benedikt XVI. auf dem Petersplatz gegen die Kirche demonstriert mit der Parole „No Taliban, No Vatican“ und den Vatikan auf eine Stufe mit islamistischen Taliban gestellt. Unter Papst Franziskus rief derselbe Pannella unvergessen:
„Viva il Papa! Wir Radikalen lieben ihn sehr“, so sehr, daß Pannella wünschte: „Ich möchte Staatsbürger des Vatikans werden“.
Pannella und Scalfari waren zwei führende Gründer der Radikalen Partei.
Geradezu berühmt-berüchtigt wurden die Interviews von Eugenio Scalfari mit Papst Franziskus. Im November 2014 schrieb Katholisches.info zur Klarstellung:
„Der Jubel der Scalfaris und Pannellas ist nicht der Jubel jener, die den Glauben gefunden oder wiedergefunden haben, sondern jener, die das Gefühl haben, sogar den Vatikan mit ihren Positionen ‚erobert‘ zu haben.“
Wie konnten so verbissene Abtreibungslobbyisten in Franziskus einen „Freund“ sehen? Wurden sie vom Papst gar getäuscht, wie manche ihrer Anhänger vermuteten? Nichts dergleichen.
Bergoglio gab gleich am Beginn seines Pontifikats zu verstehen, daß der Kampf für die „nicht verhandelbaren Werte“ nicht sein Kampf ist. Vielmehr vollzog er einen schwerwiegenden Bruch und bezeichnete die Haltung seiner Vorgänger in der Lebensrechtsfrage als „besessen“. Ganz bergoglianisch änderte Franziskus das Lehramt formal nicht, aber faktisch, ganz nach dem von ihm vertretenen Grundsatz, daß die Praxis vor der Theorie komme. Das zählte für Scalfari und Pannella weit mehr als eine gelegentlich ausgesprochene, aber folgenlose Kritik an der Tötung ungeborener Kinder. Die jüngsten Dolchstöße von Franziskus gegen die Mehrheit der US-Bischöfe in der Kommunionfrage für Abtreibungspolitiker bekräftigten diese päpstliche Maxime.
So konnte Franziskus ein inoffizielles, paralleles Lehramt etablieren, dessen Barde sein Freund Eugenio Scalfari war. Dieses „neue Lehramt“, das auch als „Scalfari-Lehramt“ bezeichnet und vom Heiligen Stuhl nie wirklich dementiert wurde, verkündete eine neue Lehre, die mehr jener der Loge als der Kirche ähnelte. 2019 wurden alle Gespräche, Interviews und Telefonate, die Scalfari anschließend der Welt berichtete, gesammelt in dem Buch „Il Dio unico e la società moderna“ („Der eine Gott und die moderne Gesellschaft“) abgedruckt. Es enthält alle Aussagen des regierenden Papstes, die in der Vergangenheit in der Kirche für erhebliche Irritationen sorgten und wohl noch sorgen werden. Scalfari beharrte stets auf ihrer Authentizität – unwidersprochen. Scalfari verdeutlichte gleich im Untertitel des Buches einen Brückenschlag, denn die Publikation umfaßte alle „Begegnungen mit Papst Franziskus und Kardinal Carlo Maria Martini“. Letzterer war bereits 2012 verstorben, nicht ohne zwei Monate vor seinem Tod Benedikt XVI. energisch zum Rücktritt aufgefordert zu haben.
2019 schrieb Katholisches.info:
„Eugenio Scalfari ist um zwölf Jahre älter als das katholische Kirchenoberhaupt. Wie läßt sich ihr Verhältnis, das offensichtlich bewußt von einer Aura des Unklaren und Undurchsichtigen umgeben ist, beschreiben? Am ehesten als kongenial, da eine gewisse Geistesverwandtschaft nach sechs Jahren der unregelmäßigen, aber trotz aller Kritik fortdauernden ‚Zusammenarbeit‘ kaum bestritten werden kann.“
Lehrsätze des bergoglianischen Scalfari-Lehramtes lauten:
- daß es für Christen keine „absolute Wahrheit“ gibt;
- daß Gut und Böse lediglich subjektive Meinungen sind;
- daß es „keinen katholischen Gott“ gibt;
- daß die Gottesmutter Maria unter dem Kreuz vielleicht Lust hatte, sich zu fragen, ob sie „reingelegt“ wurde, weil ihr die messianischen Verheißungen wie „Lügen“ erscheinen mußten;
- daß Jesus Christus „nicht“ der Sohn Gottes ist;
- daß „die Sünde abgeschafft ist“;
- daß „die Hölle abgeschafft ist“;
- daß die Menschheit durch Rassenvermischung in einem „Mestizentum“ aufgehen soll;
- daß Bekehrung nicht notwendig ist.
Der Atheist Scalfari wolle sich „ein maßgeschneidertes, fließendes und relativistisches Christentum zimmern“, so Il Giornale Ende 2013. Und Franziskus unterstützte ihn dabei.
Der damalige Vatikansprecher P. Federico Lombardi opponierte verlegen und halbherzig, mußte jedoch bald feststellen, daß Santa Marta keine Order für ein Dementi erteilte. So blieben die Aussagen ungeklärt im Raum stehen. So war es offensichtlich gewollt. Mehr noch: Der Vatikanverlag gab das erste und irritierendste Interview sogar in Buchform heraus. Mehr Bekräftigung braucht es wohl nicht.
2019 erschien noch das zweite Buch „Grand Hotel Scalfari. Confessioni libertine su un secolo di carta“ („Grand Hotel Scalfari. Libertine Bekenntnisse über ein Jahrhundert Papier”, Marsilio Editori, 2019), eine wohlwollend konzipierte Biographie in Form eines Gesprächsbuches. Katholisches.info schrieb dazu Erhellendes:
„Scalfari, der zwar die Chefredaktion längst abgegeben hat, behielt sein Gewicht und seine Kolumne. Manche, auch Katholiken, vom Vorwurf eingelullt, Verschwörungstheorien zu verbreiten, hören es nicht gerne, doch für Scalfari ist es wichtig: Er ist stolz auf seine freimaurerische Abkunft. Über seine eigene Logenzugehörigkeit schweigt er sich zwar aus, verweist aber gerne darauf, daß bereits sein Großvater und sein Urgroßvater und sein Urur… beschürzte Brüder und Logengründer waren. ‚Meine Vorfahren gründeten Logen in der gesamten Gegend von Catanzaro‘, Scalfari selbst zitiert im Buch einen Freimaurerfreund, der über seinen Großvater, einen ‚überzeugten Sozialisten‘, sagte, er sei ‚wie ein alter Luzifer gewesen, der sich entflammt‘. Ähnliche Anspielungen finden sich zahlreich in diesem Buch, während er klarer als bisher andeutet, gleich nach dem Krieg in San Remo in die Loge eingetreten zu sein. Er tut dies, nicht ohne Hinweis, daß 1874 in San Remo die Loge Liguria gegründet wurde, Vorgängerin der heute dort arbeitenden Logen, und die Zeitung Lucifero (Luzifer) herausgab. Luzifer ist für die Logenbrüder nicht das personifizierte Böse des Christentums, sondern der ‚Lichtbringer‘, der in Logen angebetet und nach dessen Erkenntnis gestrebt wird.“
Dies vorausgeschickt, veröffentlichen wir den Nachruf von Papst Franziskus auf seinen Freund Eugenio Scalfari:
„Eugenio, mein laizistischer Freund, ich werde das Gespräch mit dir vermissen“
von Papst Franziskus
Ich bin traurig über den Tod von Eugenio Scalfari, dem Gründer der Tageszeitung La Repubblica. In diesen schmerzlichen Stunden bin ich seiner Familie, seinen Angehörigen und all jenen nahe, die ihn kannten und mit ihm gearbeitet haben. Er ist mir ein treuer Freund gewesen. Ich erinnere mich, dass er mir bei unseren Treffen in der Casa Santa Marta erzählte, wie er versuchte, den Sinn der Existenz und des Lebens zu erfassen, indem er den Alltag und die Zukunft durch Meditation über seine Erfahrungen und seine großen Lektüren erforschte. Er bezeichnete sich selbst als ungläubig, obwohl ich in den Jahren, in denen ich ihn kannte, auch intensiv über die Bedeutung des Glaubens nachdachte. Er fragte sich immer nach der Gegenwart Gottes, nach den letzten Dingen und nach dem Leben nach diesem Leben.
Unsere Gespräche waren angenehm und intensiv, die Minuten mit ihm vergingen wie im Flug, unterbrochen von der heiteren Konfrontation unserer jeweiligen Meinungen und dem Austausch unserer Gedanken und Ideen, aber auch von Momenten der Freude.
Wir sprachen über Glaube und Weltlichkeit, über den Alltag und die großen Horizonte der Menschheit in Gegenwart und Zukunft, über die Dunkelheit, die den Menschen umhüllen kann, und das göttliche Licht, das seinen Weg erhellen kann. Ich erinnere mich an ihn als einen Mann mit außerordentlicher Intelligenz und der Fähigkeit zuzuhören, immer auf der Suche nach dem letzten Sinn der Ereignisse, immer begierig nach Wissen und Zeugnissen, die das Verständnis der Moderne bereichern könnten.
Eugenio war ein Intellektueller, der offen für die Gegenwart war, mutig, transparent in der Schilderung seiner Ängste, nie nostalgisch für die glorreiche Vergangenheit, sondern nach vorne gerichtet, mit einem Hauch von Desillusionierung, aber auch mit großen Hoffnungen für eine bessere Welt. Und er war begeistert und verliebt in seine Arbeit als Journalist. Er hat im Leben vieler Menschen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen und einen beruflichen Weg vorgezeichnet, dem viele seiner Mitarbeiter und Nachfolger gefolgt sind.
Zu Beginn unseres Austausches per Brief und Telefon und bei unseren ersten Gesprächen hatte er sein Erstaunen über meine Entscheidung, mich Franziskus zu nennen, zum Ausdruck gebracht und wollte die Gründe für meine Entscheidung verstehen. Und dann war er sehr fasziniert von meiner Arbeit als Seelsorger der Weltkirche, und in diesem Sinne argumentierte er laut und in seinen Artikeln über das Engagement der Kirche für den interreligiösen und ökumenischen Dialog, über das Geheimnis des Herrn, über Gott, Quelle des Friedens und Quelle von Wegen konkreter Brüderlichkeit zwischen Individuen, Nationen und Völkern.
Er betonte den entscheidenden Wert – für unsere Gesellschaft und für die Politik – aufrichtiger, fruchtbarer und kontinuierlicher Beziehungen zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen. Er war fasziniert von verschiedenen theologischen Fragen, wie der Mystik in der katholischen Religion und dem Abschnitt in der Genesis, in dem es heißt, dass der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde. Und die Zusammensetzung und Merkmale der Bevölkerungsgruppen, die in den kommenden Jahrzehnten das gemeinsame Haus bewohnen werden.
Von diesem Tag an werde ich die freundliche und kostbare Erinnerung an die Gespräche mit Eugenio, die in diesen Jahren meines Pontifikats stattfanden, in meinem Herzen bewahren. Ich bete für ihn und für den Trost derer, die um ihn trauern.
Und ich empfehle seine Seele Gott für die Ewigkeit.
Text/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Twitter
Ich weiß nicht, was an dieser Freundschaft rätselhaft sein soll. Diese beiden Brüder im Geiste passen so gut zusammen, daß auch Scalfari Papst der Neukirche werden können hätte. Scalfari hat sich allerdings nach meinem Wissen nicht als Impfstoffvertreter für Pfizer & Co. hergegeben.