(Rom) In der Sonntagsausgabe der Tageszeitung Libero veröffentlichte Antonio Socci, Rektor der von der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt RAI und der Universität Perugia getragenen Journalistenschule von Perugia einen Kommentar über seltsame Gestalten, die sich als die begeistertsten „Fans“ von Papst Franziskus outen. Und über den Bergoglio-(D)Effekt.
Zusammen mit Fausto Bertinotti (1) und Eugenio Scalfari (2) ist Marco Pannella [1]Marco Pannella, Jg. 1930, 1955 mit Scalfari Mitbegründer der Radikalen Partei, die sich als Nachfolgerin der historischen extremen Linken sieht, 1963–1967 und 1981–1983 Vorsitzender der Radikalen … Continue reading der elektrisierteste Fan von Papst Bergoglio („Viva il Papa!“, „Wir Radikalen lieben ihn sehr“, „ich möchte Staatsbürger des Vatikans werden“). Als Benedikt XVI. regierte, zog Pannella mit dem Schild: „No Taliban, No Vatican“ auf den Petersplatz. So ändern sich die Zeiten.
Handelt es sich um die erstaunliche „Bekehrung“ zum „Opium für das Volk“, der Religion, als Anker im Alter, weil man schließlich ja nie wissen kann, ob man im Jenseits nicht doch überraschend auf Gott stoßen könnte?
Nein, in diesem Blitzschlag, der den ehemaligen Vorsitzenden der Alt-Kommunisten und die beiden Symbolfiguren der Kirchenfeindschaft, des Laizismus und der Entchristlichung erfaßt hat, ist von einer Rückkehr zur katholischen Kirche keine Rede, schon gar nicht von Reue oder einer Änderung des Lebens.
Das genaue Gegenteil ist der Fall. Sie haben vielmehr den Eindruck, daß nach dem Sieg ihrer radikalen und laizistischen Kultur in der Gesellschaft sogar ein ungeahnter Triumph in der Kirche naht.
Bei Bertinotti kommt noch die Begeisterung hinzu für einen Papst, der sich als neuer revolutionärer Führer der linken Globalisierungsgegner präsentiert.
Ist dem aber wirklich so? Kann es nicht sein, daß Scalfari und Pannella sich angesichts ihres ausgeprägte Egos einfach nur bauchgepinselt fühlen wegen der Telefonate und der Gespräche, die ihnen Franziskus zukommen ließ?
Und könnte Bertinotti vielleicht die Einladung zum „Kampf“, die Bergoglio gegenüber dem linksextremen Autonomenzentrum Leonvacallo und Genossen ausgesprochen hat, nicht mißverstanden haben?
Ich erinnere mich, daß es auch früher viele Intellektuelle, Journalisten und Politiker gab, die von Päpsten in den Bann gezogen wurden. Das galt in der jüngeren Zeit vor allem für Johannes Paul II. und Benedikt XVI.
In diesen Fällen handelte es sich um eine wirkliche Umkehr zum katholischen Glauben oder um kulturelle „Konversionen“, die immerhin dazu führten, der kulturellen und ethischen Erziehung durch die Kirche zu folgen.
Heute aber, wie der Vatikanist Sandro Magister erklärte, „provoziert“ die Popularität von Franziskus „keine Konversionswelle. Im Gegenteil. Mit ihm geht eine gewisse Genugtuung der dem Christentum fremden und feindlich gesinnten Kultur einher“.
Wie ist das zu verstehen? „Indem man registriert, daß das Oberhaupt der Kirche sich ihren Positionen annähert, die er zu verstehen und sogar zu akzeptieren scheint.“
Der Jubel der Scalfaris, Pannellas und Bertinottis ist nicht der Jubel jener, die den Glauben gefunden oder wiedergefunden haben, sondern jener, die das Gefühl haben, sogar den Vatikan mit ihren Positionen „erobert“ zu haben.
Ich sage und widerrufe
Und doch, wird man sagen: am Samstag hat Bergoglio vor den katholischen Ärzten gegen die Abtreibung und die Euthanasie Stellung genommen. Wie können ihm dann Pannella und Scalfari applaudieren? Ist das nicht der Beweis, daß sie sich blenden haben lassen?
In Wirklichkeit wird die Rede vom 15. November keineswegs ihre bergoglianische Begeisterung abkühlen.
In erster Linie nicht, weil die Reden von Franziskus zu diesen Themen sehr selten sind, während sie bei seinen Vorgängern sehr häufig waren, weil sie die Menschheit aufrütteln wollten, ja Alarm schlagen wollten über den Zustand einer Menschheit, die sich, laut der Kirche, in einem dramatischen „humanitären Notstand“ befindet, weil sie (wie Mutter Teresa von Kalkutta sagte) sogar das ABC der Menschheit verloren hat.
Bergoglio gab sofort zu verstehen, daß er nicht am Kampf für die „nicht verhandelbaren Werte“ teilnimmt (er vollzog hier einen schwerwiegenden Bruch im Lehramt) und bezeichnete die Haltung seiner Vorgänger diesbezüglich sogar als „besessen“. Das zählt für die Scalfaris, Bertinottis und Pannellas viel mehr als eine gelegentliche Rede.
Aus welchem Grund aber scheinen die Reden von Papst Bergoglio so widersprüchlich zu sein.
Im Herbst 2013 verfaßte eine bekannte lateinamerikanische katholische Intellektuelle, die Universitätsdozentin und Publizistin Lucrecia Rego de Planas, die Bergoglio gut kennt und mit ihm schon zusammengearbeitet hat, ein Porträt des neuen Papstes. Darin schrieb sie:
Bergoglio „liebt es von allen geliebt zu werden und will allen gefallen. Und in diesem Sinn könnte er an einem Tag im Fernsehen gegen die Abtreibung sprechen und am Tag darauf in derselben Fernsehsendung die Abtreibungsfeministinnen der Plaza de Mayo segnen; könnte er eine wunderbare Rede gegen die Freimaurer halten und Stunden später mit ihnen im Club essen und trinken.
… das ist Kardinal Bergoglio, den ich aus der Nähe kennengelernt habe: An einem Tag damit beschäftigt, angeregt mit Bischof Duarte Aguer für die Verteidigung des Lebens und die Liturgie zu reden und am selben Tag, beim Abendessen, immer angeregt mit Msgr. Ysern und Msgr. Rosa Chavez für die Basisgemeinschaften und die schrecklichen Hürden der ‚dogmatischen Lehre‘ der Kirche. An einem Tag Freund von Kardinal Cipriani und Kardinal Rodriguez Maradiaga, der über Unternehmensethik und gegen die New Age-Ideologien spricht, und wenig später Freund von Casaldaliga und Boff, der über Klassenkampf und den ‚Reichtum‘ spricht, den die östlichen Praktiken der Kirche schenken könnten.“
Geht es um ein theologisches und philosophisches Vakuum im Denken? Um eine Art pastoralen Peronismus, der alles und das Gegenteil von allem enthält? Sein kultureller Hintergrund (er selbst spricht von einem „unvollständigen Denken“) ist miserabel, aber die pastorale Strategie gibt es und ist mehr als offensichtlich.
Karnevaliaden
Die inhaltlichen Widersprüche sind eine bewußte politische Entscheidung, die dazu dient, einen präzisen Zweck zu verfolgen. Die Fans feiern ihn begeistert: endlich ein moderner und laizistischer Papst. In der Tat scheint der strategische Kompaß dieses Pontifikats die „Entsakralisierung“ zu sein.
Das erklärt, neben dem Abrücken von den „nicht verzichtbaren Werten“, viele kleine und große Entscheidungen, die auf den ersten Blick untereinander in keinem logischen Zusammenhang zu stehen scheinen.
Das begann schon mit dem ersten Erscheinen auf der Mittelloggia von St. Peter am Abend des 13. März 2013, als er die priesterliche Stola und die rote Mozzetta, als Symbol des Martyriums des Petrus und der Jurisdiktion, als „Karnevaliade“ ablehnte.
Sofort bejubelten die Medien die „Entsakralisierung“ des Papsttums, die am selben Abend noch in weiteren Gesten zum Ausdruck kam, etwa dem „Buonasera“ statt „Laudetur Jesus Christus“ (Gelobt sei Jesus Christus), und der vierfachen Selbstbezeichnung als „Bischof von Rom“, aber kein einziges Mal als Papst.
Eine Entsakralisierung des Papsttums während gleichzeitig eine mythische Überhöhung des Menschen Bergoglio einsetzte. Es folgten kleinere Entscheidungen, wie die Weigerung die päpstliche Wohnung zu beziehen, und schwerwiegendere, wenn auch stets zweideutige, wie der Satz: „Wer bin ich, um zu urteilen?“, die Verurteilung der katholischen Proselytenmacherei und die sogenannte „geistliche Einmischung“ und damit der christliche Einfluß in der Welt.
Und war die Synode nicht der Versuch einer sensationellen Entsakralisierung der Familie? Und vor dem Tabernakel und bei der Wandlung keine Kniebeuge zu machen? Und die Zulassung aller zur Kommunion, die er bereits in Buenos Aires praktizierte?
Und zu behaupten, daß es für Christen keine „absolute Wahrheit“ gibt?
Sind die Aussagen gegenüber Scalfari, daß Gut und Böse lediglich subjektive Meinungen seien, nicht eine Relativierung der Objektivität der Moral?
Zu sagen, „es gibt keinen katholischen Gott“ relativiert das etwa nicht den Glauben? Und die Rede von Caserta vor den Evangelikalen?
Und die Unterstellung in der Predigt vom 20. Dezember 2013, die Gottesmutter habe unter dem Kreuz „vielleicht Lust gehabt sich zu fragen: wurde ich reingelegt“, weil die messianischen Verheißungen ihr wie „Lügen“ erschienen?
Ist das nicht eine Entsakralisierung der erhabenen Gestalt der Gottesmutter? Die katholische Lehre hat immer erklärt, was man im Katechismus nachlesen kann: „Während ihres ganzen Lebens, auch in ihrer letzten Prüfung [Vgl. Lk 2, 35], als Jesus, ihr Sohn, am Kreuz starb, wankte ihr Glaube nicht. Maria gab ihren Glauben, daß das Wort Gottes ‚in Erfüllung gehen wird‘, nie auf. Darum verehrt die Kirche in Maria die lauterste Glaubensgestalt“ (KKK 149).
Man könnte mit den sarkastischen (und manchmal auch abfälligen) Sprüchen über Christen fortsetzen, über jene, die den Rosenkranz beten, über die Priester im Talar, über Ordensschwestern die fasten … Die Perspektive lautet: Entsakralisierung der Liturgie und des klösterlichen Lebens.
Und dann die Orte: Der Imam, der eingeladen wurde, im Vatikan zu beten, wo er prompt Allah um den Sieg über die Ungläubigen bat; die Sixtinische Kapelle, die Porsche für ein Firmen-Event zur Verfügung gestellt wird; das Autonomenzentrum Leoncavallo und andere marxistische Gruppen, die am vergangenen 28. Oktober vom Papst eingeladen und um sich geschart wurden (und die wiederkommen); Patty Smith, die zum Weihnachtskonzert im Vatikan eingeladen wurde. Jetzt fehlt nur noch Vladimir Luxuria, nomen est omen im Vatikan. Und wann wird das erste Basketballspiel stattfinden?
Schiffbruch
Mit Bergoglio findet gleichzeitig eine Sakralisierung der typisch linken sozialen Themen statt. Genau deshalb steckt die lateinamerikanische Kirche seit Jahrzehnten orientierungslos in der Krise. Die jüngsten Zahlen des Pew Research Institut bestätigen den Einbruch der Katholischen Kirche in Lateinamerika. Trotz Bergoglio in Rom.
Statt die Abwanderung einzudämmen und Terrain zurückzugewinnen, zwingt er das gescheiterte Rezept nun der ganzen Kirche auf. Bald werden wir auch in anderen Ländern dieselben Ruinen sehen. Den Bergoglio-Effekt.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Gloria.tv/giornilenotti/CR
(1) Fausto Bertinotti, Jg. 1942, 1994–2006 Vorsitzender der altkommunistischen Partei Rifondazione Comunista, 1994–2008 Parlamentsabgeordneter, 2006–2008 Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer, 1975–1994 führender Vertreter der kommunistischen Gewerkschaft CGIL, 1972–1991 Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, bis 1994 der Partei der Demokratischen Linken, Selbstbezeichnung „ungläubig“.
(2) Eugenio Scalfari, Jg. 1924, Journalist, Publizist, aus Familie mit langer freimaurerischer Tradition, 1955 Mitbegründer der radikalliberalen, antiklerikalen Radikalen Partei, 1962–1968 Chefredakteur des Espresso, 1968–1972 Parlamentsabgeordneter der Sozialistischen Partei, 1976 Gründer der Tageszeitung La Repubblica, bis 1996 Chefredakteur, Kampf für die Legalisierung der Ehescheidung und der Abtreibung, Selbstbezeichnung: Atheist.
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↑1 | Marco Pannella, Jg. 1930, 1955 mit Scalfari Mitbegründer der Radikalen Partei, die sich als Nachfolgerin der historischen extremen Linken sieht, 1963–1967 und 1981–1983 Vorsitzender der Radikalen Partei, 1976–1994 mit Unterbrechungen Parlamentsabgeordneter von 1979–2009 Europaabgeordneter der Radikalen, Kampf für die Legalisierung der Ehescheidung und der Abtreibung, Pannella stilisierte sich als Gegner des Systems, war jedoch zeitlebens dessen Profiteur, Selbstbezeichnung: gottlos. |
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