Anmerkungen von Giuseppe Nardi
Als die Nachricht eintraf, war ich unterwegs, den ganzen Tag. Eine erzwungene Nachdenkpause. Es kam, wie es kommen mußte, sagen nun manche. Mußte es so kommen? Offensichtlich! Papst Franziskus „schränkt Feier der alten Messe ein“. So oder ähnlich lauten die eintreffenden Schlagzeilen. Auch an dümmlichen, wie könnte es anders sein, fehlt es nicht. Läßt sich das am Freitag veröffentlichte Motu proprio Traditionis custodes (Hüter der Tradition) spontan in einem aussagekräftigen Satz zusammenfassen? Geht das überhaupt? Ja, das geht und könnte folgendermaßen lauten: Papst Franziskus hat seinem Vorgänger Benedikt XVI. einen Faustschlag ins Gesicht versetzt! Doch das ist nur ein Aspekt, denn das eigentliche Ziel ist die Vernichtung des überlieferten Ritus, für den bestenfalls noch der Status einer musealen Attraktion gedacht ist.
Der erste Adressat des neuen Motu proprio von Franziskus ist also sein Amtsvorgänger, der um dieselbe Zeit, am 7. Juli 2007, mit dem Motu proprio Summorum Pontificum gewagt hatte, was in den Augen eines Teils der Kirche unerträglich war, so unerträglich, daß nichts die bodenlose Ablehnung abzumildern vermochte – nicht der Faktor Zeit, immerhin sind seither vierzehn Jahre vergangen, und nicht einmal der Triumph, Kardinal Jorge Mario Bergoglio auf den Stuhl des Petrus gehievt zu haben.
Und was ist mit den vielen Wohltaten, die Summorum Pontificum der Kirche verschafft hat? Was mit den guten Früchten, die es trägt?
Sie sind für die genannten Kräfte erst recht ein Grund, tabula rasa zu machen. Je eher, desto besser. Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin ist einer von diesen („Wir müssen dieser Messe ein für allemal ein Ende bereiten!“), der Liturgiker Andrea Grillo ein anderer. Sein Name steht für eine ganze Fronde hochgestellter Liturgiker, deren Energien in den vergangenen Jahren darin kumulierten, Summorum Pontificum zu torpedieren, zunächst versteckt und seit 2013 unverhohlen, aber ohne großes Geschrei, denn es hieß, die Zeit müsse „reif“ sein.
Andrea Grillo, Liturgiewissenschaftler am Päpstlichen Athenaeum Sant’Anselmo des Benediktinerordens in Rom, war es, der am 18. Februar 2018 forderte den „Zugang zum überlieferten Ritus einzuschränken“. So ist es nun geschehen.
Das schamlose Motu proprio
Das Motu proprio Traditionis custodes ist vor allem eines: Es ist schamlos, da Papst Franziskus nicht zögert, das bedeutendste Werk des Pontifikats von Benedikt XVI. noch zu dessen Lebzeiten zu vernichten. Daraus darf gefolgert werden, daß Franziskus sogar will, daß sein Amtsvorgänger diesen Akt der Rache miterlebt. Und ja, Benedikt XVI. lebt noch und muß mitansehen, was er durch seinen ebenso unerwarteten wie unverständlichen Amtsverzicht erst möglich gemacht hat.
Franziskus ist im neunten Jahr seines Pontifikats zur Überzeugung gelangt, daß die Zeit „reif“ ist, diesen Akt der Vernichtung noch selbst umzusetzen – schließlich wisse man nie, wer einem nachfolgt, wie Benedikt XVI. erleben mußte. Andererseits, und wahrscheinlicher, kam Franziskus zum Schluß, daß der deutsche Papst inzwischen so alt und so gebrechlich ist, daß er zum Gefangenen im Kloster Mater Ecclesiae geworden ist und zu keiner Gegenwehr mehr imstande wäre. Jedenfalls zu keiner, die Franziskus fürchten muß. Und ja, es ist auch eine Vergeltung für jenen Strich durch die Rechnung, den Benedikt XVI. im Zusammenwirken mit Kardinal Robert Sarah den Plänen von Franziskus nach der Amazonassynode gemacht hat, als dieser den priesterlichen Zölibat aufweichen wollte.
Der deutsche Schriftsteller Martin Mosebach schrieb nach dem abrupten Ende des Pontifikats von Benedikt XVI., daß vom Papst aus Bayern, wenn überhaupt, „nur“ Summorum Pontificum bleiben werde. Es schien ein zu hartes Urteil zu sein. Der Büchner-Preisträger blickte offenbar tiefer und erkannte frühzeitig, was der Amtsverzicht in Bewegung gesetzt hatte. Seit dem 16. Juli 2021 steht fest, daß vom Pontifikat von Benedikt XVI. nicht einmal Summorum Pontificum Bestand hat. Dieses Motu proprio von 2007, das dem überlieferten Ritus nicht die volle Freiheit, aber zumindest das Sonnenlicht zurückgab, wurde gestern von Papst Franziskus zertrümmert. Es wurde formal zwar nicht beseitigt, doch bleibt nichts von dem übrig, wofür es Benedikt XVI. erlassen hatte. Rein gar nichts. Art. 8 von Traditionis custodes besagt es unmißverständlich:
„Die Bestimmungen, Instruktionen, Zugeständnisse und Gebräuche, die nicht mit dem übereinstimmen, was vom vorliegenden Motu Proprio bestimmt ist, sind aufgehoben.“
Das gilt übrigens nicht nur für das Motu proprio Summorum Pontificum samt zugehöriger Instruktion Universae Ecclesiae von 2011, sondern auch für das Motu proprio Ecclesia Dei von 1988.
Die Dezentralisierung, die sich auf Zentralismus reimt
Traditionis custodes segelt im Kielwasser der von Franziskus verkündeten Dezentralisierung. Das klingt gut, und darauf scheint es im PR-Zeitalter auch im Vatikan einigen anzukommen. Die Bischöfe scheinen nun für ihren Jurisdiktionsbereich wieder zu bestimmen, ob und wie viele Meßorte im überlieferten Ritus und sogar wie viele heilige Messen es an diesen Meßorten im überlieferten Ritus geben darf – oder nicht. Doch Franziskus wäre nicht Franziskus, wenn sich hinter dieser Dezentralisierung nicht auch der neue Zentralismus verbergen würde. Die Formel ist also etwas komplexer.
Die Bischöfe dürfen alles „dezentral“, was gegen die Tradition gerichtet ist. Alles was ein wohlgesinnter Bischof aber für die Tradition tun möchte, ist ihm zentralistisch entzogen. Wenn es darum geht, Meßorte aufzuheben, Priestern die Erlaubnis zur Zelebration des überlieferten Ritus zu entziehen bzw. nicht zu bestätigen oder eine Ecclesia-Dei-Gemeinschaft aus einer Diözese zu entfernen, wie es jüngst der Bischof von Dijon tat, darf dies der Diözesanbischof exklusiv im Alleingang tun. Wenn es darum geht, eine neu entstehende Gemeinschaft der Tradition nach diözesanem Recht kanonisch anzuerkennen oder Neupriestern, die ab dem heutigen Tag geweiht werden, die nun wieder notwendige Erlaubnis zur Zelebration des überlieferten Ritus zu erteilen, sind dem Diözesanbischof die Hände gebunden. Seine Vollmachten und Zuständigkeiten wurden von Franziskus kassiert, schon in einem ersten Schritt am 1. November 2020 mit dem Motu proprio Authenticum charismatis und am 16. Juli noch mehr.
Die Errichtung neuer Personalpfarreien, wie der Erzbischof von Ferrara erst vor drei Wochen eine errichtet hat, wurde gestern von Franziskus ausdrücklich untersagt. Vielmehr verlangt er, daß selbst dort, wo es bereits Personalpfarreien oder ständige Meßorte des überlieferten Ritus gibt, der zuständige Diözesanbischof deren „Nützlichkeit“ überprüft. Vor allem habe er zu überprüfen, daß Gläubigengruppen der Tradition an den ständigen Meßorten und ihre Priester „die Gültigkeit und Rechtmäßigkeit der Liturgiereform, die Diktate des Zweiten Vatikanischen Konzils und des Lehramtes der Päpste“ „nicht ausschließen“.
Art. 3 des neuen Motu proprio läßt sich, ohne die Phantasie zu strapazieren, als Aufforderung von Franziskus an die Bischöfe verstehen, die Zahl der Personalpfarreien und Meßorte des überlieferten Ritus zu dezimieren und neue Meßorte nicht mehr zu genehmigen.
Am 28. Juni schrieb der traditionsverbundene französische Blog Paix Liturgique mit Blick auf das nahende Unheil:
„Die Feinde von Summorum Pontificum wollen Krieg.“
Der erste „Feind von Summorum Pontificum“, daran kann seit Freitag kein Zweifel mehr bestehen, heißt Papst Franziskus. Paix Liturgique zitierte damals Kurienerzbischof Arthur Roche, den neuen Präfekten der Gottesdienstkongregation, mit den Worten:
„Summorum Pontificum ist praktisch tot!“
Roche, alles andere als ein Freund des überlieferten Ritus – den Franziskus demnächst zum Kardinal kreieren dürfte –, ist seit gestern für alle liturgischen Fragen des überlieferten Ritus zuständig. Paix liturgique zitierte ihn noch mit einer weiteren Vorhersage, die sich bewahrheitete:
„Wir werden die Zuständigkeit in diesem Punkt an die Bischöfe zurückgeben, gerade aber nicht an die konservativen Bischöfe.“
Die gelobte Dezentralisierung ist ein negativer „Prozeß“, um einen Lieblingsbegriff des regierenden Papstes zu zitieren.
Abneigung gegen den überlieferten Ritus
Worauf genau zielt Traditionis custodes neben der erwähnten Rache an Benedikt XVI. ab? Das zweite Handlungsmotiv ist eine nie verebbte Abneigung gegen den überlieferten Ritus, das heilige Meßopfer und die damit verbundene Theologie. Es geht nunmal um mehr als nur um die vermeintliche Äußerlichkeit der Gebetsrichtung. Es geht um das Kirchenverständnis. Art. 1 des neuen Motu proprio besagt es:
„Die liturgischen Bücher, die von den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils veröffentlicht wurden, sind der einzige Ausdruck der lex orandi des Römischen Ritus.“
Klipp und klar!
Wer nun denken sollte, Franziskus sei das Opfer schlechter Berater geworden, etwa eines Andrea Grillo, der irrt sich doppelt und dreifach. Seit jenem 13. März 2013, dem Abend der Papstwahl, ist das Unverständnis von Franziskus gegenüber Traditionen – sinnbildlich für seine Abneigung gegen die Tradition – bekannt. Und er machte seither auch kein Hehl daraus. Franziskus ist sich in dieser Sache (und anderen) sein eigener schlechter Berater. Wer meint, daß Franziskus ein Getriebener sei, liegt damit nicht falsch. Allerdings ist er ein Getriebener seiner selbst. Sollte jemand aber annehmen, Franziskus treffe seine Entscheidungen nicht bewußt, überlegt und entschlossen, der hat nach mehr als acht Jahren dieses Pontifikats vom argentinischen Papst noch nichts verstanden. Franziskus ist ganz Hauptakteur, ganz Protagonist. Er läßt sich nicht manipulieren.
Und nun?
Der scheidende Distriktobere der Petrusbruderschaft, P. Bernhard Gerstle, zog erst am Donnerstag in der Tagespost eine überraschend positive Bilanz, was das Verhältnis zur Ortskirche im deutschen Sprachraum angeht. Keine 24 Stunden später kann man darüber nur mehr staunen. Katholisch.de, das Nachrichtenportal der Deutschen Bischofskonferenz, faßte seine Aussagen mit nunmehr so unglaublich scheinenden Sätzen zusammen wie: „Das Verständnis und die Wertschätzung für die außerordentliche Form sei deutlich gewachsen“ und „Keine Kluft zwischen Vertretern von ordentlicher und außerordentlicher Form“. Wie „deutlich“ das „Verständnis und die Wertschätzung“ für den überlieferten Ritus „gewachsen“ sind, hat Papst Franziskus gestern allen ins Stammbuch geschrieben – und wie! Gleiches gilt für die „Kluft“, die er im zitierten Art. 1 seines neuen Motu proprio aufgerissen und festgeschrieben hat.
Während Benedikt XVI. mit Summorum Pontificum seinem Titel eines Pontifex gerecht wurde, erweist sich Franziskus nicht als „Brückenbauer“. Mit Traditionis custodes reißt er Brücken ein, wie ein Kriegsherr, der hinter sich verbrannte Erde schaffen will.
Mit gutem Grund war wegen der in Teilen der Kirche vorherrschenden fehlenden Sensibilität von Papst Johannes Paul II. 1988 die Päpstliche Kommission Ecclesia Dei errichtet worden, um die Gemeinschaften der Tradition, die in der vollen Einheit mit Rom stehen, nicht den römischen Dikasterien des Novus Ordo auszuliefern. Auch diese Klugheit wurde am Freitag von Franziskus revidiert. Die genannte Kommission hatte er in einem ersten Schritt bereits am 19. Januar 2019 beseitigt. Im Art. 6 von Traditionis custodes verfügte er, daß die sogenannten Ecclesia-Dei-Gemeinschaften wie die Petrusbruderschaft, das Institut Christus König und Hohepriester, das Institut Bon Pasteur und andere ab nun der Ordenskongregation unterstehen wie die neurituellen Orden. Was das bedeutet, haben die Franziskaner der Immakulata bitter zu spüren bekommen. Die Ecclesia-Dei-Gemeinschaften wissen nun, daß sie sich keinen falschen Illusionen hinzugeben haben. Die päpstliche Willensbekundung ist eindeutig. Die Vorgehensweise von Kardinalpräfekt Braz de Aviz und von Kongregationssekretär Erzbischof Rodriguez Carballo OFM ist bekannt.
Mit der Übertragung aller Zuständigkeit der ehemaligen Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei an die Ordens- und die Gottesdienstkongregation wurde von Franziskus entschieden, die Elefanten in den Porzellanladen zu lassen. Die nun absehbar folgende Unruhe unter den Gläubigen des überlieferten Ritus und in den Ecclesia-Dei-Gemeinschaften wird groß sein und ist von Rom so angelegt, daß sich diese Unruhe noch steigern wird, sobald da und dort von Bischöfen oder den beiden römischen Kongregationen Maßnahmen ergriffen werden. Von Bischof Athanasius Schneider wurde vor wenigen Tagen in einem Radiointerview die Vermutung geäußert, daß ein Teil der Ecclesia-Dei-Priester in nächster Zeit zur Piusbruderschaft abwandern könnte, weil diese durch ihre größere Unabhängigkeit auch mehr Freiheiten genießt. Insgesamt, dessen scheint man sich auch in den Reihen der Lefebvrianer bewußt zu sein, ist die Wiederherstellung der Tradition in eine Ferne gerückt, die sich jener vor dem Motu proprio Ecclesia Dei nähert.
Über konkrete Reaktionen in den Reihen der Tradition, in den Ecclesia-Dei-Gemeinschaften oder auch der Piusbruderschaft etwas sagen zu wollen, wäre reine Spekulation. Tatsache ist jedoch, daß mit dem heutigen Tag eine starke Dynamik freigesetzt wurde.
Bild: Vatican.va/NLM (Screenshots)