Von P. Paolo M. Siano*
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wird auch in Österreich die Freimaurerei neu organisiert. Von den Freimaurern, die das NS-Regime überlebten, wurde wiederbelebt, was im Jahr 1918 zur Zeit der Ersten Republik mit dem Namen Großloge von Wien (GLvW) gegründet worden war. So lebte 1945 die Großloge von Wien für Österreich (GLvWfÖ) wieder auf, die 1952 von der Vereinigten Großloge von England anerkannt wurde. Im Jahr 1955, mit dem Abzug der Besatzungstruppen aus Österreich, nimmt die Großloge ihren heutigen Namen einer Großloge von Österreich (GLVO) an.
Von 1948 bis 1960 war Bernhard Scheichelbauer (1890−1969) Großmeister der österreichischen Freimaurerei (GLvWfÖ / GLvÖ), Freimaurer seit 1931, Staatsbeamter bis 1938, NS-Gegner, dann ab 1945 Beamter beim Bundespressedienst.
In der Hoffnung, daß die Kirche ihre anti-freimaurerische Position überprüfen würde, trifft Scheichelbauer 1948 den Erzbischof von Wien Theodor Kardinal Innitzer (1875−1955), um diesem zu sagen, daß die Freimaurerei keine Geheimgesellschaft ist, nicht atheistisch ist, alle Religionen respektiert, in der Loge sich eine beim Johannesevangelium aufgeschlagene Bibel befindet …
Scheichelbauer ersucht Kardinal Innitzer um eine „Entgiftung“ der Beziehungen zwischen Kirche und Freimaurerei, da es in seiner Großloge „gute Katholiken“ gibt …
Innitzer erklärt ihm, daß die Zulassung von Freimaurern zu den Sakramenten von Rom, vom Heiligen Stuhl, abhängt. Durch die Vermittlung einiger katholischer Persönlichkeiten (z. B. des Rota-Advokaten Carl Holböck, Priester und Professor für Kirchenrecht an der Universität Salzburg, und des Apostolischen Nuntius in Österreich, der einer der ältesten Adelsfamilien der einstigen Seerepublik Genua entstammende Msgr. Giovanni Battista Dellepiane, Titularerzbischof von Stauropolis und persönlicher Freund von Johannes XXIII.) bittet Großmeister Scheichelbauer den Heiligen Stuhl, die kanonische Position gegenüber der Freimaurerei zu überprüfen (vgl. G. Kuéss – B. Scheichelbauer, 200 Jahre Freimaurerei in Österreich, Verlag O. Kerry, Wien 1959, S. 243−250).
Der Vatikan erteilt eine negative Antwort, zunächst mit dem Artikel „Nulla è cambiato nella legislazione della Chiesa rispetto alla Massoneria“ („An der Gesetzgebung der Kirche in Bezug auf die Freimaurerei hat sich nichts geändert“, in: L’Osservatore Romano, 19. März 1950) des Theologen von Pius XII., Pater Mariano Cordovani OP, dann, indem das Buch von Großmeister Scheichelbauer: „Die Johannis-Freimaurerei: Versuch einer Einführung“, Wien 1953, im Januar 1954 auf den Index librorum prohibitorum, den Index der verbotenen Bücher, gesetzt wird (vgl. La Civiltà Cattolica, Bd. I, 1954, S. 341).
Während Freimaurer-Großmeister Scheichelbauer gegenüber der kirchlichen Hierarchie die Strategie des Dialogs verfolgt, fördert er in „internen“ Veröffentlichungen eine Mentalität, die mit dem Glauben der Kirche unvereinbar ist.
1949, kurz nach Beginn des Dialogs mit Kardinal Innitzer (und ich wiederhole, daß es sich um einen Dialog handelte, der darauf abzielte, die durch can. 2335, CIC 1917 auferlegte anti-freimaurerische Exkommunikation zu beseitigen), veröffentlichte die Großloge des Großmeisters Scheichelbauer ein Buch zu ihrem 30jährigen Jubiläum (1918−1948): Die Großloge von Wien für Österreich. Zum dreissigjährigen Bestand, Großloge von Wien für Österreich, Selbstverlag der Großloge von Wien für Österreich, Wien 1949.
Zwei Kapitel, das von Scheichelbauer und das des bayerischen Freimaurers Franz Carl Endres (1878−1954), lassen den aufmerksamen Leser die Unvereinbarkeit zwischen Kirche und Freimaurerei deutlich erkennen. Es ist genau Großmeister Scheichelbauer, der den Hauptgrund für den Konflikt zwischen Kirche und Freimaurerei darstellt: Die Kirche ist im Dogma verankert, während die Freimaurerei frei vom Dogma sein will. Darüber hinaus bekräftigt der Großmeister, daß die Freimaurerei den Glauben an Gott ohne konfessionelle oder dogmatische „Beschränkung“ postuliert. Trotz dieser Eingeständnisse glaubt Scheichelbauer, daß die anti-freimaurerischen päpstlichen Bullen nicht mehr gültig sind (vgl. S. 12). Darüber hinaus erwähnt der Großmeister die „Esoterik“ der Freimaurerei und, um die Bedeutung der Symbolik und der Riten der Freimaurer zu unterstreichen, zitiert er auch „Paracelsus“ (S. 12f), einen berühmten Arzt und Alchemisten des 16. Jahrhunderts.
Im Kapitel „Vom Wesen der Hochgrade“ führt Franz Carl Endres (u. a. Mitglied einer Schweizer Loge und des Obersten Rates des 33. Grades des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus von Frankreich) aus, daß die Mitglieder des Schottischen Ritus auf Esoterik spezialisierte Freimaurer („Esoterik“, „Spezialisiertes“, esoterische Kunst“: vgl. S. 16f) sind und daß der 18. Grad des Schottischen Ritus den mystischen Inhalt des freimaurerischen Denkens vertieft („daß der 18. Grad mehr mit den mystischen Bestandteilen freimaurerischen Gedankengutes sich erklärt“, S. 17).
Von 1947 bis 1952 ist die Esoterik eines der Studienthemen der Großloge von Wien für Österreich (vgl. Quatuor Coronati Berichte, Nr. 25, November 2005, Wien, S. 86−92 ) und die esoterische, gnostische und hermetische Mystik ist die Seele und das Ziel des Buches von Großmeister Scheichelbauer: „Die Johannis Freimaurerei. Versuch eine Einführung“ (Verlag O. Kerry, Wien 1953).
Der Osservatore Romano vom 17. Januar 1954 enthüllt in einem nicht gezeichneten Artikel auf der Titelseite die grundlegenden Konzepte dieses Buches des Freimaurer-Großmeisters Scheichelbauer. Die vatikanische Tageszeitung bestreitet die „Gerüchte“, wonach die österreichischen Freimaurer nicht unter die Exkommunikation des can. 2335 fallen würden, weil die Freimaurerei in Österreich jetzt „eine versöhnliche Haltung“ gegenüber der Kirche einnehme. Die beste Widerlegung dieser „Gerüchte“ ist in der Tat das Buch des Großmeisters Scheichelbauer, in dem als grundlegende Elemente für die freimaurerische Formung „Gnosis“, „Anthroposophie“, „Pantheismus“ genannt werden. Die Freimaurerei bietet, so Scheichelbauer, dem Eingeweihten „die Erkenntnis“ der Deckungsgleichheit seines eigenen Wesens mit dem göttlichen Wesen. Daher unterstreicht der Artikel der Vatikanzeitung „die Schwere dieser Ideen und Vorstellungen“ und daß sie nicht nur weit von der offenbarten Religion entfernt sind, sondern im grundlegenden und radikalen Widerspruch dazu stehen“ (vgl. A proposito di una condanna, in: L’Osservatore Romano, 17. Januar 1954, S. 1).
1959 bestätigt Scheichelbauer in seinem zweiten und letzten Buch „200 Jahre Freimaurerei in Österreich“ (mitverfaßt vom ehemaligen Großbibliothekar der Großloge von Österreich Gustav Kuéss), widerwillig die Position des Heiligen Stuhls, indem er einen Artikel der Wiener Freimaurer- Zeitung (der Großloge von Wien) von 1931 zitiert, daß sich die katholische Kirche nicht in der Bewahrung ihres doktrinären und religiösen Erbes in die Festung zurückziehen, sondern sich den lebendigen Kräften der neuen Zeit öffnen und dabei von der Freimaurerei lernen soll (vgl. S. 198f). Auch in diesem Buch vertritt der Großmeister die geheimnisvolle und esoterische Dimension der Freimaurerei (vgl. S. 252, 286f).
Das kulturelle Erbe der österreichischen Freimaurerei und die dialogische Strategie von Großmeister Scheichelbauer setzen sich mit seinen Nachfolgern an der Spitze der Großloge von Österreich fort. 1960 wird Carl Helmke neuer Großmeister der Großloge von Österreich, der bis 1969 im Amt bleibt. Zwischen 1965 und 1968 gelingt es Helmke, einen neuen Dialog mit hochrangigen Prälaten aufzunehmen, der länger und aus freimaurerischer Sicht fruchtbarer ist als Scheichelbauers Versuch, dem die Großloge jedoch Wertschätzung und Dankbarkeit entgegenbringt.
1967 dankt der damalige Deputierte Großmeister Ernst Schönmann anläßlich des 250. Jahrestages der Gründung der Freimaurerei in einem Artikel in englischer Sprache dem ehemaligen Großmeister Scheichelbauer, zwei sehr lehrreiche Bücher über die Freimaurerei geschrieben zu haben: „Bro Bernhard Scheichelbauer, to whom we have to be grateful for two very instructive books about masonry, guided the brotherhood until 1960“ („Bruder Bernhard Scheichelbauer, dem wir für zwei sehr lehrreiche Bücher über die Freimaurerei dankbar sein müssen, leitete die Bruderschaft bis 1960“, vgl. Journal für Freymaurer. Eine Festschrift der Großloge von Österreich zum 250. Jahrestag der Gründung der Englischen Großloge, Wien 1967, S. 9).
Scheichelbauer stirbt im Dezember 1969 kurz vor seinem 80. Geburtstag (vgl. Quatuor Coronati Berichte, Nr. 25/2005, Wien, S. 111). Auch nach seiner Amtszeit als Großmeister setzt die Großloge von Österreich, trotz ihrer initiatischen, esoterischen und illuministischen Kultur, die Versuche fort, die Kirche davon zu überzeugen, die Zugehörigkeit der Katholiken zur Freimaurerei zu legitimieren.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Von Katholisches.info bisher veröffentlicht:
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik II
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik I
- Deismus, Esoterik und Gnosis in den freimaurerischen Konstitutionen von 1723
- Spuren von Esoterik und Gnosis in der Freimaurerei vor 1717
- „Luzifer“ für Österreichs Freimaurer
- Das Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff 33. und Oskar Posner und der Dialog zwischen Kirche und Freimaurerei 1974–1980
- Die freimaurerische Doktorarbeit von Msgr. Weninger
- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
- Der „Fall Weninger“ – Ex-Diplomat, Priester, Kurialer, Freimaurer
Die Freimaurerei erklärt von einem Großmeister - Den Anklopfenden erwarten beim Freimaurerbund Initiation und Gnosis
- Baron Yves Marsaudon – Ein Hochgradfreimaurer im Malteserorden
- Die Loge Quatuor Coronati, der Großmeister und ein Bettelbruder
- „Katholik, der Loge beitritt, ist exkommuniziert“ – Kirchenhistoriker Paolo M. Siano über Kirche und Freimaurerei
- Kurze Antwort an einen Großmeister der Freimaurerei
- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Folder Freimaurermuseum Schloß Rosenau (Screenshot)