
Von P. Paolo M. Siano*
1723 ist das Jahr der ersten Konstitutionen der 1717 neugegründeten Großloge von London (später von England). Ihr Autor ist der presbyterianische Pastor und Freimaurermeister James Anderson (1679–1739). Die moderne Freimaurerei, die der „Moderns“-Maurer, baut keine Kirchen mehr, sondern will den Menschen, die Gesellschaft, die sozialen und religiösen Verhältnisse neu bauen.
In The Constitutions of the Free-Masons (London 1723) finden wir anstelle der Old Charges, der Alten Pflichten (dazu hier), neue Pflichten („Charges“, S. 49–56), die noch heute in der Freimaurerei gültig sind, zum Beispiel im Großorient von Italien (Antichi Doveri–Costituzione–Regolamento, Rom 2018). Die neue Pflichten legen im Kapitel 1 (The Constitutions, S. 50) fest, daß die Freimaurer „von nun an der Religion verpflichtet sind, in der sich alle Menschen einig sind, und ihnen ihre besonderen Meinungen überlassen; das heißt, gute und aufrichtige Männer oder Männer der Ehre und Ehrlichkeit zu sein“. Im Kapitel VI, 2 steht geschrieben, daß die Freimaurer der oben erwähnten universalen Religion angehören („as Masons, of the Catholick [sic!] Religion above-mention’d“, S. 54; katholisch bedeutet universell; s. die aktuelle Fassung der Großloge von England von 2016, S. 149). Diese Religion, mit der die Freimaurerei Männer aller Religionen und Konfessionen vereint (in einer alchemistischen Coincidentia oppositorum), ist ganz und gar nicht die katholische christliche Religion (wie hingegen einige anglophile katholische Freimaurer behaupten), sondern eine natürliche, anthropozentrische und rationalistische Religiosität, die Dogmen auf die Ebene bloßer Meinungen verbannt. Sie ist Deismus, wie von englischen Freimaurern zugegeben wird [AQC 78 (1965), S. 50–51, 55].
Der Historiker David Stevenson merkt an, daß Anderson als Pastor in seinen Predigten Katholiken und Deisten verabscheute, aber als Freimaurer in den Constitutions auch den Deismus in die freimaurerische Universalreligion mit einschließt (vgl. Heredom, Bd. 10/2002, Scottish Rite Research Society, Washington D.C. USA, S. 97, 115f, 119–121, 127 sowie S. 136, Anmerkung 70).
Mehr noch: Sogar in den Constitutions von 1723 gibt es Spuren von Esoterik und Gnosis. Hier eine Zusammenfassung:
Auf dem Frontispiz befindet sich eine Darstellung von Phoebus-Apollo, dem strahlenden Sonnengott, der jung und nackt mit seiner Quadriga den Himmel bereist. Phoebus, Gott der Wahrsagung, gibt Leben und Tod (alchemistische Tod-Wiedergeburt?), liebt sowohl Daphne als auch Hyakinthos (göttliche, initiatische Bisexualität?). Das Bild des Gottes zusammen mit dem des Kainiten Tubal-Kain ist bereits in einer alchemistischen Veröffentlichung kleinen Umfangs enthalten, die im 14. Jahrhundert in Florenz gedruckt wurde (vgl. Un Libretto di Alchimia inciso su lamine di piombo nel secolo XIV, Città di Castello 1910, S. 27, 30). Auf der Titelseite der Constitutions ist ein Vogel dargestellt, der dem Ibis, dem Symbol von Hermes Trismegistos, zu ähneln scheint.
Im 17. Jahrhundert traf sich in London in The Devil’s Tavern (Wirtshaus des Teufels) in einem Raum namens „The Oracle of Apollo“ der Apollo Club, ein literarischer Club, der auch einige Oden an den Teufel rezitierte. Die Devil’s Tavern war auch Treffpunkt für einen libertinen und blasphemischen Kreis, den Hellfire Club (Höllenfeuerklub), zu dem der Herzog von Wharton gehörte, ein Freimaurer, der in den Constitutions von 1723 als neugewählter Großmeister dargestellt ist! Ab 1722 wurde in der Devil’s Tavern eine Loge mit dem Namen „Devil“ (Teufel) errichtet. Im Apollo-Saal der Devil’s Tavern hielt die Großloge von London von 1725 bis 1767 mindestens 75 Versammlungen ab [vgl. The New England Freemason, Nr. 12, S. 543–544; AQC 11 (1898), S. 30; vgl. G. Oliver, in W. Hutchinson, Spirit of Masonry, 1843, S. 12].

Im historisch-legendären Teil der Constitutions von 1723 haben die vier Söhne von Lamech, die Kainiten, nicht die herausragende Stellung wie in den früheren Old Charges (Alten Pflichten) des XV. –XVIII. Jahrhunderts. Jetzt ist es Gott, der die Kunst / die Wissenschaft der Geometrie / das Maurerhandwerk direkt an Adam und dieser dann an seine Söhne Kain und Seth weitergibt. Abel wird nicht erwähnt (S. 1f).
Wie die jüdische Kabbala behauptet, Gott habe die Kabbala-Geheimnisse an Adam weitergegeben, so behauptet Anderson, daß Gott die Geometrie / Baukunst dem Adam weitergegeben habe. Tatsächlich präsentiert sich die moderne Freimaurerei als eine Initiationsgesellschaft und als eine spirituelle Kunst, die Eingeweihte untereinander und mit dem Göttlichen verbindet. In einem Lied im Anhang zu den Constitutions wird die Freimaurerei als vom Himmel offenbarte göttliche Kunst bezeichnet („Craft divine!… from Heav’n reveal’d“, S. 83).
Auch in den Constitutions von Anderson tritt Kain faktisch als erster Maurer und Baumeister auf, der eine Stadt baut. Anderson schreibt, daß Kain Fürst der halben Menschheit ist und seine Nachkommenschaft sein königliches Vorbild nachahmte und Wissenschaft und Maurerhandwerk verbesserten (S. 2). In einer Anmerkung wird den Nachkommen Kains (Tubal-Kain, Jabal …) die Erfindung der Metallverarbeitung, der Architektur und anderer Künste zugeschrieben (S. 2). Unter den Bewahrern der Baukunst wird auch Nimrod, der König von Babylon, gelobt. In einer Anmerkung erklärt Anderson, daß Nimrod Rebell bedeutet, und daß er als „Baal“ und „Bacchus“ verehrt wurde (S. 4).
Anderson erwähnt die Weisen der Chaldäer, die „Magier“ (daher der Begriff: Magie), und die Priester des alten Ägypten als Bewahrer und Übermittler der Maurerkunst und führt aus, daß über die Chaldäer, die Magier, Hiram Abiff und Moses nur in einer konstituierten Loge gesprochen werden soll! Ein weiterer Bewahrer der Maurerkunst ist Ham („Cam“), einer von Noahs Söhnen. Pythagoras und Euklid werden ebenfalls zu den Hütern der Baukunst gerechnet (vgl. S. 4–5, 8, 16, 20–21).
Es ist gut zu wissen, daß Ham in der magischen Literatur, zumindest seit dem 16. Jahrhundert, mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht wird (vgl. B. E Jones, Freemasons‘ Guide and Compendium, London 1950, S. 314).

In den Constitutions lobt Anderson den Architekten Vitruvius (S. 25) und stellt fest, daß Geometrie in Zeiten der Unwissenheit als Anrufung von Geistern angesehen wurde (S. 36, Anmerkung*). Der Gelehrte Frances Yates (1899–1981) sieht eine Ähnlichkeit zwischen diesen Aussagen von Anderson und dem, was der Magier John Dee (1527–1608) in seinem Vorwort zu Euklids Mathematik schrieb: Dee lobte Vitruv und bezeichnete jene als „Unwissende“, die ihn der Geisterbeschwörung beschuldigten (The Rosicrucian Enlightenment, London–New York 2002, S. 271–272).
Die Gelehrte Susann Mitchell Summers erbrachte den Nachweis, daß Anderson die Schriften von John Dee und anderen Magiern und Okkultisten besaß (siehe The Square, Dezember 2018, Addlestone, UK, S. 18).
In den Constitutions von 1723 wird das „leuchtende und freie Genie“ der Freimaurer erwähnt und in einem der Lieder im Anhang zu den Konstitutionen das mächtige Genie der Großloge besungen („The Mighty Genius of the lofty Lodge“, S. 80). Auf der Titelseite der Constitutions von 1784 erscheint „The Genius of Masonry“ (Der Genius der Freimaurerei), ein geflügelter Engel, der Licht trägt (ein Luzifer), der als Sie („She“) bezeichnet wird. Initiatische Androgynie?
Im zweiten Kapitel der freimaurerischen Pflichten schreibt Anderson, daß ein Freimaurer, selbst wenn er ein Verbrechen gegen den Staat begeht, nicht aus der Loge ausgeschlossen werden kann und eine unwiderrufliche („indefeasible“), unauslöschliche Verbindung mit der Loge aufrechtbleibt (S. 50).

Interessant ist auch Andersons The New Book of Constitutions von 1738, das von der Großloge von London in der Devil’s Tavern genehmigt wurde. Im Anschluß an sein Vorwort befindet sich das Bild einer sitzenden Frau, die von verschiedenen Objekten umgeben ist, darunter dem Caduceus des Merkur (S. X), der geflügelte Stab, um den sich zwei Schlangen winden, ein Symbol von Hermes Trismegistos. Im Anhang zum New Book of Constitutions findet sich eine Broschüre aus dem Jahr 1730, A Defence of Masonry (Eine Verteidigung der Freimaurerei), in der Riten und Grundsätze der Freimaurerei mit denen der antiken heidnischen Mysterien, der Ägypter, Pythagoräer, Druiden und Kabbalisten in Verbindung gebracht werden (S. 216–226).
1739 wurde in London ein posthumes, nicht freimaurerisches Werk von Anderson in zwei Bänden veröffentlicht: News from Elysium: or Dialogues of the Dead (Nachrichten aus Elysium: oder Dialoge der Toten). Auf dem Frontispiz beider Bände ist die Figur von Hermes Trismegistos zu sehen, der am Himmel fliegt und seinen Caduceus in der Hand hält [vgl. AQC 18 (1905), S. 34–37]. Auf dem zweiten Bild scheint Hermes/Merkur weibliche Brüste zu haben. Androgynie?
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Katholisches.info veröffentlichte bisher von ihm:
- Spuren von Esoterik und Gnosis in der Freimaurerei vor 1717
- „Luzifer“ für Österreichs Freimaurer
- Das Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff 33. und Oskar Posner und der Dialog zwischen Kirche und Freimaurerei 1974–1980
- Die freimaurerische Doktorarbeit von Msgr. Weninger
- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
- Der „Fall Weninger“ – Ex-Diplomat, Priester, Kurialer, Freimaurer
Die Freimaurerei erklärt von einem Großmeister - Den Anklopfenden erwarten beim Freimaurerbund Initiation und Gnosis
- Baron Yves Marsaudon – Ein Hochgradfreimaurer im Malteserorden
- Die Loge Quatuor Coronati, der Großmeister und ein Bettelbruder
- „Katholik, der Loge beitritt, ist exkommuniziert“ – Kirchenhistoriker Paolo M. Siano über Kirche und Freimaurerei
- Kurze Antwort an einen Großmeister der Freimaurerei
- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Google Books/MiL (Screenshots)
Gibt es eigentlich eine philosophisch-theologische Analyse aus der katholischen Perspektive über das komplette Corpus Hermeticum? Also eine wissenschaftliche Abhandlung? Wenn ja welche?