
Von P. Paolo M. Siano*
1717 wurde in London die moderne Freimaurerei ins Leben gerufen, die 1723 mit den Konstitutionen von James Anderson den Deismus annahm, also eine natürliche Religiosität, in der die Glaubensdogmen zu subjektiven Meinungen werden. Normalerweise behaupten die Apologeten der Freimaurerei (Freimaurer und Nicht-Freimaurer), aber auch anti-freimaurerische Gelehrte, daß die Freimaurerei vor 1717 vollständig christlich war und zitieren als Beweis die „Old Charges“ (Alte Pflichten). Das sind Manuskripte des 14.–18. Jahrhunderts, die als Grundlage für freimaurerische Tradition und Vorschriften dienen und im allgemeinen eine legendäre Geschichte der Freimaurerei enthalten, in der biblische und historische Gestalten, chronologische Fehler und legendäre Elemente durcheinander gemischt sind.
Englischsprachige Gelehrte wie Frances Yates, David Stevenson und Marsha Keith Schuchard haben das Verdienst, nachzuweisen, daß die Esoterik, insbesondere die humanistische der Renaissance (Hermetik, Alchemie, Gnosis, Magie …), in die Freimaurerei bereits vor 1717 Eingang fand: in Schottland zumindest seit dem Ende des 16. Jahrhunderts und in England mindestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts, wenn nicht früher. Auch unabhängig von den oben genannten Autoren läßt eine sorgfältige Lektüre der Old Charges Spuren der Esoterik erkennen. 1872 veröffentlicht der englische Freimaurer William Hughan (einer der zukünftigen Gründer der berühmten Loge Quatuor Coronati Nr. 2076) The Old Charges of British Freemasons, einen Band, in dem verschiedene Old Charges der britischen Freimaurer aus der Zeit des 16./17. Jahrhundert gesammelt sind. Die Alten Pflichten, die von etwa 1550 bis 1680 reichen, beginnen mit einer Anrufung der Heiligsten Dreifaltigkeit, enthalten ein Bekenntnis zum christlichen Glauben und zur Treue zur Kirche (wobei nicht angegeben ist, ob katholisch oder anglikanisch). Wie ich aber persönlich feststellen konnte, enthalten sie auch ELEMENTE, die zusammen einen ESOTERISCHEN, GNOSTISCHEN und sogar MAGISCHEN Einfluß auf „gebildete“ Kreise der britischen Freimaurerei zeigen. Die Vereinigung von Christentum und Gnosis/Magie ist eine für die Esoterik und für Magier wie John Dee (1527–1608) typische „Coincidentia oppositorum“.
Diese ELEMENTE kurzgefaßt:
- Die Freimaurerei oder Maurerkunst wird mit der Geometrie gleichgesetzt, der Grundlage und fünften der sieben freien Künste.
- Alle Künste und Wissenschaften, einschließlich der sieben freien, und der Geometrie-Freimaurerei sind von den vier Söhnen von Lamech erfunden, unter denen sich Tubal-Kain befindet (was auch das Eintrittswort in der modernen Freimaurerei zum 1. oder 3. Grad ist). Wir wissen aus der Bibel, daß Lamech ein Nachkomme Kains ist, der als der erste dargestellt wird, der eine Stadt gebaut hat und damit faktisch der erste Maurer ist.
- Im Wissen darum, daß Gott sich wegen der Sünden der Menschen rächen will („vengeance“), retten die vier Söhne des Lamech alle Wissenschaften und Künste vor der Sintflut, indem sie diese auf zwei Säulen schreiben. Auf jeder Säule stehen alle Wissenschaften und Künste.
- Eine dieser beiden Säulen findet Hermes, „Vater der Weisen“, der die Wissenschaften an alle Menschen weitergibt.
- Abraham lehrt die Ägypter die sieben Wissenschaften. Die Wissenschaften werden von Euklid an Pythagoras weitergegeben.
- Es gibt auch eine implizite Laudatio auf den Turm von Babel oder Babylon und auf König Nimrod, der ihn bauen ließ und als erster den Freimaurern Regeln gab.
Mit anderen Worten, den Kainiten [so heißt auch eine gnostische Sekte des 2. Jahrhunderts n. Chr.] wird die Erfindung und Rettung aller Wissenschaften (insbesondere der Geometrie – Freimaurerei) zugeschrieben, die später von „Hermes“ oder Hermes Trismegistos, griechisch-ägyptischer Gott der Magie, dem eine Reihe gnostischer und magischer Schriften, das Corpus Hermeticum, zugeschrieben wird, daher der Begriff Hermetik. Zu den Lehren des Hermetismus gehören, wie wir wissen: Gnosis, Pantheismus, Magie, Göttlichkeit des Menschen und Androgynie Gottes (vgl. C. Moreschini, Storia dell’Ermetismo cristiano [Geschichte der christlichen Hermetik], Brescia 2000, S. 9–10, 21–32 127–132).
In den oben genannten Old Charges heißt „Hermes“ „Father of Wisdom“ („Vater der Weisheit“) oder „Father of wise men“ („Vater der weisen Männer“). Ich entdeckte, daß in einem italienischen alchemistischen Text des Venezianers Giovan Battista Agnello (oder Agnelli), der 1566 in London mit dem Titel Apocalypsis spiritus secreti gedruckt wurde, von „Hermes, Vater aller Philosophen“ gesprochen wird (S. 12). Kurz gesagt, eine alchemistisch-hermetische Präsenz, die sehr diskret ist, ist in der freimaurerischen Mentalität der Old Charges des 16. und 17. Jahrhunderts nicht zu leugnen.
Unter den Old Charges ist das Cooke-Manuskript das vielleicht interessanteste, das nicht im Hughan-Band enthalten ist. The Cooke wurde 1861 in London veröffentlicht und ist um 1490 datiert. 1938 haben drei englische Gelehrte (zwei davon zweifelsfrei Freimaurer), Douglas Knoop, G. P. Jones und Douglas Hamer, in ihrem Buch The Two Earliest Masonic Mss. (Manchester University Press, 1938) bestätigt, daß das Cooke-Manuskript aus der Zeit um 1400–1410 stammt, während der Inhalt sogar auf das letzte Viertel des vorhergehenden Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, also zwischen 1375 und 1400 (vgl. ebd., S. 21–22).
Der Cooke enthält, trotz der Anrufung der Heiligsten Dreifaltigkeit und dem Bekenntnis zum christlichen Glauben, auch die sechs Punkte, die ich in den Old Charges des 16./17. Jahrhunderts gefunden habe, mit der Variante, daß nach der Sintflut eine Säule der Kainiten von „Hermes the philosopher“ und die andere von „Pythagoras“ gefunden wird (vgl. ebd., S. 47, 49). Hermes und Pythagoras also. Ist es ein Zufall, daß Hermetik und Pythagoräismus im esoterischen Panorama der modernen Freimaurerei nach 1717 gedeihen werden?
Zumindest zwischen dem späten 14. und frühen 15. Jahrhundert lassen Dokumente der britischen Freimaurerei neben biblischer Hingabe und einem Bekenntnis zum christlichen Glauben einen esoterischen, gnostischen und hermetischen Geist erkennen, der in der modernen Freimaurerei bis heute deutlicher zum Ausdruck kommt.
Einige Ähnlichkeiten habe ich auch zwischen diesen Old Charges und einem Text mittelalterlicher Engelsmagie, der „Ars Notoria“, entdeckt, der von Robert Turner (London 1656) ins Englische übersetzt wurde. Der Text beginnt mit einem Lob der Heiligsten Dreifaltigkeit und behauptet, die Kunst zu lehren, die Gott durch einen Engel den König Salomo gelehrt hat, eine Kunst, die es erlaubt, alle Wissenschaften und die sieben freien Künste zu kennen. Es gibt auch Gebete an die Engel, um alles über die Wissenschaften einschließlich der Geometrie zu erfahren.
Wenn wir zu den Old Charges zurückkehren (siehe oben, Punkt 6), sehe ich eine interessante Ähnlichkeit zwischen der Episode des Turms von Babel (in der der Mensch behauptet, aus eigener Kraft in den Himmel zu kommen), dem Geist der Magie (der Anspruch, das Heilige oder Göttliche zu manipulieren) und dem Freimaurer-Ritual nach 1717, das für sich in Anspruch nimmt, seine Eingeweihten, d. h. Männer aller Religionen, ohne Dogmen und religiöse Autoritäten mit dem Göttlichen zu verbinden und den rituellen Raum der Loge heilig zu machen. Das ist genau die freimaurerische Magie, die der Ritualität der regulären und traditionellen Freimaurerei nach 1717 eigen ist.
Darüber hinaus erinnert mich der kainitische Ursprung (natürlich nicht historisch, sondern philosophisch, esoterisch) der Geometrie-Freimaurerei der Alten Pflichten vor 1717 an eine Theorie, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der freimaurerischen Literatur aufgetaucht ist: Hiram Abiff, der Architekt des Tempels von Salomo und Held der Freimaurer-Meister, ist ein Nachkomme von Tubal-Kain (einem der vier Söhne Lamechs!), der seinerseits von Kain abstammt, der aus der Verbindung von Eva mit … Luzifer geboren wurde! Ich fand heraus, daß diese esoterische Legende (Kain, der Sohn Luzifers!) keine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist, sondern bereits im mittelalterlichen kabbalistischen Text des „Sefer-Ha-Zohar“ zu finden ist (vgl. F. Lachower – I. Tishby, The Wisdom of the Zohar. An Anthology of texts, Bd. 2, London – Washington 1994, S. 530).
Schließlich erschien 2019 das Buch Testament eines Freimaurers … (Delta X Verlag, Wien) des Freimaurers Dieter Hönig (GLvÖ) mit einem lobenden Vorwort des Großmeisters der Großloge von Österreich (GLvÖ) Georg Semler (wie ich hier geschrieben habe, lobt Semler das freimaurerfreundliche Buch von Msgr. Weninger). Dieter Hönig erwähnt die geistige kainitische Abstammung der Freimaurer: Tubal-Kain, der große Vater der Freimaurer, lebt im Feuerheiligtum im Mittelpunkt der Erde (vgl. S. 172–173).
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Katholisches.info veröffentlichte bisher von ihm:
- „Luzifer“ für Österreichs Freimaurer
- Das Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff 33. und Oskar Posner und der Dialog zwischen Kirche und Freimaurerei 1974–1980
- Die freimaurerische Doktorarbeit von Msgr. Weninger
- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
- Der „Fall Weninger“ – Ex-Diplomat, Priester, Kurialer, Freimaurer
Die Freimaurerei erklärt von einem Großmeister - Den Anklopfenden erwarten beim Freimaurerbund Initiation und Gnosis
- Baron Yves Marsaudon – Ein Hochgradfreimaurer im Malteserorden
- Die Loge Quatuor Coronati, der Großmeister und ein Bettelbruder
- „Katholik, der Loge beitritt, ist exkommuniziert“ – Kirchenhistoriker Paolo M. Siano über Kirche und Freimaurerei
- Kurze Antwort an einen Großmeister der Freimaurerei
- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana