Von P. Paolo M. Siano*
Von 1974 bis 1980 fand ein offizieller Dialog zwischen Vertretern der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) und einer Kommission der Deutschen Bischofskonferenz statt. In seinem Artikel „Die Freimaurerei und die Deutsche Bischofskonferenz“ (in Stimmen der Zeit, Nr. 6/1981, S. 409–422) berichtet Bischof Joseph Stimpfle (1916–1996), Bischof von Augsburg (1963–1992), Ritter des Heiligen Grabes (1970), Vorsitzender der oben genannten katholischen Kommission, daß diese Freimaurer des VGLvD das Internationale Freimaurerlexikon (Abkürzung: IFL) der Freimaurer Eugen Lennhoff und Oskar Posner als „qualifizierte Quelle“ vorstellten, um mehr über freimaurerisches Denken zu erfahren. Das IFL (Erstveröffentlichung Wien 1932) ist Gegenstand von Nachdrucken (1975ff) sowie einer Neuauflage im Jahr 2000, deren sechste Auflage aus dem Jahr 2011 stammt.
Eugen Lennhoff (1891–1944), jüdischer Journalist aus Basel, ist seit 1920 Freimaurer der Großloge von Wien, deren Großsekretär er wird. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift Wiener Freimaurer-Zeitung (1923–1933). In den 33. Grad des Alten und Anerkannten Schottischen Ritus (AASR) erhoben, wurde er zum Gründer und von 1925 bis 1931 zum souveränen Großkommandeur des ersten Obersten Rates des AASR von Österreich.
Oskar Posner (1878–1932), Arzt in Karlsbad (ab 1918 Tschechoslowakische Republik), ist seit 1910 Freimaurer, zuerst in einer Loge in Breslau (Schlesien), dann in Karlsbad und schließlich in Saaz (beide Deutschböhmen). Er ist Mitbegründer und zugeordneter Großmeister der Großloge „Lessing zu den drei Ringen“ der Tschechoslowakei. Er verfaßte die Rituale dieser Großloge und einen Leitfaden für Logen-Lehrlinge. Ab 1924 leitet er die im böhmischen Reichenberg herausgegebene Logenzeitschrift Die drei Ringe. Auf seine Anregung hin kommt es 1927 zur Gründung der Prager Forschungsloge Quatuor Coronati amicorum historiae et philosophiae artis regiae liberorum muratorum Pragensis. [1]
In der Erklärung der deutschen Bischöfe von 1980 zur Unvereinbarkeit zwischen Kirche und Loge (vgl. La Civiltà Cattolica, 1980, III, S. 487–495) wird das IFL im Hinblick auf den freimaurerischen Relativismus erwähnt. In seiner hier besprochenen Doktorarbeit (PUG 2019) kritisiert Msgr. Michael H. Weninger diese Erklärung und verteidigt die deutschsprachige Freimaurerei. In Wirklichkeit finden wir im IFL neben dem Relativismus noch viel tiefere Gründe für die Unvereinbarkeit zwischen Kirche und Freimaurerei, die von den deutschen Bischöfen nicht behandelt wurden: Esoterik, Magie und Okkultismus.
Nun gehe ich auf das IFL (Ausgabe von 1932 im unveränderten Nachdruck von 1975) ein und gebe in Klammern die Begriffe mit der jeweiligen Spaltennummer an.
1. Antidogmatisches und relativistisches Denken
Es wird der Geist der Aufklärung gelobt, der seit dem 18. Jahrhundert in den Wurzeln der Freimaurerei vorhanden ist. Die Aufklärung kämpft gegen den Obskurantismus des Dogmas (vgl. Aufklärung, 105–106). Die Freimaurerei übernimmt vom Deismus (Naturreligion, ohne Dogmen) die Toleranz (Deismus, 329). Die Freimaurerei lehnt das Dogma ab, jedes Dogma, daher ist sie der katholischen Kirche feindlich gesinnt (vgl. Dogma, 374). Ausgangspunkt der Freimaurerei ist nicht Gott als Dogma (vgl. Kritizismus , 881–882). Die freimaurerische Ethik ist laizistisch, humanitär, nicht religiös oder dogmatisch (vgl. Laizismus, 898). Die Freimaurerei hat ein relativistisches Verständnis der Wahrheit (vgl. Philosophie, 1207; Wahrheit, 1666). Der Relativismus, trefflich ausgedrückt durch den Satz des Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, ist der Standpunkt der Freimaurerei (vgl. Relativismus, 1300–1301). Die freimaurerische Toleranz ist den Dogmen feindlich gesinnt (vgl. Toleranz, 1585).
Ich glaube, daß mit einer solchen anthropozentrischen und relativistischen Grundlage die freimaurerische Ritualität an sich Magie ist.
2. Esoterik, Freimaurerkult
Die wahre Lehre der Freimaurerei ist esoterisch, d. h. den Eingeweihten vorbehalten (vgl. Esoterisch, exoterisch, 450). Freimaurerei ist Erfahrung (Weihe, Einweihung, Wiedergeburt), sie kann nicht in Worten erklärt werden (vgl. Erlebnis, 446). Die rituellen Freimaurerarbeiten sind: symbolische Handlungen zum Bau des Tempels der Humanität; ein Kult ohne Dogmen und ein spirituelles Werk, in dem ein „Fluidum“ die Mitglieder vereint (vgl. Symbol, 1541–46). Trotz gegenteiliger Aussagen macht das IFL den magischen Charakter der rituellen Freimaurerarbeit deutlich (vgl. Arbeit als Mysterium, 85; Kultus, Kult, Freimaurerischer, 889–890).
2.1 Elemente der Alchemie, Hermetik, Kabbala, Magie
Das IFL macht das Vorhandensein von Elementen der esoterischen/okkulten Wissenschaften im symbolisch-rituellen System der deutschsprachigen Freimaurerei unabhängig von den Behauptungen einzelner Freimaurer deutlich. Alchemistische Elemente und Einflüsse finden sich in den Ritualen und Symbolen der Freimaurerei, zum Beispiel zum Thema Tod–Wiedergeburt (vgl. Alchimie, 41; Hexagramm, 695). Auch Elemente der jüdischen Kabbala (vgl. Kabbala, 806–809). Alle rituellen Arbeiten sind magisch. In der Freimaurerei finden wir Elemente der Magie, einschließlich der Symbolik des Lichts (vgl. Magie, 979; Wort, Das verlorene, 1723; Tarot, 1555). Hermes Trismegistos ist ein wichtiger Bezugspunkt in Alchemie, Magie und Freimaurerei (vgl. Hermes Trismegistos, 689–690). Für Freimaurer ist die Figur des Königs Salomo wichtig, verbunden mit magischen, alchemistischen, kabbalistischen Traditionen (vgl. Salomo, König, 1373/74). Kabbalistische, alchemistische und gnostische Elemente finden sich in den freimaurerischen Hochgraden (vgl. Hochgrade, 702; Schottengrade, 1401–1402).
2.2 Alte Geheimnisse, Mystik, Initiation, Tod–Wiedergeburt
Das IFL verbindet die Freimaurerei mit den antiken heidnischen Mysterien in Bezug auf die freimaurerische Ritualität von symbolischem und spirituellem Tod und Wiedergeburt (vgl. Mysterien, 1080–82; Initiationsritus, 741; Wiedergeburt, 1701). Die freimaurerische Initiation ist unauslöschlich, man bleibt für immer ein Freimaurer (vgl. Character indelebilis, 265f). Die Freimaurerei ist eine mystische Kunst (vgl. Meisterverpflichtung, 1020), die durch Riten und Symbole die Vereinigung mit Gott ermöglicht (vgl. Mystik, 1087f; Unio mystica, 1620; Schlange, Mystische, 1394). Die Legende von Hiram, nach dem sich jeder Maurermeister formt, erinnert an die alten Menschenopfer der Maurer (vgl. Bauopfer, 135f). Im 3. Grad findet das symbolische Menschenopfer („symbolischer Opfertod“) des neuen Meisters statt (vgl. Hiram, 700).
2.3 Vereinigung der Gegensätze (Licht–Finsternis …), der „Luzifer“ …
Das IFL weist die gegen Freimaurer gerichteten Vorwürfe des Luziferismus als fantastisch und verlogen zurück, insbesondere jene des 30. Grades des AASR, von denen angenommen wird, daß sie mit dem Engel des Lichts „Luzifer“ oder „Eblis“ in Kontakt stehen (vgl. Taxil, 1558–61; Luciferianische Freimaurerei, 962). Das IFL lehrt, daß die Eingeweihten die Vereinigung der Gegensätze, die Versöhnung der Feinde, suchen: Licht–Finsternis, Gut–Böse, Leben–Tod (vgl. Lichtsymbolik, 934). Das doppelte Dreieck oder Hexagramm repräsentiert in der Freimaurerei die Vereinigung der Gegensätze, einschließlich des Erbauerprinzips und des Zerstörungsprinzips (vgl. Dreieck, 379). Der alte Dualismus lehrt die Existenz zweier Prinzipien: des Guten und des Bösen, Gottes und des Teufels (vgl. Dualismus, 387). Ich stelle jedoch fest, daß die Initiationslogik der Vereinigung der Gegensätze dazu führen kann, auch an die Vereinigung Gott–Teufel zu glauben. Tatsächlich ist im IFL auch die Rede vom Freimaurer Mario Rapisardi (1844–1912), der in seinem Gedicht „Luzifero“ den „endgültigen Sieg von Wahrheit und Gerechtigkeit“ besingt (vgl. Rapisardi, 1279) und lobt Luzifer gegen Gott.
Der 30. Grad des AASR, der neutemplerische, lehrt „den Sieg der Gewissensfreiheit“ (vgl. Ritter Kadosch, 1320) und schließt den 28. Grad mit ein, der Elemente der Alchemie und des Lichtkults gegen die Dogmen enthält (vgl. Ritter der Sonne, 1318).
In den ersten drei Graden repräsentiert der Stuhlmeister der Loge den Logos-Baumeister der Welt. Er verkörpert die Gegensätze, er ist der Sohn der Sonne und des Mondes, männlich und weiblich (vgl. Mond, 1053). Der Stuhlmeister, der 1. und der 2. Aufseher der Loge sind mit den drei Säulen der Loge Weisheit–Stärke–Schönheit verbunden und sind daher die drei kleinen Lichter der Loge, also Lichtträger (vgl. Säulen, 1382f). Ich halte fest, daß das Wort Lichtträger wörtlich Luzifer bedeutet.
Schließlich entdeckte ich, daß der Lieblingstext des IFL über die Verbindungen zwischen Freimaurerei, antiken Mysterien, Magie und Vereinigung der Gegensätze die Symbolik der Mysterienbünde (Berlin 1924; Nachdruck, Schwarzenburg 1979) des Freimaurers August Horneffer (1875–1955) ist, der die Freimaurerei mit der Magie in Verbindung bringt, die Magie lobt (S. 218), Goethes Faust preist, der den Bund „mit dem Teufel“ schließt (S. 220), und die Göttlichkeit des Menschen als gnostische und mystische Lehre bekräftigt (S. 234f).
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Katholisches.info veröffentlichte von ihm:
- Die freimaurerische Doktorarbeit von Msgr. Weninger
- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
- Der „Fall Weninger“ – Ex-Diplomat, Priester, Kurialer, Freimaurer
Die Freimaurerei erklärt von einem Großmeister - Den Anklopfenden erwarten beim Freimaurerbund Initiation und Gnosis
- Baron Yves Marsaudon – Ein Hochgradfreimaurer im Malteserorden
- Die Loge Quatuor Coronati, der Großmeister und ein Bettelbruder
- „Katholik, der Loge beitritt, ist exkommuniziert“ – Kirchenhistoriker Paolo M. Siano über Kirche und Freimaurerei
- Kurze Antwort an einen Großmeister der Freimaurerei
- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung/Anmerkung: Giuseppe Nardi
Bild: IFL/Corrispondenza Romana/Freimaurer-Wiki/AASR-Austria (Screenshots)
[1] Für historisch Interessierte noch einige Ergänzungen durch den Übersetzer (GN):
Oskar Posner entstammte wie Lennhoff einer jüdischen Familie. Lennhoff kam 1914 als Journalist nach Wien, wo er sich nach dem Krieg als Netzwerker vor allem der Freimaurerei widmete. Seine Großloge vertrat er auch in der Association Maçonnique Internationale und leitete von 1926 bis 1930 die Zentralstelle der Allgemeinen Freimaurerliga.
Als Journalist arbeitete er zunächst für die linksliberale Wiener Allgemeine Zeitung, die in ihrer Blattlinie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAP) unterstützte, und deren Chefredakteur er 1924/25 wurde. 1933 legte er die Schriftleitung der Wiener Freimaurer-Zeitung nieder, weil er leitender Redakteur und Sonderberichterstatter des Außenressorts der Wiener Tageszeitung Telegraf wurde, die von 1932–1938, bis zum Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, erschien. Zum Telegraf holte ihn dessen linksradikaler Schriftleiter Siegfried Klausner. Herausgeber, Eigentümer und die meisten Journalisten der Zeitung waren jüdischer Abstammung. Die Zeitung war ein Nebenblatt der linksradikalen Tageszeitung Der Abend, die 1917 als linksliberales Blatt gegründet wurde und sich ab 1918 radikalisierte. Beide Zeitungen waren im Boulevardstil mit reißerischen Titeln gemacht und ein Sprachrohr sozialistischer und kommunistischer Positionen sowie von Volksfront-Thesen. Das Mutterblatt wurde deshalb nach dem bewaffneten Putschversuch der Linksradikalen im Februar 1934 und dem Verbot der SDAP behördlich eingestellt. Ein Hauptgegner beider Blätter war aber vor allem auch der Nationalsozialismus. Als 1933 die österreichische Regierung die Vorzensur verhängte, wurde Lennhoff in die Redaktion berufen. Insgesamt korrigierte der Telegraf seine Linie, um einem Verbot zu entgehen. Das Blatt mäßigte den Kurs vom Linksradikalismus zu einem neutraleren und näherte ihn langsam der Regierung von Engelbert Dollfuß und der sogenannten „Vaterländischen Richtung“ an, wodurch sie auch nach den Ereignissen von Februar 1934 weiter erscheinen konnte. Das Blatt betonte nun vor allem die gemeinsame Feindschaft von Christlichsozialen und Sozialdemokraten („Proletarische Partei“) gegen den Nationalsozialismus. Dieser wurde als „Fascismus“ bekämpft und mit radikaler Sprache verspottet. Die Nationalsozialisten nannten die Telegraf-Redaktion eine „Judenbude“ und sagten von Lennhoff: „Der Jude und Freimaurerführer Eugen Lennhoff, der Außenpolitiker Bondys und Vertreter der Telegraf-Journaille beim Völkerbund.“ Die Zeitung war die führende und auflagenstärkste Boulevardzeitung Wiens. Nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich floh Lennhoff zusammen mit dem Eigentümer des Telegraf, Karl Franz Bondy, nach London, wo er seine publizistische Tätigkeit gegen den Nationalsozialismus fortsetzte und 1944 verstarb.
Siegfried Klausner, der während des Krieges bei den kommunistischen Partisanen Jugoslawiens untertauchte, setzte nach Kriegsende seine journalistische Tätigkeit bei der Tageszeitung Volksstimme, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ), fort.