Von P. Paolo M. Siano*
In den Rahmen dieses Themas schließe ich das Buch von Camilla Camplani* Lotta e Armonia dei Sessi (Kampf und Harmonie der Geschlechter, AIEP, 2013) ein. Auf dem Einband befindet sich das Bild des Androgynen oder alchemistischen Rebis. Auf Seite 5 und auf der vierten Einbandseite befindet sich eine Passage aus der Kabbala: „Somit haben die beiden Lichter der göttlichen Essenz dieses besondere Merkmal: Das eine, das aktive Licht, ist männlich und das andere, das passive Licht, ist weiblich (Zohar I, 17a)“.
Laut Camplani: „In der Doktrin der Tradition verkörpert der männliche Pol das dominante, aktive, eindeutige und von der Realität definierte Element, während der weibliche den dominierten, passiven, multiplen, undeutlichen Aspekt darstellt“ (S. 9). „Wir definieren als Tradition jenen Komplex von Wissen und Erfahrungen, die von einem starken Sinn für das Heilige und das Göttliche durchdrungen sind und als transzendente und metaphysische Einheit verstanden und in einem hierarchischen Sinn charakterisiert werden und die im männlichen Element das Prinzip identifizieren, das der gesamten Realität Form und Ordnung verleiht. Die traditionellen Zivilisationen, die auch nordisch oder polar genannt werden, sind im Allgemeinen Kriegerkulturen mit einer patriarchalischen Struktur und umfassen die alten indogermanischen, arischen und nordischen Zivilisationen sowie die moderneren mit keltischer, römischer, christlicher, hinduistischer … Kultur“ (S. 9). „Die Forschungen zur traditionellen Wissenschaft fügen sich in die meisterhaft von Julius Evola im hermetischen Bereich und von Mircea Eliade im historisch-religiösen Bereich gezogene Furche ein.“ (S. 10).
Camplani stellt die kabbalistisch-alchemistisch-hermetische Theorie des Androgynen nicht nur dar, sondern unterstützt sie: „[…] die alten Mythen erzählen von einem einzigartigen Urwesen, gleichzeitig männlich und weiblich, androgyn genannt. Als harmonische und einheitliche Figur faßte sie die Besonderheiten und Tugenden der beiden unterschiedlichen Geschlechter in sich zusammen: Es gehörte einer Rasse von ‚Übermenschen‘ an, so außerordentlich stark und mächtig, daß sie soweit ging, die Autorität der Götter selbst herauszufordern“ (S. 15).
„Wir finden ein Äquivalent zum Mythos des Androgynen in der biblischen Schöpfungsgeschichte (…): Anfangs habe Adam, der erste Mensch, einen androgynen Charakter besessen, der dieselbe archetypische Einheit des platonischen Mythos verkörperte“ (S. 16).
Zur Stelle aus Genesis 1,27: „Die Übersetzung ‚männlich und weiblich, schuf er sie‘ ist absichtlich mehrdeutig und verleitet, an zwei verschiedene Kreaturen zu denken, einen Mann und eine Frau; diesbezüglich besagen die Midraschim, die Kommentare zur Bibel, eindeutig, daß sich die Zuschreibung der beiden Charaktere „männlich und weiblich“ stattdessen auf dasselbe Individuum bezieht: Der irdische Adam war ein Abbild des himmlischen Archetyps und präsentierte sich daher als androgyn“ (S.16, Anmerkung 7).
Nochmals zu Gen 1,27: „Der erste Mensch wurde nach dem Abbild Gottes geschaffen, eine Tatsache, die die Androgynie Gottes selbst andeuten würde, mit einer Natur, die sowohl männlich als auch weiblich und daher perfekt ist: Es gibt keine Trennung in Gott, weil Er der Eine und das Ganze ist“ (S. 16, Anmerkung 8).
Und noch einmal: “
[…] es reicht uns, die für unsere Diskussion relevanten Elemente aus dem Schöpfungsmythos zu behalten: die ursprüngliche androgyne Einheit des Menschen, die dann in zwei getrennte männliche und weibliche Naturen aufgeteilt wird. Die Aufteilung der Geschlechter in der Bibel wird als Folge der menschlichen Sünde dargestellt: Am Ende der Zeit wird die Einheit wiederhergestellt, und der Mensch wird seine eigene doppelte Essenz wiedererlangen“ (S. 16, Anmerkung 9).
Dann behandelt Camplani die Hermetik als „Heilige Wissenschaft“ (S. 37–38), die „spirituelle“ Alchemie, und spricht gut vom Konzept der Esoterik. […] Sonne und Mond bilden in der Tat die grundlegende hermetische Dualität, die beiden Prinzipien, die der gesamten heiligen Wissenschaft zugrunde liegen“ (S. 37–38). „Hermetik oder Heilige Wissenschaft ist der Name, mit dem Initiationswissen aufgrund seiner esoterischen Natur traditionell bezeichnet wird, die sich in der Neuzeit als privilegierten Übertragungskanal der Alchemie rühmt. Alchemie oder Ars Regia, ‚Königliche Kunst‘, ist technisch gesehen die Wissenschaft der Umwandlung von unedlen Metallen in Gold. Hier wollen wir die Gültigkeit, die es auf physischer und materieller Ebene haben kann, ignorieren und es in seiner im Wesentlichen spirituellen Bedeutung darstellen“ (S. 38).
Camplani sieht Esoterik im Jesus der Evangelien: „Der Begriff ‚esoterisch‘ bedeutet ‚geheim‘, ‚verborgen‘ und spielt auf ein System von Lehren an, das einem Kreis von Menschen vorbehalten ist, die zumindest die Grundlagen des wahren Wissens besitzen sowie eine Denkweise, die geeignet ist, die Inhalte zu erhalten. Im Gegenteil dazu bedeutet ’exoterisch’ ‚offen‘, ‚offensichtlich‘, ‚eindeutig‘ und identifiziert eine konzeptionelle Ebene und folglich eine Sprache, die für alle verständlich ist. Es ist der gleiche Unterschied, den wir in den Evangelien finden, wo gesagt wird, daß Jesus auf exoterische Weise, durch Gleichnisse, zum Volk spricht und auf esoterische Weise mit seinen Jüngern, da sie bereits „initiiert“ sind aufgrund des gemeinsamen Lebens und der Vertrautheit mit dem Meister“ (S. 38, Anmerkung 61). Die Bischofskonferenz der Emilia-Romagna hingegen hält, indem sie die Lehre der Kirche bestätigt, Esoterik und Christentum für unvereinbar (vgl. Religiosità alternativa, sette, spiritualismo, LEV 2013, S. 18–19).
Apropos Alchemie: Camplani bezieht sich auf die Schriften von Fulcanelli (Le Mystère des cathédrales et l’interprétation ésotérique des symboles hermétiques du Grand-Oeuvre, Paris 1930, Les Demeures Philosophales et le Symbolisme hermétique dans les rapports avec l’art sacré et l’ésotérisme du Grand-oeuvre, Paris 1930)1 sowie auf den Text von J. Evola La tradizione ermetica, Bari 19312, „wo Alchemie in einem überaus spirituellen Schlüssel behandelt wird“ (Camplani, S. 38, Anmerkung 62). Das „Ziel“ der „spirituellen“ Alchemie ist „die Palingenese oder Wiedergeburt des Individuums“, die „Reintegration“ oder „alchemistische Transmutation“, die „dem Eingeweihten Unsterblichkeit verleiht, verstanden als ein höherer Bewußtseinszustand, der ihn den Raum-Zeit-Grenzen der Materie entzieht“ (S. 38–39). „Alchemie ist eine Form von esoterischem Wissen, verschlüsselt durch Symbole und Konzepte, die für die meisten schwierig sind. Die Gründe für diese Verschleierung sind im Wesentlichen zwei: Initiationswissen ist nicht jedermanns Sache, weshalb es immer sorgfältig vor den ‚Profanen‘ verborgen wurde; zweitens: Die Geschichte der Menschheit umfaßt mehrere Momente religiöser Unterdrückung, die auf die Abschaffung oder zumindest die Kontrolle nicht ‚offizieller‘ Formen der Religiosität abzielten (man denke beispielsweise an die Inquisitionszeit). Indem die Heilige Wissenschaft unter dem Schleier der rudimentären Chemie versteckt wurde, war es möglich, diese beiden Schwierigkeiten zu umgehen und gleichzeitig ihre Lehre durch die Jahrhunderte weiterzugeben“ (S. 39, Anmerkung 63).
Camplani spricht von „intensiv energetischen Orten“, „einem geografischen Ort“ mit „starker tellurischer Energie“, der „besonders geeignet ist für die Kommunikation mit Gott“ (S. 46). Sie behauptet, daß „die alten Kirchen“ an „energetischen ‚Knoten‘ gebaut wurden, um die tellurische Energie zu ‚sammeln‘, die vom Untergrund ausgeht und im Inneren des Gebäudes ‚kondensiert‘ wird, um den Ritus oder das Gebet zu potenzieren“ (S. 46, Anmerkung 93). „Die gotischen Kathedralen“ hingegen hätten darauf abgezielt, die vom Himmel kommende kosmische Energie zu „kanalisieren“, um eine „Erleuchtung des Geistes“ zu begünstigen (ibidem). Deshalb „können wir in einer besonders mächtigen Pfarrkirche ein Gefühl der Orientierungslosigkeit oder Verwirrung haben: Unsere Körperlichkeit wird von der sehr starken Energie des Ortes überwältigt, die sich dort wie in einem Resonanzboden verdichtet“. In einer gotischen Kathedrale hingegen „fühlen wir im Allgemeinen Erleichterung und Aufhellung, weil die Energie nicht in der Kirche verdichtet bleibt, sondern zum Himmel erhoben wird“ (ibidem).
In der Schlußfolgerung bekräftigt Camplani, daß das Männliche und das Weibliche „zusammen jene ursprüngliche und ewige Einheit wieder zusammensetzen, von der sie getrennt wurden; gegenseitige Kompensation und Vollendung ermöglichen es ihnen, den Zustand menschlicher und transzendenter Perfektion zu erreichen“ (S. 124). Und weiter: „Durch die Harmonisierung der beiden spezifischen männlichen und weiblichen Naturen beleben sie eine höhere Gesamtheit, eine vollkommene und vollständige Einheit: Der Stein der Weisen, das Ziel der alchemistischen Arbeit, ist nichts weiter als ein Symbol der totalen und absoluten Einheit, das durch die Übereinstimmung der Gegensätze, durch die Harmonie zwischen männlich und weiblich, zwischen Mann und Frau geschaffen wird“ (S. 124).
Camplani erklärt:
„Das Androgyne ist ein ursprüngliches Wesen vor der Differenzierung der Geschlechter, es ist der Anfang. Rebis ist das Ergebnis der Harmonisierung der beiden unterschiedlichen Naturen, die Synthese a posteriori von männlich und weiblich, das Ende und das Ziel“ (S. 125).
Sie fährt fort: „Der ursprüngliche Mensch besaß sowohl im heidnischen Mythos von Platon als auch im christlichen Mythos der Genesis eine androgyne Natur, sowohl männlich als auch weiblich. Seine Essenz wurde in zwei Teile geteilt, wodurch zwei verschiedene Kreaturen geboren wurden, Mann und Frau. Der Mensch behält in den Tiefen seines Gedächtnisses die Erinnerung an diesen ursprünglichen Zustand der Harmonie und der Vollständigkeit, der in jedem das Bestreben weckt, die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen und die verlorene Vollkommenheit wiederzugewinnen. ‚Wenn ihr die zwei zu einem macht … wenn ihr das Männliche und Weibliche zu einem einzigen macht, so daß das Männliche nicht weiterhin männlich und das Weibliche nicht weiterhin weiblich ist …, dann werdet ihr in Gottes Herrschaft eingehen“ (Evangelium von Thomas, Log. 22)“ (S. 125–126). Es sei ausdrücklich betont, daß das Thomasevangelium ein gnostischer Text ist.
In einer Fußnote schreibt Camplani: „Eine eingehende Behandlung der beiden Geschlechter und ihrer transzendenten Beziehung findet sich in J. Evola Metafisica del sesso„3 (S. 48, Anmerkung 96). Nun, in diesem Text erklärt Evola, daß der Adam der Genesis laut der Kabbala androgyn wie Gott ist. Auch nach der „Hermetik“ und „mysterischen und gnostischen Kreisen“ ist der ursprüngliche Mensch androgyn (Metafisica del sesso, S. 243).
Evola gibt zu, daß in seinem Buch der „Weg der Linken Hand“, „der vorwiegend eingenommene Standpunkt“ ist (S. 138).
Ich glaube, daß Evola absolut kein Meister ist, dem man folgen kann, und daß seine „Tradition“ weder christlich noch katholisch ist, so wie es auch die Theorie der Androgynie nicht ist.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Von Katholisches.info bisher in dieser Reihe veröffentlicht:
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik I
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik II
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik III
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik IV
Weitere Texte von P. Siano:
- Deismus, Esoterik und Gnosis in den freimaurerischen Konstitutionen von 1723
- Spuren von Esoterik und Gnosis in der Freimaurerei vor 1717
- „Luzifer“ für Österreichs Freimaurer
- Das Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff 33. und Oskar Posner und der Dialog zwischen Kirche und Freimaurerei 1974–1980
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- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
* Camilla Camplani, geboren 1983, studierte zunächst an der Katholischen Universität von Brescia und wurde in Philologie, Kultur und Zivilisation der Antike an der Katholischen Universität von Mailand promoviert. Sie „arbeitet aktiv“ mit den Templari Cattolici d’Italia (Katholischen Templern von Italien) zusammen, die auch eine Internetseite in deutscher Sprache betreiben. Diese Templervereinigung, eine von zahlreichen, wurde 2000 von Giorgio Mauro Ferretti gegründet. Sie soll dem Denken des Freimaurers Gaston Ventura nahestehen und ein auffälliges Interesse für den Bereich Esoterik und Magie haben.
1 Deutsche Ausgaben: Fulcanelli: Das Mysterium der Kathedralen und die esoterische Deutung der hermetischen Symbole des Grossen Werks, Basel 2004; Wohnstätten der Adepten – die hermetische Symbolik in der konkreten Wirklichkeit der Heiligen Kunst des Grossen Werks, Basel 2008.
2 Deutsche Ausgabe: Julius Evola: Die Hermetische Tradition. Von der alchemistischen Umwandlung der Metalle und des Menschen in Gold. Entschlüsselung einer verborgenen Symbolsprache, Interlaken 1989.
3 Deutsche Ausgabe: Julius Evola: Metaphysik des Sexus, Bern 1998.
Kinder sind noch wenig geschlechtlich ausgeprägt. Also geht das Androgyne beim Menschen der Geschlechtlichkeit zeitlich vor. Nun sagt der Herr:„wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“