
Von P. Paolo M. Siano*
Der Dominikaner, Theologe und Historiker Pater Jérôme Rousse-Lacordaire (geb. 1962), ehemaliger Professor am Institut Catholique de Paris und ehemaliger Direktor der Bibliothèque du Saulchoir in Paris, behauptet (was ich nicht teile) in seinem Buch Esotérisme et christianisme. Histoire et enjeux théologiques d’une expatriation (Esoterik und Christentum. Geschichte und theologische Fragen einer Ausbürgerung, Les Editions du Cerf, Paris 20092, Erstausgabe 2007) die Vereinbarkeit von Esoterik und Christentum. Darin greift er die von ihm 2005 an der Theologischen Fakultät des Institut Catholique de Paris vorgelegte Dissertation auf. In dem Buch (S. 361) dankt Rousse-Lacordaire dem Lazaristen Pater Vincent Holzer (Doktorvater) und den vier Mitgliedern der Prüfungskommission, darunter zwei Dominikaner und zwei Laiengelehrte der Esoterik, nämlich Jean-Pierre Brach und Jean-Pierre Laurant (Freimaurer der GLNF). Es ist gut zu wissen, daß P. Rousse-Lacordaire auch Artikel in Zeitschriften der Grande Loge Nationale Française (Französische Nationale Großloge, GLNF) und der Grande Loge de France (Großloge von Frankreich, GLDF) veröffentlicht.
Im genannten Buch argumentiert Rousse-Lacordaire, daß Katholiken seit dem 19. Jahrhundert nicht die wahre Esoterik kritisiert haben, sondern das, was sie als Esoterik mißverstanden haben (S. 13). Er behauptet, daß es keine Esoterik gibt, die im Laufe der Jahrhunderte eine Einheit und Kontinuität der Lehre aufweist, um sich dann selbst zu widersprechen, wenn er beispielsweise schreibt, daß die Esoterik seit dem 19. Jahrhundert aus dem kirchlichen Bereich verbannt wurde und es an der Zeit sei, sie dorthin zurückzulenken. Er unterstützt eine christliche Esoterik, die auf Erfahrung basiert, die sich auf Folgendes konzentriert: Christus, Kirche, Nächstenliebe …
Rousse-Lacordaire teilt im Wesentlichen die vermittelnden Positionen von Hans Urs von Balthasar gegenüber der Esoterik Valentin Tombergs (siehe hier) und denen der „christlichen“ Kabbalisten Pico della Mirandola und Johannes Reuchlin. Wie Jean-Pierre Laurant (Freimaurer) sieht auch Rousse-Lacordaire keine intrinsische Unvereinbarkeit zwischen Esoterik und Christentum (S. 12).
Die Esoterik-Definition von Antoine Faivre
Rousse-Lacordaire übernimmt die Beschreibung der Esoterik, die Antoine Faivre im Buch L’Esotérisme gibt, Esoterik als eine Form des Denkens mit sechs Elementen: Korrespondenztheorie, lebendige Natur, Vorstellungskraft und Vermittlung, Erfahrung der Transmutation, Übereinstimmung zwischen verschiedenen Traditionen, Weitergabe Meister-Schüler (S. 14–19; siehe hier). Rousse-Lacordaire erkennt an, dass Magie ein konstitutives Element der Esoterik der Renaissance ist (S. 76). Er erklärt, daß Pico della Mirandola (1463–1494) die jüdische Kabbala für geeignet hält, den katholischen Glauben und das Gesetz des Moses zu bestätigen. Laut Pico kann die Göttlichkeit Christi durch die der Kabbala untergeordnete Magie erklärt werden (S. 109–113). Für Pico und seine Schüler ist die Kabbala ein mächtiges Instrument der Apologetik, um zu zeigen, daß die jüdische Esoterik im Grunde genommen christlich ist … Für den Magier Johannes Reuchlin (1455–1522) gipfelt die Kabbala in der Offenbarung und Aussprache des Namens Jesu, Synthese allen Wissens (S. 143). In Wirklichkeit ist Reuchlins Verehrung des Namens Jesu nicht katholisch, sondern kabbalistische Magie.
Rousse-Lacordaire schildert die Figur von Paul Louis Bernard Drach (1791–1865), einem 1823 zur katholischen Kirche konvertierter Rabbiner, Bibliothekar der Propaganda Fide und Mitarbeiter der Publikationsreihen von Abbé Jacques-Paul Migne. Als Katholik hält Drach zwei kabbalistische Texte, den Sefer-ha-Zohar und den Sefer Yezirah, für besonders christlich. Letzterer beruhe gar auf dem Dogma der heiligsten Dreifaltigkeit (S. 151–153). Drach illustriert seine Theorien in dem Werk De l’harmonie entre l’Eglise et la Synagogue (Über die Harmonie zwischen Kirche und Synagoge, 2 Bde., 1841–1844), in dem er sagt, daß die wahre Kabbala die der Kabbalisten Pico und Reuchlin ist (S. 154).
Laut Rousse-Lacordaire werden Esoterik und Freimaurerei von Katholiken zu Unrecht dämonisiert (S. 163f, 171f), und selbst die freimaurerische Einweihung durch ethische und spirituelle Perfektionierung könnte dem christlichen Freimaurer helfen, sich durch die Sakramente Christus gleichzumachen (S. 185). Als Beispiele für katholische Esoterik zitiert Rousse-Lacordaire Sarachaga, Drach, Charbonneau-Lassay und seine Parakleten-Bruderschaft sowie André Gircourt (S. 190–192) (siehe hier).
Nach Rousse-Lacordaire ist Esoterik keine einheitliche Lehre, sondern Erfahrung (S. 223), und unter den sechs von Antoine Faivre angegebenen Elementen der Esoterik ist nur eines entscheidend und wesentlich: die Transmutation (Umwandlung) des Esoterikers (S. 236–238, 242–244).
Keine Religion kann die Gesamtheit der Tradition beanspruchen?
Laut Rousse-Lacordaire führt das Denken von René Guénon nicht zu einer Gleichwertigkeit der Religionen oder zu einer Überreligion (S. 248). Zugleich sagt Rousse-Lacordaire aber, er sei inspiriert von den Überlegungen von P. Jacques Dupuis (S. 249, Anmerkung 5), zu dem folgender Link angeschaut werden sollte. Kurz gesagt, so sehr er sich auch ausgewogen gibt, Rousse-Lacordaire teilt die heterodoxen Positionen des Jesuiten Jacques Dupuis und von Guénon. Tatsächlich kann eine Religion laut Rousse-Lacordaire nicht behaupten, allein die Gesamtheit der Tradition zu enthalten (S. 253) Die christliche Tradition sei eine einzigartige Form dieser Tradition und stehe in Beziehung zu anderen Traditionen, die geeignet seien, die Universalität des Wortes zu manifestieren (S. 257).
Als Beispiele dafür, daß eine christliche Esoterik möglich ist, zitiert Rousse-Lacordaire Louis Charbonneau-Lassays Fraternité des Chevaliers du Divin Paraclet (die ich hier bereits besprochen habe) und die Frères de Saint-Jean (nicht zu verwechseln mit katholischen Ordensgemeinschaften gleichen oder ähnlichen Namens), deren sieben Anweisungen Kenntnisse des christlichen Hermetismus zeigen und Anspielungen zur modernen Freimaurerei, Kabbala und Estoile Internelle aufweisen würden. Rousse-Lacordaire sagt nicht, wer diese „Brüder des heiligen Johannes“ sind, und vermutet Verbindungen zur Estoile Internelle, die mit der Bruderschaft des göttlichen Parakleten verknüpft ist (S. 302–306).
Rousse-Lacordaire scheint den Rite Ecossais Rectifié (Rektifizierter Schottischer Ritus, RER), ein „christlichen“ Freimaurern vorbehaltenes Hochgradsystem, den Ordre des Chevaliers maçons Élus Coëns de l’univers (Orden der Ritter-Maurer der Auserwählten Cohens), die Fraternité du Divin Paraclet (Bruderschaft des Parakleten) und die Frères de Saint-Jean (Brüder des heiligen Johannes) als legitime Formen der christlichen und katholischen Esoterik zu rechtfertigen. Ihr gemeinsames Ziel ist die initiatorische Umwandlung der Adepten, die von den Freimaurern des RER und von den Auserwählten Cohens als Reintegration bezeichnet wird. Laut Rousse-Lacordaire interpretierten die Auserwählten Cohens sie, ohne sich vom symbolischen, rituellen und doktrinären Corpus der Kirche zu lösen, auf esoterische Weise, d. h. tiefer und „pneumatisch“ (S. 308f). Der Autor betont aber leider nicht genug, daß die Auserwählten Cohens Magie praktizierten, deren Geist den RER durchdrang. Kurz gesagt, es sind keine wirklich christlichen und katholischen Erfahrungen.
Eine „Magie der Gnade“?
Rousse-Lacordaire schreibt, daß Hans Urs von Balthasar im Vorwort zu Valentin Tombergs Arbeit über die 22 Arcana des Tarot feststellt, daß für Tomberg die Wahrnehmung einer belebenden höheren Kraft nicht dem machtgierigen magischen Despotismus entspricht, sondern eine Art „magie de la grâce“ (Magie der Gnade) sei, eine Unterwerfung unter Glauben und Gnade (S. 310f). Rousse-Lacordaire erwähnt nicht, daß Tombergs Arbeit heterodoxe Inhalte aufweist.
Laut dem Dominikaner kann man Esoteriker und Katholik sein. Er betrachtet die Sakramente als notwendige Voraussetzung für die esoterische Praxis und die Gnosis als eine Transformation des Glaubens durch die initiatische Arbeit, in dem man einen spirituellen Einfluß von Gott erhält (S. 314). Die initiatische Arbeit bewirke, daß dieser Einfluß in die Person eindringt. Es handle sich um „magie spirituelle“ (spirituelle Magie) oder „théurgie“ (S. 314f). Der katholische Esoteriker praktiziert Esoterik und Sakramente auf esoterische und exoterische Weise, die von Antoine Faivre aufgeführten Elemente und die Konzepte und Symbole des Glaubens (S. 315). Kurzum: Vereinigung der Gegensätze!
Schließlich räumt Rousse-Lacordaire zwar doch ein, daß es eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen Esoterik und Christentum gibt, glaubt jedoch, daß der Christ, der sich der Esoterik verschrieben hat, seinen christlichen Glauben durch Dialog, Tugend, Akzeptanz und Zuhören bezeugt haben könnte, mit der Klugheit, die zur Veränderung von sich selbst einlädt.
All das bewege sich (laut dem Dominikanertheologen) im Horizont der Vielfalt der Wege, die zum Glauben führen, ihrer möglichen Komplementarität und der „Ablehnung des exklusiven Wahrheitsmonopols“ (S. 324).
Zusammenfassend: Die von Rousse-Lacordaire verteidigte christliche Esoterik ist weder christlich noch katholisch, und ihre Zeugen sind nicht zuverlässig.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Von Katholisches.info bisher veröffentlicht:
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik III
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik II
- Die Zweideutigkeit der „christlichen“ Esoterik I
- Deismus, Esoterik und Gnosis in den freimaurerischen Konstitutionen von 1723
- Spuren von Esoterik und Gnosis in der Freimaurerei vor 1717
- „Luzifer“ für Österreichs Freimaurer
- Das Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff 33. und Oskar Posner und der Dialog zwischen Kirche und Freimaurerei 1974–1980
- Die freimaurerische Doktorarbeit von Msgr. Weninger
- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
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- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/Freimaurer-Wiki (Screenshot)