Päpstliche Taxonomie der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte

Keine sensationellen Neuigkeiten, aber eine Hilfe, einige festgefahrene Vorurteile infrage zu stellen


Benedikt XV., geboren als Marchese Giacomo della Chiesa, regierte von 1914 bis 1922
Benedikt XV., geboren als Marchese Giacomo della Chiesa, regierte von 1914 bis 1922

Von Cami­nan­te Wanderer*

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Wir sind es gewohnt, Päp­ste als kon­ser­va­tiv oder pro­gres­siv, gut oder schlecht zu klas­si­fi­zie­ren – und auch nach ande­ren uns nütz­lich erschei­nen­den Kri­te­ri­en. Ich schla­ge eine Ein­tei­lung vor, die ihren Ursprung berück­sich­tigt – und damit mei­ne ich nicht die geo­gra­phi­sche Her­kunft, son­dern ihren funk­tio­na­len Ursprung inner­halb der Kir­che. Ich glau­be, das kann hilf­reich sein und zur Klä­rung man­cher Vor­stel­lun­gen beitragen.

Am 16. Juni 1846 – also vor rund 180 Jah­ren – wur­de Gio­van­ni Maria Graf Mastai-Fer­ret­ti als Pius IX. zum Papst gewählt. Fast zwan­zig Jah­re zuvor war er im Alter von 35 Jah­ren, nur acht Jah­re nach sei­ner Prie­ster­wei­he, zum Erz­bi­schof von Spo­le­to ernannt wor­den. Bei sei­ner Wahl zum Papst war er, mit dem per­sön­li­chen Titel eines Erz­bi­schofs, Bischof von Imo­la. Man könn­te ihn als „gemisch­ten“ Bischof bezeich­nen, denn vor und auch kurz nach sei­ner Prie­ster­wei­he hat­te er Ämter an der päpst­li­chen Kurie inne, doch der Groß­teil sei­nes prie­ster­li­chen Lebens war als Bischof der Seel­sor­ge gewidmet.

Am 20. Febru­ar 1878 wur­de Gio­ac­chi­no Graf Pecci als Leo XIII. gewählt. Auch er kann als „gemisch­ter“ Papst gel­ten. Nach sei­ner Prie­ster­wei­he 1837 war er als Vati­kan­di­plo­mat tätig, unter ande­rem als Nun­ti­us in Bel­gi­en. Spä­ter, 1846, war er bis zu sei­ner Wahl Bischof von Peru­gia. Wich­tig ist also her­vor­zu­he­ben, daß er drei­ßig Jah­re lang als Bischof die­ser klei­nen, aber wun­der­schö­nen Stadt in Umbri­en (Kir­chen­staat) in der Seel­sor­ge tätig war.

Am 4. August 1903 wur­de Giu­sep­pe Sar­to als Pius X. gewählt. In die­sem Fall haben wir es mit einem voll­kom­men seel­sor­ge­risch gepräg­ten Papst zu tun. Sein gan­zes vor­he­ri­ges Leben war er als Seel­sor­ger tätig – zunächst als Prie­ster, dann als Bischof von Man­tua und schließ­lich als Patri­arch von Venedig.

Am 3. Sep­tem­ber 1914 wur­de Gia­co­mo Mar­che­se del­la Chie­sa, genannt „Il Pic­co­let­to“, der einem Mark­gra­fen­ge­schlecht des Genue­ser Patri­zi­ats ent­stamm­te, als Bene­dikt XV. gewählt. Obwohl er in den letz­ten sie­ben Jah­ren vor dem Kon­kla­ve Erz­bi­schof von Bolo­gna war, war er ein durch und durch kuria­ler Mensch – wie man sagt, mit einem sehr wenig prie­ster­li­chen Pro­fil. Ein in vie­ler­lei Hin­sicht eher mit­tel­mä­ßi­ger Poli­ti­ker und Diplo­mat. Man kann ihn als einen poli­ti­schen Papst bezeichnen.

Am 6. Febru­ar 1922 wur­de – nach einem sehr lan­gen Kon­kla­ve, das drei Wochen dau­er­te – Achil­le Rat­ti als Pius XI. gewählt. Er war ein Intel­lek­tu­el­ler, vie­le Jah­re lang Prä­fekt der Ambro­sia­ni­schen Biblio­thek und spä­ter der Vati­ka­ni­schen Biblio­thek, und hat­te auch umfas­sen­de diplo­ma­ti­sche Erfah­rung. Den Mai­län­der Bischofs­stuhl hat­te er weni­ger als ein Jahr inne, bevor er gewählt wur­de. Auch hier haben wir es mit einem poli­ti­schen Papst zu tun.

Am 2. März 1939 wur­de Euge­nio Pacel­li als Pius XII. gewählt. Er ent­stamm­te dem römi­schen Kuri­e­na­del, einer Fami­lie, die seit Gene­ra­tio­nen als Juri­sten dem Papst dien­te, kein titu­lier­ter Adel, aber am päpst­li­chen Hof als sol­cher (in Sitz­ord­nung, Klei­dung, Stel­lung) behan­delt. Pius XII. war ein poli­ti­scher Papst rein­sten Was­sers, denn zu kei­nem Zeit­punkt sei­nes prie­ster­li­chen oder bischöf­li­chen Wir­kens hat­te er Seel­sor­ge­ver­ant­wor­tung. Man muß aber hin­zu­fü­gen, daß er ein äußerst fein­sin­ni­ger Poli­ti­ker und Diplo­mat war – ein Typus, den es heu­te kaum noch gibt.

Am 28. Okto­ber 1958 wur­de Ange­lo Giu­sep­pe Ron­cal­li als Johan­nes XXIII. gewählt. Auch in die­sem Fall haben wir es mit einem ein­deu­tig poli­ti­schen Papst zu tun, obwohl er wäh­rend fünf Jah­ren das Hir­ten­amt des Patri­ar­chen von Vene­dig inne­hat­te. Den Groß­teil sei­nes Lebens war er jedoch Pro­fes­sor am Prie­ster­se­mi­nar in Ber­ga­mo und päpst­li­cher Diplomat.

Am 21. Juni 1963 wur­de Gio­van­ni Bat­ti­sta Mon­ti­ni als Paul VI. gewählt. Auch hier han­delt es sich um einen poli­ti­schen Pon­ti­fex, der sich – abge­se­hen von sei­ner Zeit als Erz­bi­schof von Mai­land in den neun Jah­ren vor sei­ner Wahl – ganz der römi­schen Kurie gewid­met hatte.

Am 26. August 1978 wur­de Albi­no Lucia­ni als Johan­nes Paul I. gewählt, damals Patri­arch von Vene­dig. Ganz ähn­lich wie bei Pius X. war Lucia­ni zeit sei­nes Lebens Seel­sor­ger. Mit ihm änder­te sich das Muster der Papst­wahl, und die Kir­che bekam wie­der einen pasto­ral gepräg­ten Papst.

Am 16. Okto­ber 1978 wur­de Karol Woj­ty­ła als Johan­nes Paul II. gewählt. Obwohl er einen gewis­sen intel­lek­tu­el­len Cha­rak­ter hat­te, war er sein gesam­tes Leben hin­durch als Prie­ster und Bischof seel­sor­ge­risch tätig gewe­sen. Wir haben es also auch in die­sem Fall ein­deu­tig mit einem pasto­ra­len Papst zu tun.

Ab die­sem Punkt wird die Ein­tei­lung jedoch schwie­ri­ger und ungenauer.

Am 19. April 2005 wur­de Joseph Ratz­in­ger als Bene­dikt XVI. gewählt. Ihn ein­zu­ord­nen ist beson­ders schwie­rig. Er hat­te ein aus­ge­prägt intel­lek­tu­el­les Pro­fil und war der Uni­ver­si­täts­leh­re ver­pflich­tet. Er war auch fünf Jah­re lang Erz­bi­schof von Mün­chen und Frei­sing, bevor er nach Rom beru­fen wur­de, wo er dann 23 Jah­re lang ein hohes Kurie­namt inne­hat­te. Trotz­dem kann man ihn kaum als Kuria­len bezeich­nen, da er nie Teil der „Kaste“ war – ganz im Gegen­teil, er wur­de von der Kurie oft hart bekämpft – und schon gar nicht kann man ihn als poli­ti­schen Papst bezeich­nen. Trotz man­cher gegen­tei­li­ger Ein­schät­zun­gen bin ich geneigt, ihn als pasto­ra­len Papst ein­zu­ord­nen. Die Kuria­len pfleg­ten in den Tagen vor der Wahl Bene­dikts von einem „reli­giö­sen Lager“ im Gegen­satz zum „poli­ti­schen Lager“ zu spre­chen – und Ratz­in­ger gehör­te klar dem „reli­giö­sen Lager“ an.

Am fol­gen­schwe­ren 13. März 2013 wur­de Jor­ge Mario Berg­o­glio als Fran­zis­kus gewählt. Als Jesu­it war er der erste Papst seit 170 Jah­ren, der einem Orden ent­stamm­te. Er war ein­deu­tig ein pasto­ra­ler Papst, der in erbit­ter­ter Feind­schaft zur Kurie stand, auch wenn er sich ihrer bedien­te. Und er war ein „nicht-kon­for­mer“ Jesu­it. Er ist ein schwer ein­zu­ord­nen­des Exem­plar – denn obwohl er Seel­sor­ger war, galt sein größ­tes Inter­es­se immer der Politik.

Schließ­lich wur­de am 8. Mai 2025 der Augu­sti­ner Robert Pre­vost gewählt. Zwei Ordens­män­ner in Fol­ge auf dem Stuhl Petri – eine Sel­ten­heit. Und obwohl Pre­vost eine umfas­sen­de seel­sorg­li­che Tätig­keit als Prie­ster und Bischof in den USA und in Peru aus­üb­te, war er auch ein Mann des Lei­tungs­amts, da er zwei Amts­pe­ri­oden Gene­ral­obe­rer sei­ner Ordens­ge­mein­schaft war. Letzt­lich ist er ein pasto­ra­ler Papst.

Man könn­te nun ver­sucht sein, eine Bilanz zu zie­hen und zu ver­glei­chen, ob die pasto­ra­len Päp­ste bes­ser waren als die poli­ti­schen – aber das wäre sinn­los. Nicht nur, weil man sel­ten kla­re Schwarz-Weiß-Kate­go­rien fin­det, son­dern weil es von allem etwas gab. Wenn man hin­ge­gen ver­su­chen wür­de, sie als kon­ser­va­tiv oder pro­gres­siv zu klas­si­fi­zie­ren, käme man eben­falls in Schwie­rig­kei­ten – vor allem, weil man damit die tra­dier­te Doxa her­aus­for­dern wür­de, die die Päp­ste seit Jahr­zehn­ten in bestimm­te Schub­la­den steckt.

Man wür­de fest­stel­len, daß ein Papst wie Pius X. in sei­ner Zeit kei­nes­wegs ein kon­ser­va­ti­ver Papst war – man könn­te ihn im Gegen­teil als pro­gres­siv bezeich­nen (zur Sicher­heit sei ange­merkt, daß „pro­gres­siv“ in die­sem Kon­text natür­lich nichts mit Moder­nis­mus zu tun hat), der aber durch und durch katho­lisch war. Ein ähn­li­cher Fall ist Pius XII.: ein eigent­lich pro­gres­si­ver Papst, aber in der Leh­re völ­lig katho­lisch. Johan­nes XXIII. war, trotz gegen­tei­li­ger Annah­men, ein kon­ser­va­ti­ver Papst – er mach­te meh­re­re Refor­men sei­nes Vor­gän­gers rück­gän­gig –, auch wenn er das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil ein­be­rief, bei dem man sich fra­gen muß, ob ihm wirk­lich bewußt war, was er da tat.

Kurz­um: Die hier vor­ge­schla­ge­ne Taxo­no­mie bringt kei­ne sen­sa­tio­nel­len Neu­ig­kei­ten, aber sie hilft viel­leicht, eini­ge fest­ge­fah­re­ne Vor­ur­tei­le in Fra­ge zu stel­len, die letzt­lich unse­re Sicht auf die Kir­chen­ge­schich­te verzerren.

*Cami­nan­te Wan­de­rer, argen­ti­ni­scher Phi­lo­soph und Blogger

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cami­nan­te Wanderer

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