
Von Caminante Wanderer*
Wir sind es gewohnt, Päpste als konservativ oder progressiv, gut oder schlecht zu klassifizieren – und auch nach anderen uns nützlich erscheinenden Kriterien. Ich schlage eine Einteilung vor, die ihren Ursprung berücksichtigt – und damit meine ich nicht die geographische Herkunft, sondern ihren funktionalen Ursprung innerhalb der Kirche. Ich glaube, das kann hilfreich sein und zur Klärung mancher Vorstellungen beitragen.
Am 16. Juni 1846 – also vor rund 180 Jahren – wurde Giovanni Maria Graf Mastai-Ferretti als Pius IX. zum Papst gewählt. Fast zwanzig Jahre zuvor war er im Alter von 35 Jahren, nur acht Jahre nach seiner Priesterweihe, zum Erzbischof von Spoleto ernannt worden. Bei seiner Wahl zum Papst war er, mit dem persönlichen Titel eines Erzbischofs, Bischof von Imola. Man könnte ihn als „gemischten“ Bischof bezeichnen, denn vor und auch kurz nach seiner Priesterweihe hatte er Ämter an der päpstlichen Kurie inne, doch der Großteil seines priesterlichen Lebens war als Bischof der Seelsorge gewidmet.
Am 20. Februar 1878 wurde Gioacchino Graf Pecci als Leo XIII. gewählt. Auch er kann als „gemischter“ Papst gelten. Nach seiner Priesterweihe 1837 war er als Vatikandiplomat tätig, unter anderem als Nuntius in Belgien. Später, 1846, war er bis zu seiner Wahl Bischof von Perugia. Wichtig ist also hervorzuheben, daß er dreißig Jahre lang als Bischof dieser kleinen, aber wunderschönen Stadt in Umbrien (Kirchenstaat) in der Seelsorge tätig war.
Am 4. August 1903 wurde Giuseppe Sarto als Pius X. gewählt. In diesem Fall haben wir es mit einem vollkommen seelsorgerisch geprägten Papst zu tun. Sein ganzes vorheriges Leben war er als Seelsorger tätig – zunächst als Priester, dann als Bischof von Mantua und schließlich als Patriarch von Venedig.
Am 3. September 1914 wurde Giacomo Marchese della Chiesa, genannt „Il Piccoletto“, der einem Markgrafengeschlecht des Genueser Patriziats entstammte, als Benedikt XV. gewählt. Obwohl er in den letzten sieben Jahren vor dem Konklave Erzbischof von Bologna war, war er ein durch und durch kurialer Mensch – wie man sagt, mit einem sehr wenig priesterlichen Profil. Ein in vielerlei Hinsicht eher mittelmäßiger Politiker und Diplomat. Man kann ihn als einen politischen Papst bezeichnen.
Am 6. Februar 1922 wurde – nach einem sehr langen Konklave, das drei Wochen dauerte – Achille Ratti als Pius XI. gewählt. Er war ein Intellektueller, viele Jahre lang Präfekt der Ambrosianischen Bibliothek und später der Vatikanischen Bibliothek, und hatte auch umfassende diplomatische Erfahrung. Den Mailänder Bischofsstuhl hatte er weniger als ein Jahr inne, bevor er gewählt wurde. Auch hier haben wir es mit einem politischen Papst zu tun.
Am 2. März 1939 wurde Eugenio Pacelli als Pius XII. gewählt. Er entstammte dem römischen Kurienadel, einer Familie, die seit Generationen als Juristen dem Papst diente, kein titulierter Adel, aber am päpstlichen Hof als solcher (in Sitzordnung, Kleidung, Stellung) behandelt. Pius XII. war ein politischer Papst reinsten Wassers, denn zu keinem Zeitpunkt seines priesterlichen oder bischöflichen Wirkens hatte er Seelsorgeverantwortung. Man muß aber hinzufügen, daß er ein äußerst feinsinniger Politiker und Diplomat war – ein Typus, den es heute kaum noch gibt.
Am 28. Oktober 1958 wurde Angelo Giuseppe Roncalli als Johannes XXIII. gewählt. Auch in diesem Fall haben wir es mit einem eindeutig politischen Papst zu tun, obwohl er während fünf Jahren das Hirtenamt des Patriarchen von Venedig innehatte. Den Großteil seines Lebens war er jedoch Professor am Priesterseminar in Bergamo und päpstlicher Diplomat.
Am 21. Juni 1963 wurde Giovanni Battista Montini als Paul VI. gewählt. Auch hier handelt es sich um einen politischen Pontifex, der sich – abgesehen von seiner Zeit als Erzbischof von Mailand in den neun Jahren vor seiner Wahl – ganz der römischen Kurie gewidmet hatte.
Am 26. August 1978 wurde Albino Luciani als Johannes Paul I. gewählt, damals Patriarch von Venedig. Ganz ähnlich wie bei Pius X. war Luciani zeit seines Lebens Seelsorger. Mit ihm änderte sich das Muster der Papstwahl, und die Kirche bekam wieder einen pastoral geprägten Papst.
Am 16. Oktober 1978 wurde Karol Wojtyła als Johannes Paul II. gewählt. Obwohl er einen gewissen intellektuellen Charakter hatte, war er sein gesamtes Leben hindurch als Priester und Bischof seelsorgerisch tätig gewesen. Wir haben es also auch in diesem Fall eindeutig mit einem pastoralen Papst zu tun.
Ab diesem Punkt wird die Einteilung jedoch schwieriger und ungenauer.
Am 19. April 2005 wurde Joseph Ratzinger als Benedikt XVI. gewählt. Ihn einzuordnen ist besonders schwierig. Er hatte ein ausgeprägt intellektuelles Profil und war der Universitätslehre verpflichtet. Er war auch fünf Jahre lang Erzbischof von München und Freising, bevor er nach Rom berufen wurde, wo er dann 23 Jahre lang ein hohes Kurienamt innehatte. Trotzdem kann man ihn kaum als Kurialen bezeichnen, da er nie Teil der „Kaste“ war – ganz im Gegenteil, er wurde von der Kurie oft hart bekämpft – und schon gar nicht kann man ihn als politischen Papst bezeichnen. Trotz mancher gegenteiliger Einschätzungen bin ich geneigt, ihn als pastoralen Papst einzuordnen. Die Kurialen pflegten in den Tagen vor der Wahl Benedikts von einem „religiösen Lager“ im Gegensatz zum „politischen Lager“ zu sprechen – und Ratzinger gehörte klar dem „religiösen Lager“ an.
Am folgenschweren 13. März 2013 wurde Jorge Mario Bergoglio als Franziskus gewählt. Als Jesuit war er der erste Papst seit 170 Jahren, der einem Orden entstammte. Er war eindeutig ein pastoraler Papst, der in erbitterter Feindschaft zur Kurie stand, auch wenn er sich ihrer bediente. Und er war ein „nicht-konformer“ Jesuit. Er ist ein schwer einzuordnendes Exemplar – denn obwohl er Seelsorger war, galt sein größtes Interesse immer der Politik.
Schließlich wurde am 8. Mai 2025 der Augustiner Robert Prevost gewählt. Zwei Ordensmänner in Folge auf dem Stuhl Petri – eine Seltenheit. Und obwohl Prevost eine umfassende seelsorgliche Tätigkeit als Priester und Bischof in den USA und in Peru ausübte, war er auch ein Mann des Leitungsamts, da er zwei Amtsperioden Generaloberer seiner Ordensgemeinschaft war. Letztlich ist er ein pastoraler Papst.
Man könnte nun versucht sein, eine Bilanz zu ziehen und zu vergleichen, ob die pastoralen Päpste besser waren als die politischen – aber das wäre sinnlos. Nicht nur, weil man selten klare Schwarz-Weiß-Kategorien findet, sondern weil es von allem etwas gab. Wenn man hingegen versuchen würde, sie als konservativ oder progressiv zu klassifizieren, käme man ebenfalls in Schwierigkeiten – vor allem, weil man damit die tradierte Doxa herausfordern würde, die die Päpste seit Jahrzehnten in bestimmte Schubladen steckt.
Man würde feststellen, daß ein Papst wie Pius X. in seiner Zeit keineswegs ein konservativer Papst war – man könnte ihn im Gegenteil als progressiv bezeichnen (zur Sicherheit sei angemerkt, daß „progressiv“ in diesem Kontext natürlich nichts mit Modernismus zu tun hat), der aber durch und durch katholisch war. Ein ähnlicher Fall ist Pius XII.: ein eigentlich progressiver Papst, aber in der Lehre völlig katholisch. Johannes XXIII. war, trotz gegenteiliger Annahmen, ein konservativer Papst – er machte mehrere Reformen seines Vorgängers rückgängig –, auch wenn er das Zweite Vatikanische Konzil einberief, bei dem man sich fragen muß, ob ihm wirklich bewußt war, was er da tat.
Kurzum: Die hier vorgeschlagene Taxonomie bringt keine sensationellen Neuigkeiten, aber sie hilft vielleicht, einige festgefahrene Vorurteile in Frage zu stellen, die letztlich unsere Sicht auf die Kirchengeschichte verzerren.
*Caminante Wanderer, argentinischer Philosoph und Blogger
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Caminante Wanderer