
Gestern feierte die Kirche das Hochfest Unserer Lieben Frau vom Schnee und zugleich den Jahrestag der Kirchweihe der Päpstlichen Basilika Santa Maria Maggiore in Rom. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete Papst Franziskus die Gottesmutter Maria als „Mittlerin der Gnade“. Sieht man das an der Internationalen Marianischen Päpstlichen Akademie und der zu dieser gehörenden Beobachtungsstelle für Erscheinungen und mystische Phänomene im Zusammenhang mit der Jungfrau und Gottesmutter Maria auch so? Das Glaubensdikasterium erklärte vor genau einem Monat noch das Gegenteil – mit ausdrücklicher Billigung von Franziskus.
Papst Franziskus begab sich anläßlich des Hochfestes zur Vesper in die Mutterkirche aller Marienkirchen. Dort hielt er eine kurze Ansprache, in der er auf den namengebenden Schneefall am 5. August 352 und die Ikone Salus Populi Romani Bezug nahm.
Bemerkenswerter ist jedoch der Hinweis von Franziskus auf Maria als Mittlerin der Gnaden, als Mediatrix gratiarum. Das Zweite Vatikanische Konzil nennt die Gottesmutter „Mittlerin“. Alle Bitten an den Heiligen Stuhl, die Mittlerschaft Mariens als Dogma zu verkünden, wurden seit den 60er Jahren jedoch abgelehnt.
Widerstand dagegen leistet vor allem die Internationale Marianische Päpstliche Akademie. Diese wurde von Franziskus gestärkt, indem er sie im vergangenen Jahr die von ihr abhängige Beobachtungsstelle für Erscheinungen und mystische Phänomene im Zusammenhang mit der Jungfrau und Gottesmutter Maria errichten ließ. Dieser kommt eine zentrale Rolle bei der Dokumentation und Beurteilung angeblicher oder tatsächlicher übernatürlicher Phänomen wie Marienerscheinungen zu.
In einem weiteren Schritt folgten die vom römischen Glaubensdikasterium am 17. Mai fixierten neuen Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene.
Die konkrete Umsetzung zeigt sich seither, indem plötzlich in schnellem Tempo über Erscheinungen aller Art entschieden wird. Die Vorgehensweise ist revolutionär, denn eine Übernatürlichkeit wird a priori nicht mehr anerkannt. Mit einer solchen Regelung könnten selbst Laizisten und Materialisten gut leben. Sie feindeten die Kirche gerade wegen ihres Wunderglaubens an. Mit oft fanatischem Eifer und bösartiger Polemik waren sie in den vergangenen 250 Jahren bemüht, jede übernatürliche Manifestation zu leugnen, „natürlich“ zu erklären und dabei die kirchliche Autorität, Seher und Heilige durch den Schmutz zu ziehen. Keine noch so groteske und unplausible Behauptung war ihnen dabei dumm genug, um sie nicht gegen die Kirche zu schleudern, da nicht sein kann, was nicht sein darf.
Doch die Gottesleugner und Kirchenfeinde stehen hier nicht zur Diskussion. Die Frage ist vielmehr, ob die neue Herangehensweise, die vom Glaubensdikasterium unter der Leitung von Kardinal Victor Manuel „Tucho“ Fernández betrieben wird, der Kirche angemessen ist.
Tatsache ist, daß es in den zuständigen vatikanischen Gremien starken Widerstand gegen die Bezeichnung von Maria als Gnadenvermittlerin, Mediatrix gratiarum, Mittlerin der Gnaden gibt. Als Hauptgründe werden mögliche Brüche mit der orthodoxen Ostkirche genannt, die Neuerungen grundsätzlich ablehnt, und mögliche Mißverständnisse mit den wenig marienfreundlichen Protestanten, daß Maria Christus „gleichgestellt“ würde. Das klingt sehr nach ökumenischer Kirchenpolitik.
Lipa, Amsterdam, Montichiari
Tatsache ist auch, daß Rom unter Papst Franziskus sich mehrfach gegen „Erscheinungen“ aussprach, in denen Maria als Gnadenvermittlerin behauptet wird, so z. B. 2016 gegen die „Erscheinungen“ von Lipa auf den Philippinen, wo die Gottesmutter sich 1948 einer jungen Karmelitin namens Teresita Castillo als „Mittlerin aller Gnaden“ vorgestellt haben soll. Die Situation von Lipa ist ähnlich jener der „Frau aller Völker“ in Amsterdam. Es gab bereits ein negatives Urteil, doch ein späterer Ortsbischof erkannte die Erscheinungen unter Berufung auf neue Untersuchungen an. Die römischen Behörden schritten ein, hoben das Anerkennungsdekret auf und erklärten die ursprüngliche Ablehnung wieder für gültig.
Eklatanter ist der Fall der „Rosa Mystica“ von Montichiari in der Diözese Brescia, der nach den neuen Normen abgehandelt wurde. Montichiari, wo die Seherin Pierina Gilli zwischen 1947 und 1966 Erscheinungen der Gottesmutter hatte, wurde am 5. Juli 2024 „anerkannt“. Da eine Anerkennung des übernatürlichen Charakters in den neuen Normen nicht mehr vorgesehen ist, wurde lediglich der pastorale Nutzen anerkannt. Aus dem Schreiben des Glaubensdikasteriums an Msgr. Pierantonio Tremolada von Brescia geht hervor, daß das Phänomen Montichiari „keine theologischen oder moralischen Elemente enthält, die der Lehre der Kirche widersprechen“. Doch es gibt einen Zusatz: Kardinal Tucho Fernández warnt in seinem Schreiben ausführlich, Maria als „Mittlerin“ zu bezeichnen. Die „Ausdrücke“, die Pierina Gilli, die Seherin von Montichiari, im Zusammenhang mit einer behaupteten „Mittlerschaft“ Mariens verwende, seien „nicht immer angemessen“ und „bedürfen einer Interpretation“. Das Bild von Maria als Mittlerin „muß jedenfalls vermieden werden“. Um dies zu verdeutlichen, schreibt Tucho Fernández explizit, „daß echte Früchte des Heiligen Geistes ‚manchmal mit konfusen menschlichen Erfahrungen, theologisch ungenauen Äußerungen‘ oder mit ‚rein menschlichen Elementen‘ verbunden erscheinen“.
Kardinal Fernández schob damit den Bestrebungen, ein fünftes Mariendogma zu erreichen, in dem Maria als Mediatrix oder/und Corredemptrix anerkannt wird, einen festen Riegel vor. Der Widerstand der römischen Gremien gegen diese Bestrebungen blitzte hier mehr als deutlich auf. Das Schreiben von Kardinal Fernández an Bischof Tremolada wurde von Papst Franziskus am 5. Juli ex audientia ausdrücklich gebilligt. (Siehe auch: Papst sagt Nein zu Maria Corredemptrix und Ein Dogma Maria Miterlöserin „wird vom Vatikan nicht befürwortet“. Im Gegensatz dazu die Reihe von P. Paolo M. Siano: eins, zwei, drei.)
Santa Maria Maggiore und die Mittlerin der Gnade
Wie das? Derselbe Franziskus nannte gestern Maria die Mittlerin der Gnade. Nichts anderes überlieferte Pierina Gilli, die 1991 im Alter von 80 Jahren verstorben ist. Wörtlich sagte Franziskus in Santa Maria Maggiore:
„Deshalb kommt das gläubige Volk, um den Segen der Muttergottes zu erbitten, denn sie ist die Mittlerin der Gnade, die – durch das Wirken des Heiligen Geistes – immerzu und einzig aus Jesus Christus strömt.“
Signalisiert Franziskus damit Widerspruch gegen die innervatikanischen Widerstände, Maria als Mittlerin und Miterlöserin anzuerkennen? Kann es sein, daß er am 5. Juli ein Dokument billigt, das den Widerstand gegen die Anerkennung festschreibt, und am 5. August genau das ausspricht, was das von ihm einen Monat vorher gebilligte Dokument unterbinden will?
Liest man die gestrigen Papstworte genau, wird deutlich, daß Franziskus eine Interpretation vornahm. Die Muttergottes „ist die Mittlerin der Gnade, die – durch das Wirken des Heiligen Geistes – immerzu und einzig aus Jesus Christus strömt“. Ein Nebensatz mit Einschub genügt, um jene „Interpretation“ zu bieten, deren Notwendigkeit bestimmte „marianische“ Kreise im Vatikan als Hauptargument vorschieben, um alle Bemühungen abzublocken, Maria als Mediatrix anzuerkennen. So einfach lassen sich tatsächliche oder vermeintliche Hindernisse überwinden. Da drängt sich der Eindruck auf, daß seit den 60er Jahren, aus „ökumenischen“ oder welchen Gründen auch immer, künstliche Hürden aufgerichtet wurden. Der für Modernisten „schreckliche Betriebsunfall“ von 1950, als Papst Pius XII. das vierte Mariendogma – die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel – verkündete, sollte sich „nie“ mehr wiederholen – nicht in der nachkonziliaren Kirche.
Um es grob zu sagen: Neue Mariendogmen brauche niemand und sie brächten nur Probleme mit den Orthodoxen, die keine Neuerungen wollen, mit den Protestanten, die Maria grundsätzlich nicht wollen, und mit der glaubenslosen Welt, der jeder transzendente Hinweis suspekt ist und die Kirche als Gesprächspartner unmöglich mache.
Die knappe Erklärung, die durch Franziskus gestern erfolgte, beweist, daß sich die innerkirchlichen Hürden problemlos und ohne jeden Aufwand überwinden ließen. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv. Will Franziskus das aber? Hat er innerhalb eines Monats seine Meinung grundlegend geändert?
Oder handelt es sich um ein neues Beispiel dafür, daß Franziskus sowohl das eine sagt als auch das genaue Gegenteil davon?
Dennoch: Gesagt ist gesagt.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)