Von Wolfram Schrems*
Es ist erfreulich, daß sich aufgrund der auf dieser Seite veröffentlichten Buchbesprechungen neue Kontakte zu Autoren ergeben. So schlug der Soziologe und Philosoph Heinz-Georg Kuttner (geb. 1942) die Vorstellung seines Buches über „die Folgen von Luthers Kampf gegen ‚Juda und Rom‘“ vor. Dieser Vorschlag wurde mit Interesse aufgegriffen, weil sich Dr. Kuttner mit dieser Studie an das Werk der katholischen Philosophin Alma von Stockhausen (1927–2020) anschließt. Diese rief eine eigene Schule der Luther-Kritik ins Leben. Sie war die Gründerin der Gustav-Siewerth-Akademie, an der auch Kuttner lehrte.
Kuttners Anliegen ist es, die „Wende zum Subjekt“ (vgl. dazu Paul Hackers bekannte Studie: Das Ich im Glauben bei Martin Luther) bei Martin Luther kritisch zu analysieren. Luthers neue Lehre sei ein Produkt des Nominalismus und eine „neue Form der Gnosis“. Aus dieser Gnosis sei das Konzept „der Schaffung eines Neuen Menschen und einer Neuen Zeit in den Heilslehren der politischen Religionen der Neuzeit“ entstanden, das völlig verschieden sei von der „Schaffung eines neuen Menschen im Sinne der christlichen Heilslehre“.
Luthers Rebellion – und die Folgen über die Jahrhunderte
Kuttner spannt einen Bogen von der Rebellion Luthers gegen das übernatürlich Offenbarte und das natürlich Erkennbare über die Wahnsysteme von Hegel, Feuerbach und Marx bis zu den antikatholischen Rebellionen von Georg von Schönerer, Alfred Rosenberg, Martin Heidegger und der Frankfurter Schule. Letztere kennt Kuttner aus eigener Erfahrung, da er u. a. bei Adorno und Horkheimer studierte.
Alle diese Denkströmungen hätten die Subjektivität auf Kosten einer objektiven Metaphysik und Ethik und vor allem der traditionellen katholischen Lehre überhöht.
Kuttner bezeichnet das von Martin Luther ausgehende überhöhte Selbstbewußtsein der Deutschen als „Auserwähltheitsglauben“.
Er bezieht sich mehrfach auf den Leitspruch des Georg Ritter von Schönerer (1842–1921): „Ohne Juda, ohne Rom, wird gebaut Germaniens Dom“1, den er sachlich (nicht von der Formulierung her) auf Luther zurückführt:
„Im Mittelpunkt [der vorliegenden Untersuchung] steht vielmehr die These, dass Luthers neue reformatorische Lehre nicht mit der katholischen Lehre vereinbar ist und dass durch den Kampf gegen ‚Juda und Rom‘ Luther die Grundlage für den deutschen Auserwähltheitsglauben gelegt hat, der gravierende geistesgeschichtliche und politische Folgen gehabt hat.“
Luther habe durch seine neue, aggressiv vorgetragene Lehre einen Bruch mit der philosophia perennis verursacht, der kaum überschätzt werden kann:
„Stand in der klassischen griechischen Philosophie und in der mittelalterlichen scholastischen Philosophie die Erkenntnis des Seins und insbesondere des höchsten, vollkommensten göttlichen Seins im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, kam es in der Theologie zu einer anthropozentrischen Wende der Begründung des Glaubens im sich selbst glaubenden Glauben und als Folge davon in der Philosophie des deutschen Idealismus zu einer Begründung der Philosophie im sich selbst denkenden Denken.“
Revolution gegen die Wirklichkeit, Nominalismus, Anpassung
Es komme zu einer „Spiritualisierung des Christentums“ („Innerlichkeit“ als letztes Kriterium des Glaubens) und gleichzeitig werde dadurch der Boden „für das Entstehen der großen gnostisch orientierten philosophischen Systeme von Hegel, Marx und Luhmann bereitet“.
Nach Heinrich Heine sei, so Kuttner, die Reformation Luthers „die Mutter aller neuzeitlichen Revolutionen“.
Luther bekämpfte nach Kuttner das an äußeren Gesetzen orientierte Judentum und die an „Dogmen, formaler religiöser Pflichterfüllung und Verdiensten orientierte Papstkirche“, um ein „authentisches, rein an den Worten Jesu orientiertes, innerliches Christentum“ zu verwirklichen.
Luther habe für den Nominalismus des Wilhelm Ockham (1285–1347) optiert, für den die Begriffe nur „leere Worthülsen, bloße Nomina“ waren und womit er die Seinsanalogie (analogia entis) leugnete. Damit stellte Ockham „die natürliche Erkenntnis des gesunden Menschenverstandes in Metaphysik und Theologie in Frage“.
Kuttner legt dar, daß es im Wesen des Protestantismus selbst liegt, daß er sich dem Zeitgeist anpaßt, von der Unterwerfung unter die rebellischen Fürsten zur Zeit Luthers selbst bis zur Rassenlehre des Nationalsozialismus, der Klassenlehre des Sozialismus und dem Genderismus der Gegenwart. Denn durch die Trennung von der authentischen Überlieferung über Jesus Christus wird „jeder beliebigen ideologischen Interpretation Tür und Tor geöffnet“. Es sei das die „gnostische Idee der Befreiung vom Glaubensinhalt“.
Besonders schlimme Auswirkungen hatte Luthers Ablehnung des freien Willens des Menschen.
Hegel als Adept Luthers – der Gottesmord
Revolutionär sei bei Luther, daß Gott nicht mehr als vollkommenes Sein verstanden wird. Luther trägt den Widerspruch in Gott hinein und legt die Basis für ein das Widerspruchsprinzip verneinende Denken, das nach Kuttner „das Kennzeichen des deutschen Geistes ist“.
Daran knüpfte bekanntlich Hegel mit seiner das Widerspruchsprinzip verneinenden Logik in der Philosophie „des absoluten Geistes“ an. Dort werde alles Negative „als etwas Notwendiges in dem Entwicklungsprozess des zu sich selbst kommenden Geistes angesehen“ und somit als „moralisch Böses“ eliminiert. Eine fatale Verirrung. Kuttner spricht mit Eric Voegelin im Zusammenhang mit dem Hegelschen System sogar vom „Gottesmord“.
Seit Luther bestehe „das Wesen des deutschen Geistes […] darin, nicht demütig, sondern hochmütig und rebellisch zu sein“.
Nach Kuttner habe Hegel „als Lutheraner die Theologie Luthers in seiner Philosophie des absoluten Geistes auf den Begriff gebracht und so in seiner gnostischen Systemphilosophie den Hochmut des deutschen Geistes enthüllt.“
Der Bogen zu Hegel ist – gemäß den Vorarbeiten von Alma von Stockhausen – Kuttner sehr wichtig, weil Hegel sich explizit auf Luther beruft:
„Hegel [ist] davon überzeugt, dass die gesamte Weltgeschichte ‚als ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‘ betrachtet werden muss. Den Anstoß zu einer am Fortschreiten des Geistes orientierten Weltsicht hat nach Hegel vor allem Luther geleistet. Welthistorisch bedeutsame Taten werden nach Hegel immer nur von bestimmten vom Weltgeist auserkorenen Individuen vollbracht und Luther war nach ihm dazu auserkoren, das Zeitalter der Freiheit einzuleiten.“
Der Protestantismus als Helfer des Zeitgeistes: Nationalsozialismus, Marxismus, Genderwahn
Kuttner spannt den Boden weiter zum deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert und dessen begünstigende Auswirkung auf den Nationalsozialismus: In rein protestantischen Wahlkreisen sei die Zustimmung zur NSDAP signifikant höher als in den überwiegend katholischen gewesen.
Alfred Rosenberg knüpfte nach Kuttner an Luther an und wollte dort weitermachen, wo Luther gezögert habe, nämlich bei der Tilgung des Alten Testamentes.
Die Gedankenführung gelangt dann zu Martin Heidegger, wobei Kuttner eine weitreichende Feststellung im Zusammenhang mit der antischolastischen Vernunftfeindlichkeit trifft:
„Wie für Luther wirkt nach Heidegger alle Vernunft den Menschen zersetzend und entfremdend [!].“
Der Kampf gegen die Vernunft ist auch ein Kampf gegen die Kirche, in der die Vernunft immer Heimatrecht hatte.2
Luthers Revolution geht aber immer weiter: Nach dem II. Weltkrieg habe sich der Protestantismus in der DDR weitgehend dem Regime angebiedert (erwähnt wird etwa Pfarrer Horst Kasner, Vater von Angela Merkel). Im Westen paßte er sich dem Neomarxismus an und unterwerfe sich jetzt dem New Age und dem Feminismus und deren politischem Arm.3
Subjektivismus auf die Spitze getrieben: kein Wirklichkeitsbezug mehr
In einer sehr wichtigen Passage bietet Kuttner sozusagen den geistesgeschichtlichen Hintergrund der heute üblichen irrigen Auffassung vom Gewissen:
„Martin Luther gelangte durch seine Wende zum Subjekt zu der Vorstellung, dass das Herz und Gewissen des Menschen sich nie irren könne. Wie für Martin Luther irrt nach Fichte das Gewissen nie und kann sich auch nicht irren, weil es ‚selbst Richter aller Überzeugung‘ ist, der ‚keine höheren Richter über sich anerkennt. Es entscheidet in der letzten Instanz und ist selbst inappellabel!‘ Niemand bestreitet – auch nicht die klassische und scholastischen Philosophie –, dass jeder seinem Gewissensspruch folgen muss. Eine ganz andere Frage ist, ob das, was mein Gewissen mir sagt, auch immer recht hat und ob damit meine Gewissensentscheidung in jedem Fall als unfehlbar anzusehen ist. Die Konsequenz wäre dann, dass es in Sachen der Moral und der Religion keine Wahrheit geben könne und dass das irrige Gewissen den Menschen vor den Zumutungen der Wahrheit schützt.“
Zwei Kritikpunkte: „Auserwählungs“-Bewußtsein nicht belegt und mangelnde Analyse des Judentums
Kuttners Studie ist durchaus interessant und lebendig geschrieben. Sie ist materialreich und kenntnisreich. Inhaltlich gibt es allerdings zwei gröbere Probleme zu kritisieren: Kuttner führt erstens nirgendwo einen Beleg an, daß sich die Repräsentanten des von ihm so genannten „deutschen Geistes“ auch tatsächlich buchstäblich als von Gott „auserwählt“ verstanden. Kuttner behauptet zwar, daß etwa Alfred Rosenberg (den er eingehend darstellt) von einer Auserwähltheit des deutschen Geistes ausgeht (etwa 120 und 171), belegt das aber mit keinem Zitat. Damit ist der Titel der Studie problematisch.
Andererseits wäre es möglicherweise angebracht gewesen, die Rolle der deutschen Nation als Trägerin des Heiligen Römischen Reiches, einer zentralen Institution der katholischen Zivilisation über Jahrhunderte hinweg, kurz zu würdigen. –
Zweitens ist Kuttner zu unsauber, was er bzw. Martin Luther unter „Judentum“ oder „Juda“ verstehen. Daß die Offenbarung Gottes an Israel, wie sie im Alten Testament dargestellt wird, etwas anderes ist als das pharisäische Judentum vor und nach der Verwerfung Jesu Christi, wird Dr. Kuttner ja bekannt sein. Der Talmud ist die Verneinung der Botschaft Gottes und der Vernunft. Das rabbinische Judentum kommt bei Kuttner oft implizit zu positiv vor.
Interessant wäre auch die Antwort auf die zu stellende Schlüsselfrage: Was genau kritisierte Martin Luther an den Juden? Doch wohl nicht das Alte Testament?
Kuttner irrt auch mit dieser, ziemlich verdrallten Einschätzung:
„Mit der einseitigen Betonung [!] des Gekommenseins Christi und dem Verlust der Erwartung [?] seiner Wiederkunft jedenfalls wurde das Band zwischen Juden und Christen als gemeinsam Wartende [!] zerschnitten mit der Folge, dass die Christenheit ihre jüdische Wurzel aus dem Blick verloren hatte.“
Gerne hätte man auch gewußt, wie Kuttner den Einfluß des Judentums auf Marxismus, Bolschewismus und die Frankfurter Schule sieht. –
Auch andere Stellen sind nicht immer klar, etwa die Passage zu Paulus und der „Gefahr des Rationalismus“ (44). An dieser und an anderen Stellen will Kuttner möglicherweise zu viel auf einmal sagen. –
Eine Kritik im Formalen ist auch anzubringen: Die Studie erhielt kein gründliches Lektorat und Korrektorat. Zahlreiche Verschreibungen sind stehengeblieben, vieles ist weitschweifig und repetitiv, ganze Absätze wiederholen sich wörtlich. Es wäre sicher gut gewesen, den Text zu überarbeiten und zu straffen.
Resümee
Daß die vorliegende Studie hier grundsätzlich wohlwollend vorgestellt wird, ist durch die positive Einschätzung der Stockhausen-Schule der Luther-Kritik durch den Rezensenten begründet. Kuttner zeigt – ungeachtet kritisch zu betrachtender Stellen – die katastrophalen Folgen der sogenannten „Reformation“ gut auf. Sie brachte Revolution, Stolz und Hochmut, Ablehnung einer vernunftgemäßen Philosophie, Verwerfung der Kirche und der legitimen Autoritäten und in weiterer Folge politische Konflikte und Blutvergießen. Diese Revolution geht auf die eine oder andere Weise bis heute weiter.
Katholiken – und auch Protestanten – sollten sich hier gut informieren. Jede uninformierte „Ökumene“ ist unwahrhaftig und schadet den Seelen.
Die Studie macht auch klar, und das sollten besonders patriotische Aktivisten beherzigen, daß Luther dem legitimen Anliegen eines sicheren, prosperierenden und selbstbestimmten Deutschland nicht gedient hat.
Vorliegende Studie kann helfen, Verwerfungen der deutschen Geistesgeschichte adäquat in den Blick zu bekommen. Dafür ist dem Autor zu danken.
Heinz-Georg Kuttner, Eine geistesgeschichtliche Studie zum Glauben an die Auserwähltheit des deutschen Geistes – Die Folgen von Luthers Kampf gegen „Juda und Rom“, Gustav-Siewerth-Akademie, Weilheim-Bierbronnen, 1. Auflage 2017, 2. Auflage 2018, 474 S.
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro Lifer, reiche Erfahrung in der katholisch-protestantischen Auseinandersetzung
Bild: Wikicommons
1 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß offenbar auch der Spruch „Ohne Habsburg, Juda, Rom / bauen wir den deutschen Dom“ verwendet wurde (zumindest geht das aus der Verfilmung eines Werkes von, soweit richtig in Erinnerung, Ödön von Horvath hervor). Das heißt, daß die revolutionären deutschnationalen Strömungen des 19. Jahrhunderts ihren Furor auch gegen das österreichische Herrscherhaus richteten, das das Heilige Römische Reich überhaupt erst aufgebaut, beschützt und somit über lange Zeit ermöglicht hatte.
2 „[Heideggers] Abneigung gegen das die Gewissen der Menschen vergewaltigende und strangulierende römische Papsttum und das mit dem Papsttum verschwisterte Habsburgerreich führten ihn in ähnlicher Weise wie Hitler als Katholik zu Luther, der die Urgewalt der deutschen Sprache wieder zur Geltung gebracht hat. … Das Ziel muss es deshalb nach Heidegger sein, sich vollständig von dem klassischen philosophischen Denken der Antike und dem scholastischkatholischen Denken zu befreien und sich an dem von Luther initiierten, am ureigenen Inneren der Seele orientierten Denken zu orientieren.“
3 Hochinteressant ist, was Kuttner über Rudolf Bahro, einen linken Intellektuellen in der DDR, SED-Mitglied und Ideengeber von Angela Merkel zu sagen hat (etwa zum Thema der bewußten Erzeugung von Ängsten durch die Politik zur Steuerung der Massen).
Sogar die Heiden, die in der Finsternis ernsthaft nach einem Licht suchen, und es durch den guten Hirten Bischof Vigano schon lange gefunden haben, wissen das seit Jahren.
https://www.compact-online.de/satans-revolution-erzbischof-vigano-demaskiert-den-great-reset/
Und auch schon in diesem, auch von Ihnen besprochenen Buch, ist die lutherische Revolution und ihre Folgen wunderbar zusammengefasst
https://katholisches.info/2018/02/15/option-benedikt-eine-strategie-fuer-christen-im-postchristlichen-staat/