von Wolfram Schrems*
Im Anschluß an meine Rezension über Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther – Der Ursprung der anthropozentrischen Religion, vom 18. November auf dieser Seite, die große Diskussionen auslöste und mir aus meinem Umfeld und Freundeskreis, auch aus dem protestantischen, äußerst aufschlußreiche und durchaus ermutigende Rückmeldungen einbrachte, und zum Zweck weiterer kritischer Erörterungen im Hinblick auf das herannahende „Luther-Jahr“ 2017 sei hier noch ein weiteres Standardwerk zur Theologie Martin Luthers präsentiert: Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit – Grundzüge der Theologie Martin Luthers.
Ein Klassiker
Es handelt sich um einen Klassiker katholischer Luther-Analyse. Prälat Beer (1902 – 2000) stammte aus der Nähe von Landshut in Niederbayern und ging in den 30er Jahren in das Bistum Dresden-Meißen. Somit war ihm auch eine protestantisch geprägte Kultur vertraut, nicht nur die Literatur. Er wurde zum Fachmann, der auch lutherische Kirchenmänner über Luther belehren und korrigieren konnte.
Als für einen spezialisierten Adressatenkreis konzipiertes theologisches Fachbuch setzt es ein überdurchschnittliches Maß an Vorbildung und Problembewußtsein voraus. Der damalige Professor Joseph Ratzinger, der Beer an die Universität Regensburg zu einschlägigen Seminaren holte, lobte es mit enthusiastischen Worten.
Aussageabsicht des Werkes
Die Grundaussage des umfangreichen Werkes ist, daß Luther sich von der klassischen katholischen Gnadenlehre, besonders von seinem Ordensvater Augustinus und dem allgemeinen Lehrer Thomas von Aquin, ablöste und zu diesem Zweck auch eine neue Terminologie einführte bzw. die alte mit neuen Bedeutungen füllte:
„Der Einfluß des Neuplatonismus, der pseudohermetischen Literatur und der Gnosis (…) läßt seine Polemik gegen die griechische Philosophie und gegen die Scholastik in einem ganz anderen Licht erscheinen“ (J. Ratzinger).
Diese Vorgangsweise gibt der lutherischen Theologie ihre schillernde und esoterische Qualität. Oft ist sie nicht auf den Punkt zu bringen, da es immer auch widerstreitende Aussagen gibt:
„Lutherforscher klagen: Die Sprache Luthers kann den reinen Logiker, für den die Eindeutigkeit der verwendeten Begriffe und Denkmittel oberstes Gesetz ist, zur Verzweiflung bringen. Aber nicht nur die Sprache, sondern die Sache selbst ist es, die den Widerspruch in sich trägt“ (173).
Prälat Beer muß daher, um Luther einigermaßen gerecht zu werden, dessen Lehre zu Gnade, Glaube und Rechtfertigung, zu Christologie und Anthropologie, auf gut fünfhundert Seiten detailreich rekonstruieren. (Davon ist allerdings ein erheblicher Teil Apparat mit vielen Luther-Zitaten auf Latein, die nur für den Fachmann von Interesse sind, somit für das Gesamtverständnis nicht gelesen werden müssen.)
Widersprüche im lutherischen Denken
Es ist doch bezeichnend, daß jemand, der den Schlachtruf „Sola-Scriptura“ ausgegeben hat, Schriften im Umfang von 127 Quartbänden (etwa 80.000 Seiten) hinterläßt (Weimarer Ausgabe). Offenbar reicht „die Schrift alleine“ doch nicht.
Das ist nicht der einzige Selbstwiderspruch bei Martin Luther:
Beer stellt an manchen Stellen heraus, wo und wie Luther von der katholischen Lehre und von der Bibel abweicht.
„Um Luthers Anliegen zu verstehen, kann man nicht von der Schrift ausgehen (…)“ (331).
Es ist bizarr zu sehen, wie jemand, der vorgeblich ein Verteidiger der Bibel und des Sola-Scriptura-Prinzips ist, den Apostel Paulus für dessen Lehre kritisiert (!):
„Nicht nur den Papisten macht Luther den Vorwurf, daß sie zwei Dinge miteinander vermischen, er ist auch der Meinung, Paulus verletze in Gal 3,5.6 die Regeln der dialektischen Schlußfolgerung, d.h. er halte Würdigkeit und Folge (im Sinne Luthers) nicht auseinander … Auch in der klassischen Stelle für die Termini gratia und donum, Röm 5,15, sieht Paulus zum Befremden Luthers Gnade und Gabe in dem einen Vorgang der Rechtfertigung zusammen“ (167).
Neue Lehren
Inhaltlich geht es dabei um den „fröhlichen Wechsel und Streit“, also das, was die katholische Theologie als admirabile commercium, den „wunderbaren Tausch“ bezeichnet: Christus nimmt die Schuld der Menschen auf sich und läßt sie im Gegenzug an der göttlichen Natur Anteil erhalten (vgl. 2 Petr 1, 4). Dabei formuliert Luther aber neuartige und sehr komplizierte Lehren bzw. Gedankenkonstrukte, die sich so aus dem Bibeltext nicht ergeben und die Kontinuität bisheriger Bibelauslegung abbrechen.
Die Auswirkungen sind enorm.
Um seine Sicht der Dinge durchzusetzen, muß Luther sogar die menschliche Natur vor dem Sündenfall als „Kot“ bezeichnen (!) – was der Weisheit des Schöpfers Hohn spricht und direkt gegen den Schöpfungsbericht formuliert ist („Es war sehr gut.“ Gen 1, 31). Luther muß hier eine geistige Verwandtschaft zum Ketzer Markion (2. Jhdt.) und zum Manichäismus (3. Jhdt.) konstatiert werden, gemäß denen die Schöpfung schlecht bzw. sogar böse sei.
Auch die wahre menschliche Natur Jesu Christi wird zur „Larve“ herabgesetzt, was die wirkliche Menschwerdung des Wortes (nach Joh 1, 14) abschwächt und zu unzitierbaren Entgleisungen führt (389). Dem widerspricht wiederum Luthers Festhalten an „alle[n] Elemente[n] der katholischen Marienverehrung“ (381), insbesondere den Dogmen der Unbefleckten Empfängnis und der Himmelfahrt (!):
„Daß Luther aus diesen Elementen der Marienverehrung nicht die Konsequenzen zieht, hat seinen Grund im Begriff der Gnade, welche Christus ist, und in seiner Lehre von der doppelten Rechtfertigung. Die Gnade, welche Christus ist, oder die forma dei, bezieht das Geheimnis der Inexistenz [soviel wie „Darin-Bestehen“ o. ä., Anm.] des Logos in der Menschheit Christi nicht in die Erwägung mit ein und läßt die katholische traditionelle Christologie und Mariologie, die Luther bewahrt hat neben seiner Rechtfertigungschristologie, als getrenntes Feld liegen“ (382).
Bei Luther fällt praktisch alles auseinander, was zusammen gehört.
Die Schlußfolgerung Beers ist, daß die alles zersetzende Bibelkritik Rudolf Bultmanns nicht ein Abfall von der Christologie Luthers ist sondern deren letzte Konsequenz:
„Weil es in der Philosophie keinen Begriff für ein Suppositum gibt, deshalb meint Luther, die Aussagen der Heiligen Schrift, die die personale Einheit der beiden Naturen in Christus aussagen, aufspalten zu müssen. Er tut es mit Sprach- und Denkmitteln, die aus philosophischen und weltanschaulichen Konzeptionen kommen, die die Väter und die Konzilien gerade überwinden und umformen mußten, damit sie Instrumente für die Aussage eines Suppositums werden konnten. Während die Väter um einen passenden Ausdruck für das Geheimnis der Einheit in Christus ringen, ist Luther gezwungen, in dasselbe Geheimnis eine Konträrität einzubringen. … Die Schlüssel, die Luther zur Eröffnung der Heiligen Schrift benützt, sind geformt nach der neuplatonisch-neupythagoreischen Philosophie, nach dem gnostisch beeinflußten Bild vom geköderten Leviathan und nach dem an Mysterienkulte erinnernden Wechsel. Damit kann jedoch die Heilige Schrift nicht erschlossen werden, es werden vielmehr Widersprüche in sie hineingetragen und die Türe zu ihrem Verständnis verschlossen. Bultmann spricht, mit Berufung auf Luther, von dem großen Rätsel oder Widerspruch im Neuen Testament, wie aus dem Verkündiger der Verkündigte wurde“ (405f).
Nur „theologische Spitzfindigkeiten“?
Viele Leser mögen sich unter Umständen fragen, ob das nicht alles akademische Spitzfindigkeiten sind, die mit dem „realen Leben“ nichts zu tun hätten.
Dem ist eben nicht so.
Luthers Theologie, die aus persönlichen Gründen von seiner Rechtfertigungs- und Gnadenlehre ihren Ausgang nahm (vgl. dazu Paul Hackers erwähntes Buch), brachte direkt und indirekt großen Einfluß auf Politik und Kultur hervor. Denken wir nur an die Schwächung der Abwehr gegen die türkische Aggression über den Dreißigjährigen Krieg bis zum preußischen Militarismus (der ohne die lutherische Staatshörigkeit nicht denkbar gewesen wäre).
„Reformation“, Revolution und das Fischen im Trüben
Diejenigen revolutionären Bewegungen, die man nachträglich unter dem irreführenden Schlagwort „Reformation“ zusammenfaßte, wurden von Menschen geprägt, die ihre eigenen Lieblings- oder auch Wahnideen den Mitmenschen aufnötigen wollten (Eric Voegelin, Luther und Calvin – Die große Verwirrung) und zu diesem Zweck alte traditionelle Bindungen zerschneiden mußten. Obgleich die kirchliche Situation zur Zeit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert unbestritten reformbedürftig war, nämlich im eigentlichen Sinn des reformare, des „in die rechte Form Zurückbringens“, hat Luther das Reformanliegen verfehlt.
Daß man heutzutage Wahrheitsfrage, Glaube und Moral aus der Öffentlichkeit verbannt, dafür alle möglichen Perversionen im öffentlichen Raum zelebrieren läßt, ist ein Armutszeugnis unserer Zeit.
Und auch indirekte Folge der Reformation, da sich deren Protagonisten nur auf ihr eigenes Gewissen beriefen (wie ehrlich auch immer) und das Glaubensgut des geoffenbarten Glaubens und der wahren Moral über den Haufen warfen.
Man darf nicht vergessen, daß ja aus der Revolutionierung des Glaubens auch eine Revolutionierung der Moral folgt, somit in erster Linie auch eine Selbstermächtigung für eigenmächtiges, eigennütziges bzw. selbstsüchtiges Handeln. Viele Glaubensneuerer (nicht: Glaubenserneuerer) und Gurus entdeckten, daß ihr neues Glaubenssystem eine (vermeintliche) Erlaubnis zu bis dahin verbotenem Handeln bieten. Unter neuen Umständen ließ sich also trefflich im Trüben fischen. Wenn also Pater Martin sagen durfte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, fühlten auch andere diese Erlaubnis.
Aber nur ein gemeinsamer Glaube, der die mit der Herrschaft Beauftragten mit den Beherrschten verbindet und beide mit derselben Verpflichtung zu Wahrheit und Wohlwollen, kann in Kirche und Staat Willkürherrschaft und Sklaverei verhindern!
Beer spricht an einer Stelle die psychische Verfaßtheit Luthers an, ohne sie näher auszuführen. Aber der versierte Leser versteht, daß die gewalttätige Uminterpretation des gesamten überlieferten Glaubens, einschließlich des Wortlautes der hl. Schrift, etwas Pathologisches an sich hat. Anders ist die Verbissenheit der Realitätsverweigerung nicht zu erklären.
Aus heutiger Sicht hätte man einen Menschen, der mit sich nicht im Reinen ist und zur Skrupulosität neigt, nicht in das klösterliche Leben eintreten lassen dürfen. Das Kloster erwies sich für sein Seelenleben als nicht hilfreich.
Obwohl Beer nicht näher auf die (charakteristisch brutale) Diktion Luthers eingeht, fällt doch aufgrund der Zitate auf, daß Luther die scholastischen Theologen vor ihm und seiner Zeit pauschal als „Sophisten“ verunglimpft. Das ist – verglichen mit sonstigen Ausfällen Luthers – zwar relativ harmlos, aber der Sache nach unfair und despektierlich und fällt auf Luther selbst zurück.
Resümee
Dieses Buch gehört zur Pflichtlektüre für alle, die im offiziellen katholisch-lutherischen „Dialog“-Betrieb engagiert sind. Dort ist ja bekanntlich die Gefahr inhaltsleerer Phraseologie und des konsequenten und willentlichen Aneinandervorbeiredens am größten. Das Konzept scheint dort zu sein: Wenn man seinen Job nicht verlieren will, muß man den Dialog prolongieren und darf unter keinen Umständen zu einem konkreten Ergebnis kommen, etwa zu einer Vereinigung der getrennten Christen.
Aber ein Dialog, der diesen Namen verdient (gemäß den Platonischen Dialogen oder dem berühmten Dialogue Concerning Heresies des hl. Thomas Morus von 1528, der die Positionen Luthers und William Tyndales widerlegt), benötigt eine inhaltliche Erdung.
Nicht zuletzt sollten sich die katholischen Hierarchen, besonders die Bischöfe und Kardinäle deutscher Sprache, dieses Buch vornehmen. Es wäre eine gute Nachhilfe für theologisch verwirrte Hirten.
Nachdem das Buch Luther ernst nimmt und dessen Lehre gründlichst durchleuchtet, dabei auf klassische Polemik oder psychologische Interpretationen verzichtet, eignet es sich besonders für protestantische Gelehrte, die sich über ihre Glaubensvoraussetzungen intensiver Rechenschaft geben wollen. Betriebsblindheit gibt es ja nicht nur in Industriebetrieben oder Vereinen.
Prälat Beer war selbst kein Konvertit, daher fehlte ihm auch der für Konvertiten oft charakteristische Eifer oder Übereifer. Angesichts sehr ausführlicher fachlich-neutraler Darstellungen lutherischer Gedankenirrungen fragt man sich aber manchmal, ob nicht manchmal mehr Würze angebracht gewesen wäre.
Dem Johannes-Verlag Einsiedeln, der besonders für seine schöne Reihe „Christliche Meister“ bekannt ist, gebührt das Verdienst, Theobald Beers Meisterwerk zu einem günstigen Preis für Forschung, Apologetik und Kontroverstheologie in einem Band bereitgestellt zu haben. In Zeiten eines gewaltigen Konformitätsdrucks und einer von oben verordneten offiziösen Geschichtsschreibung und ‑deutung ist derartige Literatur von kaum zu überschätzendem Wert.
Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit – Grundzüge der Theologie Martin Luthers, Johannes-Verlag, Einsiedeln, 2. vermehrte Auflage 1980, 563 Seiten, 12,- [D]; Horizonte Neue Folge 19 (Erstausgabe Benno-Verlag, Leipzig 1974)
*MMag. Wolfram Schrems, Linz und Wien, katholischer Theologe, Philosoph, Katechist, reiche Erfahrung im interkonfessionellen Gespräch
Bild: Una Fides