(Rom) „Ungläubig, überrascht und verwirrt“ schauten viele Gläubige am vergangenen Sonntag, als sie in ihren Pfarren die Heilige Messe besuchten. In vielen Diözesen Italiens liegt für die Sonntagsliturgie in den Kirchen ein vierseitiges A5-Blatt mit den Lesungen, den Tagesgebeten, Liedvorschlägen, Fürbitten und einigen geistlichen Gedanken dazu auf. Das Blatt erscheint als Wochenzeitung und nennt sich Der Sonntag (La Domenica). Es wird Sonntag für Sonntag in Massenauflage von den Paulus-Schwestern (Congregatio Filiarum Sancti Pauli, FSP) herausgegeben. Der katholische Frauenorden, der vor allem im Schriftenapostolat tätig ist, wurde 1914 vom seligen Giacomo Alberione gegründet und ist seit 1943 päpstlich anerkannt.
Lob für Martin Luther
Am vergangenen Sonntag mußten die katholischen Gläubigen ein überschwengliches Lob für Martin Luther lesen. Der deutsche Häresiarch, der ein eigenes Gottesverständnis entwickelte, spaltete 1517 die katholische Kirche. Unterstützt wurde er dabei von einigen deutschen Fürsten, die ihre Macht gegenüber dem Kaiser stärken und sich widerrechtlich in den Besitz des Kirchengutes in ihren Ländern bringen wollten. Luther gab den Segen zu diesem räuberischen Rechtsbruch zum Dank für das Schwert der Fürsten, das ihn schützte.
Im Blatt der Paulus-Schwestern wurde der „Gründungsvater“ des Protestantismus ob seiner „geistlichen Gaben“ gelobt, vor allem aber weil er „die Fremden Willkommen geheißen hat“.
„Ein halbes Jahrtausend nach dem Anschlag von Luthers 95 Thesen am Kirchenportal von Wittenberg gegen den Ablaß bringen die beiden Kirchen die Dankbarkeit für die geistlichen und theologischen Gaben der protestantischen Reformation zum Ausdruck und stellen die Versöhnung in den Mittelpunkt ihres Zeugnisses, die Überwindung der historischen Brüche, die Anerkennung der Fehler und die Aufnahme der Fremden.“
Die Autorin dieses Textes, Vittoria Priscandaro, schlägt eine abenteuerliche Kurve. Dabei fällt neben dem unkritischen Ökumenismus – der den Protestantismus ebenso klischeehaft wie unhistorisch ins Helle, die Kirche aber ins Finstere stellt – auf, daß Luther vor allem für tagespolitische Zwecke in Stellung gebracht wird, nämlich für die bedingungslose „Willkommenskultur“ der radikalen Linken.
Der Zeitpunkt ist nicht zufällig gewählt: In Italien wird derzeit intensiv ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz diskutiert. Die regierende Linke möchte ein Ius soli durchsetzen. Zur „Förderung der Integration“ von Einwanderern, wie es heißt. Dagegen gibt es in der Bevölkerung heftigen Widerstand. Papst Franziskus äußerte sich mehrfach und lautstark für den Vorschlag der Linksregierung. Die Vox populi, auf die sich das katholische Kirchenoberhaupt gerne beruft, scheint in dieser Frage weniger zu gelten.
Marcello Pera: Migrationspolitik von Papst Franziskus ohne rationale und biblische Begründung
Der ehemalige Präsident des italienischen Senats, der Philosoph und persönliche Freund Benedikts XVI., Marcello Pera, kritisierte die Migrationspolitik von Franziskus im vergangenen Sommer scharf. Am 9. Juli sagte er der Tageszeitung Il Mattino:
Marcello Pera: „Ganz ehrlich, diesen Papst verstehe ich nicht. Was er sagt, liegt außerhalb eines rationalen Verständnisses. Es ist allen offensichtlich, daß eine bedingungslose Aufnahme nicht möglich ist. Es gibt einen kritischen Punkt, der nicht überschritten werden darf. Wenn der Papst diesen kritischen Punkt nicht berücksichtigt, wenn er auch eine massive und totale Aufnahme beharrt, frage ich mich: Warum sagt er das? Was ist der wirkliche Zweck seiner Worte? Warum läßt er es selbst an einem Minimum an Realismus fehlen, jenem Minimum, das von jedem gefordert ist?
Ich kann mir darauf nur eine Antwort geben: Der Papst tut es, weil er den Westen verachtet, darauf abzielt ihn zu zerstören und alles tut, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn man der kritischen Schwelle nicht Rechnung trägt, jenseits der unsere Gesellschaften nicht mehr jeden aufnehmen können und ihnen nicht einmal mehr jene Mindestwürde garantieren können, die man jedem Menschen schuldet, werden wir bald Zeugen einer regelrechten Invasion werden, die uns überfluten und unsere Sitten, unsere Freiheit, ja sogar das Christentum in eine Krise stürzen wird. Es wird eine Reaktion folgen und ein Krieg. Wie kann das der Papst nicht verstehen? Und auf welcher Seite wird er stehen, wenn dieser Bürgerkrieg erst einmal ausgebrochen sein wird?“Il Mattino: Sind Sie nicht der Meinung, daß das auch mit dem Evangelium zu tun haben könnte, mit dem, was Christus lehrte?
Marcello Pera: Absolut nicht. Genausowenig, wie es mit einer rationalen Motivation zu tun hat, gibt es eine evangelische Begründung, die erklären könnte, was der Papst sagt. Das ist ein Papst, der seit dem Tag seiner Amtseinführung nur Politik betreibt. Er sucht den schnellen Applaus, indem er sich einmal zum Generalsekretär der UNO macht, ein andermal zum Staatsoberhaupt oder sogar zum Gewerkschaftsführer. Seine Sichtweise ist südamerikanisch, die des peronistischen Justicialismo1), der nichts mit der westlichen Tradition der politischen Freiheiten und der christlichen Matrix zu tun hat. Das Christentum des Papstes ist von anderer Natur. Es ist ein völlig politisches Christentum.
Il Mattino: Das scheint in diesem Fall aber nicht den Widerstand der Laizisten zu provozieren, der während der vorherigen Pontifikate ständig zur Stelle war?
Marcello Pera: Das ist ein Papst, der einer bestimmten öffentlichen Meinung gefällt. Er spiegelt deren Stimmungslage wider, und sie ist dafür bereit, ihm auch zu applaudieren, wenn er Banalitäten von sich gibt.
Ungewöhnliche Politisierung: Vorbild Luther?
Seit 97 Jahren geben die Paulus-Schwestern ihre Minizeitung zur Sonntagsliturgie heraus. In jüngster Zeit ist eine ungewöhnliche Kursänderung in Richtung Politisierung festzustellen. Das kleine Blatt, das als Liturgiehilfe gedacht ist, wurde personell um- und aufgerüstet. Es hat sich einen Chefredakteur und zwei stellvertretende Chefredakteure zugelegt. „Daneben muß fast der Corriere della Sera erblassen“[1]Auflagenstärkste und renommierteste Tageszeitung Italiens, vergleichbar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung., so Giuliano Guzzo in der Tageszeitung La Verità . Man scheint Pläne zu haben.
Die Berufung auf Luther erstaunt gleich mehrfach. Luthers langlebigstes „Verdienst“ ist die Spaltung Europas und vor allem des deutschen Volkes und des deutschen Reiches als tragendes Fundament des Heiligen Römischen Reiches. Eine Spaltung, die bis heute andauert. Im Dreißigjährigen Krieg wurden ganze Landstriche Deutschlands ausgemordet.
Wie Zeitzeugen berichten verfügte Luther nicht nur über eine gewaltige, sondern auch eine gewalttätige Sprache. Den Papst wollte er ersäufen, die Katholiken erschlagen, die Juden erwürgen, die Bauern totschlagen wie Hunde. Der gelehrteste Mann seiner Zeit, Erasmus von Rotterdam, brach wegen dieses Verbalradikalismus jeden Kontakt mit Luther ab. Als „Friedensbote“ und Vorbild für Refugee Welcome scheint Luther nicht wirklich zu taugen, wohl eher als Prototyp eines Hate Speacker im Sinne des Netzdurchsetzungsgesetzes. Heiko Maas würde Luther heute seine Bundeszensurbehörde auf den Hals hetzen.
Luthers Agitation gegen die Türkenabwehr
Der deutsche Protestantismus des 19. Jahrhundert verklärte Luther als Vorkämpfer deutschnationaler Interessen, weil der ausgesprungene Priester und Augustiner-Bruder gelegentlich das Wort „teutsch“ in seine Texte einflocht. Hitler nannte ihn sogar einen „deutschen Herkules“ und vereinnahmte ihn für sein tausendjähriges Reich arischer Nation. Es fällt bei aller Phantasie also schwer, sich vorzustellen, daß Luther am Bahnhof steht und mit Blümchen in der Hand islamische Migranten willkommen heißt, denn die Anhänger Mohammeds hielt er für „Diener des Teufels“.
Aber vielleicht bezieht sich das ungewöhnliche Lob im Blatt der Paulus-Schwestern mehr auf Luthers Verhältnis zu den muslimischen Osmanen. In der Tat äußerte er sich erstaunlich türkenfreundlich. Der Grund dafür war ein ebenso pragmatisches wie skrupellosen Kalkül. Denn der Feind meines Feindes ist in der Regel immer mein Freund. In diesem Sinne unterstützte Luther sogar den türkischen Vormarsch nach Europa, weil er das katholische Kaiserhaus der Habsburger, die katholischen Staaten und den Papst in Bedrängnis brachte. Noch bevor Süleyman I. im Osmanischen Reichs die Herrschaft übernahm schrieb Luther im Brustton des ideologischen Schreibtischtäters:
„Wider den Türken streiten, heißt wider Gott streiten.“
Das muß an der Hohen Pforte in den Ohren wie Musik geklungen haben und konnte leicht als Einladung mißverstanden werden. Süleyman rüstete jedenfalls seine Truppen und marschierte los.
Luthers Türkenfreundlichkeit ähnelt der Unvernunft heutiger „Willkommenskultur“
Solche Luther-Worte erinnern in der Tat an die heutige „Willkommenskultur“, die zwar mit anderem Vokabular, aber derselben Unvernunft vorgetragen wird, wie der italienische Philosoph und Politiker Marcello Pera sagte.
„Wider den Türken streiten, heißt wider Gott streiten“, war übrigens eine von Luthers Thesen, die von Papst Leo X. 1520 mit der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine verurteilt wurde. Luther widerrief nicht, sondern verbrannte hochmütig die Bulle in aller Öffentlichkeit. Eine Geste, die in manchen protestantischen und kirchenfernen Kreisen noch heute wie eine Heldentat gefeiert wird – denn gelesen hat die Bulle ja keiner.
Die Muslime waren nun ja nicht gerade Luthers Freunde, doch sein Haß gegen den Papst und die „abscheulichen Papisten“, womit er die Katholiken meinte, war allemal größer als die Ablehnung der „Teufelsdiener“:
„So hat uns Gott zur Strafe für unsere Missetat diese Türken aus Rom gegeben, die im Vergleich zu den (echten) Türken noch grausamer, blutiger und unersättlicher sind, als jene es jemals werden können. Bisher hetzen diese schlechteren Türken uns Unverständige mit ihren Blendwerken gegen die besseren Türken auf.“
Den Papst, der im Gegensatz zum Häretiker in Wittenberg zur Verteidigung Europas und zur Türkenabwehr mahnte, beschimpfte Luther als „Hetzer“ und „Aufrüher“, der nur „ködern“ oder „Geld abpressen“ wollte. In der Tat klingt das heute alles ziemlich bekannt. Nicht die angreifenden Türken, so Luther, sondern der Papst sei „das gefährlichste Instrument des Teufels“. Die Schauergeschichte vom Papst, der ökonomisch das „arme“ Deutschland „ausgepreßt“ habe ist im deutschen Sprachraum noch heute im kollektiven Gedächtnis fest verankert. Dabei genügt ein kurzes Nachdenken bei nüchternem Verstand, um die Unsinnigkeit einer solchen Behauptung zu entlarven. In Zeiten der so gepriesenen Ökumene sollte es eine Selbstverständlichkeit des guten Willens sein, solche Schwarze Legenden zu korrigieren. Doch bemerkenswerterweise scheint es auf protestantischer Seite wenig Neigung dazu zu geben.
„Der Türck ist Luthers Glück“
Sultan Süleyman fühlte sich jedenfalls von Luther geschmeichelt und schmeichelte auch Luther:
„Ich wollte, daß der Luther noch jünger wäre, denn er sollte einen gnädigen Herrn an mir wissen.“
Während Kaiser Karl V. unter Mühen darum rang, die deutschen und europäischen Fürsten in Verteidigungsbereitschaft zu bringen, untergrub Luthers Agitation diese Bemühungen, indem er wirklichkeitsfremd die Parole ausgab:
„Man soll den Türken nicht widerstehen.“
Da besiegten in Mohacs 1526 Süleymans Truppen bereits das ungarische Heer, überrannten Ungarn und Kroatien und überschritten die Reichsgrenze.
Erst als die Türken 1529 vor Wien standen und ihren Krummsäbel bereits an die Kehle der „teutschen“ Christen legten, schwenkte Luther unter dem Eindruck der Volksstimmung um. „Gezwungen“, wie er selber sagte. Nun bestritt er im selben Brustton der Überzeugung – aber gelogen -, jemals gegen die Türkenabwehr gewesen zu sein. In späteren Schriften schrieb er, wie nicht selten, das Gegenteil von dem, was er in seinen frühen Schriften gelehrt hatte. Konstant und unerbittlich blieb nur sein Haß gegen Papst und Kirche.
„Der Türck ist Luthers Glück“, lautete dann auch das Urteil nüchterner Zeitgenossen, da der osmanische Vormarsch und das französische Expansionsstreben den Kaiser, der die Einheit des Reiches bewahren wollte, zu ständiger Nachgiebigkeit gegenüber den protestantischen Fürsten und ihren Partikularinteressen zwang.
Luther und die Juden: „Wer hat sie denn eingeladen?“
Und wie ließe sich erst Luthers Haltung zu den Juden mit der Stellung eines „Botschafters der Willkommenskultur“ vereinbaren?
In seiner Schrift über die Juden stellte der „Reformator“ die Frage, wer sie den überhaupt eingeladen habe, sich in Europa niederzulassen, er, Luther, jedenfalls nicht.
Denn nun, da sie da sind, halten sie „uns in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“
Er rief daher dazu auf, die Synagogen und Schulen der Rabbiner niederzubrennen, die Häuser der Juden zu zerstören und ihren Besitz zu beschlagnahmen. Wie Zigeuner solle man sie in Ställen wohnen lassen. Obwohl er, Luther, selbst gerne Juden erwürgen würde, solle sich kein Christ an ihnen vergreifen, denn es sei die Obrigkeit, die sich darum zu kümmern habe. Diese Aufforderung nahm der Nationalsozialismus dann ja geradezu wortwörtlich.
Es muß wohl einen Grund haben, wenn bei der Reichstagswahl vom Juli 1932, bei der die Nationalsozialisten ihren größten Wahlerfolg erzielten, 83 Prozent der NSDAP-Wähler Protestanten, aber nur 17 Prozent Katholiken waren.
Wie man es also dreht und wendet, als Refugee-Welcome-Testimonial eignet sich Luther nicht – bestenfalls in postfaktischen Phantasien. Die scheinen linke Utopisten und kirchliche Modernisten allerdings gemeinsam zu hegen.
Text: Andreas Becker
Bild: Wikicommons/MiL/Paoline (Screenshots)
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↑1 | Auflagenstärkste und renommierteste Tageszeitung Italiens, vergleichbar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. |
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