Von Roberto de Mattei*
Frankreich, Mutter des Philosophen Descartes (1596–1650) und der Revolution von 1789, war in seiner Politik wie in seiner Philosophie schon immer „kartesisch“. Die Regime, die auf die Französische Revolution folgten, stellen verschiedene historische Phasen dar, die ebenso vielen politischen Paradigmen entsprechen und zu Modellen für andere Nationen wurden. Der Bonapartismus (1796–1815), Vorläufer des Faschismus, ist der paradigmatische Versuch, das Erbe der Revolution mit dem Wunsch der Rechten nach Autorität und Ordnung zu vereinen; die Epoche der Restauration (1815–1830) ist die kurzlebige Bestätigung der legitimistischen Rechten; die orleanistische Monarchie (1830–1848) ist der Triumph des konservativen Liberalismus. Die Zweite (1848–1849) und die Dritte Republik (1870–1940) knüpfen an den Geist der Revolution an, unterbrochen durch die neue bonapartistische Erfahrung von Napoleon III. zwischen 1852 und 1870. In all diesen Phasen seiner Geschichte zeigte Frankreich stets seinen Hang zur Radikalität und Klarheit der Positionen. Die Februarrevolution von 1848, die Pariser Kommune von 1870 und die Studentenrevolution von 1968 legen davon Zeugnis ab: Es waren kurze Erfahrungen, aber sie hatten einen tiefgreifenden Einfluß.
Die Parlamentswahlen 2024, die ein echtes politisches Erdbeben darstellen, sollten mit größter Aufmerksamkeit betrachtet werden, gerade weil das, was in Frankreich geschieht, in Europa immer einen Referenzwert hat, im Gegensatz zu anderen Ländern wie dem Vereinigten Königreich, wo der Wahlwettbewerb reinen Inselbezug hat und der jüngste Sieg der Labour-Partei Teil eines physiologischen Machtwechsels zwischen den beiden großen Parteien ist, die sich schon immer gegenüberstanden.
Alles begann mit den Europawahlen am 8. Juni, bei denen der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und Jordan Bardella 31 Prozent der Stimmen erhielt und sich als stärkste Partei in Frankreich etablierte. Wenige Stunden nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses beschloß Staatspräsident Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen und vorgezogene Neuwahlen auszurufen.
Diese Initiative erscheint allen Beobachtern riskant, da sie eher von einer impulsiven Reaktion als von einem durchdachten politischen Kalkül diktiert ist. Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs bestätigen diesen Eindruck. Der Rassemblement National, der mit Eric Ciotti, dem Vorsitzenden der rechten Republikaner, verbündet ist, bestätigt sich mit 33,1 Prozent der Stimmen als führende politische Gruppierung, gefolgt von der vereinigten Linken des Nouveau Front Populaire [Neue Volksfront] mit 28,1 Prozent. Der große Verlierer ist Macron, der, wie Alexis Brézet in Le Figaro bemerkt, alles verliert: „Er wollte den Block der Mitte vereinen, die Linke spalten, den RN isolieren; alle seine Berechnungen haben sich als falsch erwiesen“ (1. Juli 2024).
Macrons Mitte scheint zerfleddert und es zeichnet sich die klassische Polarisierung zwischen links und rechts ab. In einem Buch mit dem Titel „L’Extrême Centre ou le poison français. 1789–2019“ („Die extreme Mitte oder das französische Gift. 1789–2019“, Editions Champ Vallon 2019) zeigt Pierre Serna, wie es der „Mitte“ nie gelungen ist, sich in der französischen politischen Landschaft zu verankern. Die „Girondisten“ haben in der französischen Geschichte immer den Weg für die „Jakobiner“ geebnet. Die aktuellen Ereignisse bestätigen dies. Macron, der Theoretiker der „Supermitte“ gegen die gegensätzlichen Extremismen, auch auf die Gefahr hin, Selbstmord zu begehen, bringt die „Strategie des Verzichts“ auf den Weg, die darin besteht, daß in der Dreieckskonkurrenz des zweiten Wahlgangs die Kandidaten der Macronisten sich zurückziehen, wo die Volksfront-Kandidaten vorne liegen, damit diese gewinnen können, und umgekehrt die Kandidaten des Front Populaire, in den Wahlkreisen, wo die Macronisten vorne sind, dies ebenfalls tun. Auf diese Weise ziehen sich 218 Kandidaten, die die erste Runde bestanden hatten, zurück, 130 von der Linken, 82 aus dem Feld des Präsidentenlagers, um den Sieg der Rechten zu verhindern. Die Umkehrung des Ergebnisses ist unvermeidlich. Der so entstandene Block aus Macron und der radikalen Linken stoppt den Siegeszug der Rechten. Der Gewinner ist jedoch nicht Emmanuel Macron, der damit seine Mehrheit im Parlament verloren hat, sondern Jean-Luc Mélenchon, der ehemalige trotzkistische Aktivist von La France Insoumise, der nun bei den Präsidentschaftswahlen 2027 als Gegner von Marine Le Pen antritt. Dies ist das Ergebnis der Politik von „Samson sterbe mit allen Philistern“1.
Wie ist die Lage jetzt? Die neue Nationalversammlung ist unregierbar, mit drei großen Blöcken, dem Front Populaire mit 182 Sitzen (dennoch weit von einer Mehrheit entfernt), Macrons Koalition Ensemble pour la République mit 168 und dem Rassemblement National mit 143. Die Macronisten haben 85 Sitze verloren, die Lepenisten 36 gewonnen. Die Volksfront ist die stärkste Gruppierung in der Nationalversammlung, aber der Rassemblement bleibt die stimmenstärkste Partei in Frankreich, mit zehn Millionen Stimmen gegenüber sieben Millionen für den Front Populaire.
„Die Geburt der neuen Exekutive wird ein noch größeres Rätsel sein als ein Rubik-Würfel“, schreibt der Corriere della Sera vom 8. Juli. Die Ernennung des Premierministers obliegt dem Staatspräsidenten, aber die Nationalversammlung muß dem Premierminister das Vertrauen aussprechen. In der neuen Nationalversammlung gibt es zwischen Macron und Mélenchon keine Gemeinsamkeiten, außer ihrem Haß auf die Rechte. Macron ist ein Linksliberaler, der mit den Kreisen des Superkapitalismus verbunden ist; Mélenchon gehört zur euroskeptischen, anti-atlantischen und anti-zionistischen Linken.
Die Niederlage ist nicht die von Macron allein, sondern auch die des französischen politischen Cartesianismus, der sich schon immer vor Konfusion und Kompromissen gedrückt hat. Frankreich hingegen bietet Europa nun das Paradigma der Unregierbarkeit, was wie ein unheilvolles Omen klingt, nur wenige Monate vor den amerikanischen Wahlen, bei denen sich zwei Kandidaten gegenüberstehen, die aus unterschiedlichen Gründen gewiß keine Meister der politischen Stabilität zu sein scheinen. Das Paradigma des Chaos, das von Frankreich ausgeht, könnte sich auf die Europäische Union ausdehnen, wo die Spaltungen der rechten Parteien einen Faktor der Instabilität darstellen. Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident und turnusgemäßer Präsident der Europäischen Union, ging nach der Gründung der Fraktion Patrioten für Europa, der sich Marine Le Pens Rassemblement, Matteo Salvinis Lega und Herbert Kickls FPÖ anschlossen, nach Kiew und dann nach Moskau und Peking, indem er sich selbst eine Rolle als „Friedensvermittler“ zuschreibt, die ihm niemand zuerkannt hat, während sich eine antiwestliche Koalition ausbreitet, zu der neben Rußland und China auch eine immer wütendere islamische Welt gehört, die in Frankreich gerade in Mélenchon ihren Bezugspunkt hat. In dieser düsteren Situation werden vom 26. Juli bis 11. August die Olympischen Spiele in Paris stattfinden.
Schließlich sei daran erinnert, daß es in der Geschichte nicht nur politische, sondern auch moralische Fehler gibt. Wie könnte man vergessen, daß Emmanuel Macron die politische Figur ist, die am vergangenen 4. März mit der ihm eigenen Arroganz erklärt hat, er sei stolz darauf, daß Frankreich das erste Land der Welt ist, das die Abtreibung in seiner Verfassung verankert hat, und der sich wünscht, daß der Staatsmord in die Grundrechte der Europäischen Union aufgenommen wird? Aber das Recht auf Leben, das Teil des Naturrechts ist, ist kein flüchtiger Grundsatz, der von einem Parlament abgeschafft werden kann. Politiker hingegen sind kurzlebig. Drei Monate nach seinen bombastischen Erklärungen ist Macrons Thron gerade wegen der EU-Wahlen zusammengebrochen. Die Untergrabung des Naturrechts wird das politische und soziale Gleichgewicht stören, denn die Nationen haben nicht in der Ewigkeit, sondern in der Geschichte den Lohn oder die Strafe für ihre Entscheidungen. Es ist jedoch beunruhigend, daß unter den 770 Stimmen für die Aufnahme der Abtreibung in die französische Verfassung auch 46 Stimmen des Rassemblement National waren, darunter die von Marine Le Pen und Jordan Bardella. Der gesunde Hausverstand sagt einem, daß also nichts Gutes für unsere unmittelbare Zukunft verheißen ist.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung/Fußnote: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Die italienische Redewendung bezieht sich auf das Kapitel 16 im Buch der Richter und meint jene, die bereit sind, alles zu tun, sogar sich selbst zu schaden, um anderen Schaden zuzufügen.
Der Block von Mitte bis Linksextrem ist ja nichts Neues, schon unter Le Pen père gab es eine „republikanische Front“ von den Gaullisten bis zu den Kommunisten. Darauf mußte man sich einstellen, der Glaube an eine absolute Mehrrheit von RN war immer utopisch (aber auch bei einem Mehrheitswahlrecht wäre RN weit unter der absoluten Mehrheit geblieben).
Eine andere Sache ist, wie glaubhaft die Warnung Macrons auch vor „Linksextremisten“ war, wenn man gleichzeitig mit diesen ein Wahlbündnis für den 2. Wahlgang eingeht.
Der Rothschild-Bankier Macron und der Trotzkist Mélenchon – ein würdiges Paar! Pest oder Colera?
Ist diese geschilderte Strategie der Linksfront nicht Betrug am Volk? Das mit der Mehrheit der Stimmen eben doch die andere Seite wählte… Ich denke, alles riecht nach Neuwahlen! Und ich hoffe, nicht nach Bürgerkrieg!
Gerade machte ich den aktuellen Tweet des ehemaligen Pariser Erzbischofs auf, der einer der wenigen Bischöfe ist, der sich regelmäßig gegen Euthanasie und gegen den Mord am ungeborenen Kind zu Wort meldet.
Sein Tweet fasst die augenblickliche Gesamtlage, wohl vor allem von Frankreich, ins Auge:
„Wir sehen vor unseren Augen, wie die alte Welt zusammenbricht und mit ihr ihre tödlichen Gesetze. Von den letzten Erschütterungen aufgewühlt, versucht sie in fieberhaften Krämpfen zu überleben, anstatt sich dem zuzuwenden, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist: Christus.“
Mgr Michel Aupetit, Tweet vom 11.Juli 2024
Gut, die Situation aus sicht eines Kommentators gehört zu haben, der die Wahrheit liebt. In Deutschland finden wir Parallelen dazu. Seit der großen Demo gegen den AfD-Parteitag stimmt hier ähnlich etwas nicht. Die Bürger haben ja im Lande das Recht, zum Spiel öffentlich Flagge zu zeigen. Seit kurzem zeigen die Bürger nicht nur Flagge für ihr Herkunftsland. Es wird Flagge für den linken Regenbogen gezeigt. Flagge für Abtreibung, gegen göttliches Recht, gegen die Wahrheit. An immer mehr deutschen Wohnungen finden sich zudem Sprüche gegen die herkunftsländische Partei AfD. Ich habe sogar alle Erdgeschoßfenster einer katholischen Einrichtung mit sowas zugekleistert gesehen. Die Sprüche werden, sobald ein Nebensatz auftaucht, logisch falsch. Wir wissen ja, wer der Logos ist und wir wissen, wer der brüllende Engel unter dem Regenbogen ist. Der echte Sohn des Vaters und der, der sich selbst erhöhen will. Es gibt keine Parteien mehr. Das Unrecht, die Lüge ist in allen Lagern eingezogen.
2 Tessaloniker 2,9: „Der Gesetzwidrige aber wird, wenn er kommt, die Kraft des Satans haben. Er wird mit großer Macht auftreten und trügerische Zeichen und Wunder tun. Er wird alle, die verloren gehen, betrügen und zur Ungerechtigkeit verführen; sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten. Darum lässt Gott sie der Macht des Irrtums verfallen, sodass sie der Lüge glauben; denn alle müssen gerichtet werden, die nicht der Wahrheit geglaubt, sondern die Ungerechtigkeit geliebt haben.“
Paulus zeigt uns hier eine epochale Situation. Gott läßt an dieser Stelle diejenigen, die gegen die Wahrheit sind der Lüge verfallen. Warum tut der Schöpfer das? Weil ihre Schuld für das kommende Gericht vervollständigt werden soll. Die Gnade ist vorbei. Wer sich der Wahrheit verschlossen hat, dem wird jetzt die Wahrheit genommen. Sie ist schon weggenommen. „gerettet werden sollten“ drückt eine abgeschlossene Vergangenheit aus.
Daraus stellt sich für den Christen die Frage, ob Rettung ab jetzt noch möglich ist. Viele stehen im persönlichen Leben vor dieser Frage.
Petrusapokalypse Kapitel 3: „Ich aber fragte ihn und sagte zu ihm: „O Herr, erlaube mir, daß ich in betreff dieser Sünder dein Wort sage: Es wäre ihnen besser, sie wären nicht geschaffen.“ Und der Heiland antwortete mir und sagte zu mir: „O Petrus, warum redest du so, das Nichtgeschaffensein wäre ihnen besser? Du bist es, der wider Gott streitet. Du würdest dich seines Gebildes nicht mehr erbarmen als er; denn er hat sie geschaffen und hat sie aus dem Nichtsein ins Dasein gebracht. Und weil du gesehen hast die Klage, welche die Sünder treffen wird in den letzten Tagen, darum ist dein Herz betrübt.“
[Orbán ging] „nach Kiew und dann nach Moskau und Peking, indem er sich selbst eine Rolle als „Friedensvermittler“ zuschreibt, die ihm niemand zuerkannt hat, während sich eine antiwestliche Koalition ausbreitet“
Man sollte allen „konservativen“ Transatlantikern mal erklären, was der Begriff der „westlichen Werte“ so alles impliziert.