Die Europäische Union und ihre Zukunft

Welcher Frieden wird angestrebt?


Die EU und die Zukunft Europas
Die EU und die Zukunft Europas

Von Rober­to de Mattei*

Zwei ‚lah­me Enten‘, Macron und Scholz, und ein ehe­ma­li­ges sou­ve­rä­ni­sti­sches häßliches Ent­lein, das zum Schwan wur­de, Gior­gia Melo­ni. Das bleibt von Euro­pa nach dem Wahl­be­ben übrig.“ Die­se Wor­te des Kolum­ni­sten Anto­nio Poli­to im Cor­rie­re del­la Sera vom 11. Juni brin­gen das Wesent­li­che des Wahl­er­geb­nis­ses der EU-Wah­len zum Aus­druck. Der deutsch-fran­zö­si­sche Motor der Euro­päi­schen Uni­on ist mit einer Pan­ne lie­gen­ge­blie­ben, und Gior­gia Melo­ni behaup­tet sich als ein­zi­ge euro­päi­sche Mini­ster­prä­si­den­tin, die nach zwei Jah­ren Regie­rungs­zeit ihre Zustim­mung in der Bevöl­ke­rung erhöht und sta­bi­li­siert hat.

Es muß hin­zu­ge­fügt wer­den, daß der gro­ße Ver­lie­rer die­ser Wah­len die histo­ri­sche Lin­ke ist. Die Par­tei, die im euro­päi­schen Maß­stab die mei­sten Stim­men erhal­ten hat, ist die gemä­ßig­te Volks­par­tei, wäh­rend die Sozia­li­sten und die Grü­nen über­all ver­lie­ren. Die deut­sche SPD, die älte­ste sozia­li­sti­sche Par­tei Euro­pas, 1863 gegrün­det, wur­de von der erst 2013 gegrün­de­ten „sou­ve­rä­nen“ Par­tei Alter­na­ti­ve für Deutsch­land über­holt. Von Frank­reich bis Öster­reich, von Deutsch­land bis Spa­ni­en sind „sou­ve­rä­ni­sti­sche“ oder all­ge­mei­ner „Mitte-rechts“-Parteien in ihren ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen in allen Län­dern auf dem Vor­marsch. Der Mythos eines migran­ti­schen, glo­ba­li­sti­schen und inte­gra­ti­ven Euro­pas erhält einen schwe­ren Schlag und bestä­tigt die Exi­stenz eines unauf­halt­sa­men Pro­zes­ses der Ent-Glo­ba­li­sie­rung, der sich nach dem Atten­tat auf die Zwil­lings­tür­me, in der Finanz­kri­se von 2008, im Han­dels­krieg zwi­schen den USA und Chi­na und in der Coro­na­vi­rus-Pan­de­mie nie­der­ge­schla­gen hat. Das Gespenst des „glo­ba­len Put­sches“, das einer gewis­sen neu­en Ver­schwö­rungs­theo­rie lieb und teu­er ist, rückt in die Fer­ne, wäh­rend das eigent­li­che Übel, unter dem Euro­pa lei­det, sich deut­lich abzeich­net: poli­ti­sche Insta­bi­li­tät und intel­lek­tu­el­le und mora­li­sche Verwirrung.

Denn wer wird das EU-Par­la­ment regie­ren, das sich am 16. Juli in Straß­burg mit den neu­en Frak­tio­nen kon­sti­tu­ie­ren wird? Rein rech­ne­risch gibt es immer noch eine Mehr­heit zwi­schen Euro­päi­scher Volks­par­tei, Sozi­al­de­mo­kra­ten und der Frak­ti­on der Renew-Libe­ra­len, aber die Zahl der Abge­ord­ne­ten ist zu gering, um die Sta­bi­li­tät die­ser Kon­stel­la­ti­on zu gewähr­lei­sten.1 Die Sozia­li­sten und die Libe­ra­len, die als Ver­lie­rer aus den Wah­len her­vor­gin­gen, wer­den nicht mehr in der Lage sein, die Ent­schei­dun­gen der EVP zu beein­flus­sen, die nicht umhin kann, sich nach rechts zu wen­den, bei­spiels­wei­se durch die mög­li­che Unter­stüt­zung durch Gior­gia Melo­ni und den tsche­chi­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Petr Fia­la. Die Sou­ve­rä­ni­täts­par­tei­en sind jedoch gespal­ten in die Frak­ti­on der Kon­ser­va­ti­ven und Refor­mi­sten (ECR), der Gior­gia Melo­ni ange­hört, und die Frak­ti­on Iden­ti­tät und Demo­kra­tie (ID), der Mari­ne Le Pen ange­hört. Der unga­ri­sche Mini­ster­prä­si­dent Vik­tor Orbán wie­der­um, bis­her frak­ti­ons­los, muß sich ent­schei­den, ob und wel­cher Frak­ti­on er bei­tre­ten will. Aber selbst zusam­men mit den Stim­men der EVP errei­chen sie nicht die erfor­der­li­che Mehrheit.

In die­ser Hin­sicht ist das neue EU-Par­la­ment zer­brech­li­cher als sein Vor­gän­ger, und es wird nicht ein­fach sein, eine gemein­sa­me Stim­me zu fin­den, ins­be­son­de­re in dem Bereich, der jetzt am wich­tig­sten ist, der Außen­po­li­tik. Die rech­ten Par­tei­en, die aus dem Wett­be­werb als Sie­ger her­vor­gin­gen, tei­len die Idee, die unge­zü­gel­te Ein­wan­de­rung ein­zu­däm­men, die Öko-Ideo­lo­gie zu bekämp­fen und die Zwangs­ge­walt der EU, vor allem im wirt­schaft­li­chen Bereich, zu ver­rin­gern, aber sie sind uneins, wenn es um das grund­le­gen­de Pro­blem geht, vor dem Euro­pa heu­te steht: die Exi­stenz zwei­er Krie­ge, in der Ukrai­ne und im Nahen Osten, die die Frei­heit des Westens bedro­hen. In die­sem Punkt ver­läuft heu­te eine Trenn­li­nie zwi­schen der Lin­ken und der Rech­ten, die durch den rus­si­schen und chi­ne­si­schen „hybri­den Krieg“ noch ver­stärkt wird.

In den 1980er Jah­ren beleb­te die sowje­ti­sche Pro­pa­gan­da den Slo­gan „Lie­ber rot als tot“ wie­der, um die euro­päi­sche Lin­ke und die pazi­fi­sti­schen Bewe­gun­gen dazu zu brin­gen, sich gegen die Auf­stel­lung ame­ri­ka­ni­scher Pers­hing-2-Rake­ten zu weh­ren, die den von den Rus­sen auf­ge­stell­ten SS20-Rake­ten, die West­eu­ro­pa tref­fen soll­ten, ent­ge­gen­wir­ken soll­ten. Die psy­cho­lo­gi­sche Erpres­sung bestand dar­in, in der öffent­li­chen Mei­nung die fal­sche Alter­na­ti­ve zwi­schen einer Pax Sovie­ti­ca und einem Atom­krieg zu verbreiten.

Inzwi­schen ist die Sowjet­uni­on zusam­men­ge­bro­chen, aber Wla­di­mir Putin, ihr Erbe, ver­folgt Zie­le, die damals uner­reich­bar schie­nen: die Auf­lö­sung der NATO, die Iso­lie­rung Euro­pas von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, die Neu­tra­li­sie­rung der Län­der, die zum ehe­ma­li­gen Eiser­nen Vor­hang gehör­ten. Kurz gesagt, die Unter­wer­fung Euro­pas unter das rus­si­sche Hege­mo­ni­al­pro­jekt. Um dies zu errei­chen, ist die Waf­fe, wie gestern, haupt­säch­lich psy­cho­lo­gisch. Auf den neu­en Slo­gan „Frie­den statt Atom­ka­ta­stro­phe“ einig­ten sich Gene­ral­ma­jor Rober­to Van­n­ac­ci, der als Unab­hän­gi­ger die Liste der Lega anführ­te und mit 500.000 Vor­zugs­stim­men in das neue EU-Par­la­ment gewählt wur­de, und der Pro­fes­sor und Publi­zist Ange­lo D’Or­si, ein beken­nen­der Nost­al­gi­ker des Kom­mu­nis­mus, in einer TV-Talk­show am 10. Juni.2 Jeder, der sich den Expan­si­ons­be­stre­bun­gen Putins oder der isla­mi­schen Welt [im Nahen Osten] wider­set­zen will, wird als „Frie­dens­feind“ beschimpft, der Euro­pa in die nuklea­re Apo­ka­lyp­se füh­ren will.

Das Grund­pro­blem bleibt jedoch, zu ver­ste­hen, was der Frie­den ist, den sie anstre­ben wol­len, und was die wirk­li­che und tie­fe Ursa­che der Gefah­ren ist, die uns bedro­hen. Lega-Chef Matteo Sal­vi­ni bezeich­ne­te den fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten Emma­nu­el Macron als „kri­mi­nell“ für sei­ne Äuße­run­gen zugun­sten der Ent­sen­dung von fran­zö­si­schen oder NATO-Sol­da­ten in die Ukrai­ne. Die dem fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten zuge­schrie­be­ne Qua­li­fi­ka­ti­on ist nicht unan­ge­mes­sen, aber aus ganz ande­ren Grün­den als denen, die Sal­vi­ni anführt. Macron kann tech­nisch gese­hen als Ver­bre­cher betrach­tet wer­den, denn er ist der Prä­si­dent eines Lan­des, das das Ver­bre­chen der Abtrei­bung in sei­ne Ver­fas­sung auf­ge­nom­men hat und das sogar als „uni­ver­sel­le Bot­schaft“ darstellt.

Der öffent­li­che und osten­ta­ti­ve Umsturz gegen die natür­li­che und christ­li­che Ord­nung kann nicht ohne Fol­gen blei­ben. Nur die Ach­tung die­ser mora­li­schen Ord­nung sichert den Frie­den, wäh­rend ihre Ver­let­zung unwei­ger­lich zu Krie­gen und sozia­len Ver­wer­fun­gen aller Art führt.

Sich an die­se Wahr­hei­ten zu erin­nern ist vor allem eine Auf­ga­be der Kir­che. Papst Fran­zis­kus wird am G7-Gip­fel teil­neh­men, der vom 13. bis 15. Juni in Apu­li­en, Ita­li­en, statt­fin­det. Es ist das erste Mal, daß ein Papst auf dem Gip­fel­tref­fen der füh­ren­den west­li­chen Indu­strie­na­tio­nen spricht, zu der auch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, Kana­da, Frank­reich, das Ver­ei­nig­te König­reich, Deutsch­land und Japan gehö­ren. Gibt es eine bes­se­re Gele­gen­heit, die Mäch­ti­gen der Erde dar­an zu erin­nern, daß es ein natür­li­ches und gött­li­ches Gesetz gibt, das nicht unge­straft über­tre­ten wer­den darf, und daß nur die Rück­kehr zu die­sem Gesetz der Weg ist, um die ein­zig wah­re Ruhe in der Ord­nung zu fin­den, die der Frie­de Chri­sti ist? Wenn nicht, wird der Weg in die Selbst­zer­stö­rung des Westens, der auch über das Nach­ge­ben gegen­über Putins Erpres­sung führt, unauf­halt­sam sei­nen Lauf nehmen.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Übersetzung/​Fußnote: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons


1 Bei den EU-Wah­len 2019 hat­ten die EVP, S&D und Renew zusam­men zwar 444 von 751 Man­da­ten errun­gen, den­noch fehl­ten Ursu­la von der Ley­en bei der Wahl zur EU-Kom­mis­si­ons­vor­sit­zen­den acht Stim­men, um gewählt zu wer­den. Die­se sicher­te man sich schließ­lich durch die ita­lie­ni­sche Fünf­ster­ne­be­we­gung (M5S), deren Abge­ord­ne­te im EU-Par­la­ment frak­ti­ons­los waren. Im nun gewähl­ten EU-Par­la­ment dürf­ten die genann­ten Frak­tio­nen nur mehr 403 von 720 Sit­zen haben, wes­halb eine Mehr­heit für die Wahl des EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­ten und der EU-Kom­mis­si­on durch die­se Kon­stel­la­ti­on kei­nes­wegs gesi­chert ist.

2 Ange­lo d’Orsi kan­di­dier­te für die links­ra­di­ka­le Liste Pace, Ter­ra e Dignità (Frie­den, Erde und Wür­de), die jedoch mit 2,2 Pro­zent der Stim­men den Ein­zug in das EU-Par­la­ment ver­paß­te. D’Orsi konn­te nur 2330 Vor­zugs­stim­men auf sich vereinen.

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1 Kommentar

  1. Bei aller Wert­schät­zung für Rober­to de Mat­tei, aber bezüg­lich Ruß­land und der Ukrai­ne ver­brei­tet er mehr oder weni­ger deut­lich die Sicht­wei­se des Deep Sta­te der USA. 

    Wenn man an Prä­si­dent Putin stren­ge mora­li­sche Maß­stä­be anlegt, was legi­tim ist, dann muß man das auch bei den Kriegs­trei­bern und ihren Mario­net­ten tun. Dann muß man auch die ver­ant­wor­tungs­lo­se Poli­tik Selenskis delegitimieren. 

    Im KKK 2309 sind die Kri­te­ri­en für einen gerech­ten Krieg gege­ben. Die­se schlie­ßen das sinn­lo­se Ver­hei­zen von Sol­da­ten aus. 

    Ange­sichts der jüng­sten offen­her­zi­gen Aus­sa­gen von US-Sena­tor Gra­ham über das Ver­lan­gen nach den Boden­schät­zen in der UA und ange­sichts der Aggres­si­on gegen den Don­bass nach dem Mai­dan-Putsch muß die­ser Krieg als vor­geb­li­cher „Ver­tei­di­gungs­krieg“ kri­tisch bewer­tet werden.

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