Von Paolo M. Siano*
In den vorangegangenen Artikeln habe ich zunächst den Fall von Giuseppe Cambareri geschrieben, Hochgradfreimaurer des 33. Grades, Rosenkreuzer, Spiritist, Befürworter einer bestimmten Idee des Faschismus, Geheimagent im Dienste der Alliierten, insbesondere der Amerikaner (hier, hier, hier und hier), und dann einige Schriften von Bino Bellomo behandelt, ehemaliger Hauptmann des italienischen Militärgeheimdienstes SIM in der Zeit des Faschismus, Freimaurer oder zumindest freimaurerfreundlich, Kenner der Welt der Spionage und der Freimaurerei, Befürworter der Existenz eines inneren Kerns der „weißen“ Freimaurerei, der sich aus Hochgradfreimaurern des 33. Grades des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus zusammensetzt, Anbeter Luzifers, den er als „Gott des Lichts“ verehrt, während er den Gott der Christen als „Gott der Finsternis“ verachtet (hier und hier).
Ich möchte nun einige Aspekte des berühmt-berüchtigten Falles Licio Gelli (1919–2015) und der Loge Propaganda Due (besser bekannt als P2, s. bspw. hier) untersuchen. Zum Thema habe ich in der Zeitschrift Fides Catholica Nr. 1/2016 und Nr. 2/2016 bereits die Studie „Die Gelli-P2-Macht. Zwischen Geheimdiensten und Esoterik“ veröffentlicht, die ich hier nun in einer überarbeiteten und gekürzten Fassung in Teilen wiedergeben werde.
1. Die Loge P2
Die P2 war eine Freimaurerloge des Großorients von Italien – Palazzo Giustiniani (GOI), die Männern von hohem gesellschaftlichem Rang und Beruf vorbehalten war, die aus Gründen größerer Geheimhaltung nicht in gewöhnlichen Logen aufgenommen werden konnten. Da es eine 1875 vom damaligen Großmeister Adriano Lemmi 33° unter dem Namen Propaganda Massonica gegründete Vorläufer-Loge gab, die als bewußtes Gegenstück zur Kurienkongregation Propaganda Fide (Verbreitung des Glaubens) der katholischen Kirche gedacht war, erhielt die neue Loge die Bezeichnung Propaganda 2.
1976 wurde die Loge P2 unter ihrem Stuhlmeister Licio Gelli offiziell vom Großorient von Italien aufgelöst. Sie blieb in Wirklichkeit jedoch unter dem Schutz der Großmeister des Großorients Lino Salvini 1970–1978) und Ennio Battelli (1978–1982) bis zu ihrer vom Staat verordneten Auflösung durch das Spadolini-Gesetz Nr. 17 vom 18.01.1982 bestehen und aktiv. Die Loge P2 war immer dem Großorient unterstellt. In der Liste der regulären Logen von 1980 ist unter den Logen des Großorients von Italien auch die Loge Propaganda 2 aufgeführt.1
Während der Großmeisterzeit (1999–2013) von Gustavo Raffi wurde die Loge P2 innerhalb des Großorients von Italien im Namen einer Strategie der Transparenz nur mehr als „privater Club mit dem Ziel illegaler Aktivitäten, insbesondere im finanziellen und politischen Bereich, der Rekrutierung herausragender Persönlichkeiten aus Regierung, Parlament, Streitkräften, Geheimdiensten, dem Finanzwesen und der Industrie sowie der Welt der Kommunikation“ definiert.2
Auf jeden Fall war P2 eine reguläre Loge, die von regulären Großmeistern geschützt wurde, insbesondere von Giordano Gamberini 33° (1961–1970) und dem bereits genannten Lino Salvini 33°.3
Wie aus der freimaurerischen und profanen Presse hervorgeht, waren nicht alle Freimaurer (insbesondere die Italiener) von der „Macht“ von Gellis P2 angetan. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß jede Freimaurerei, auch die reguläre, auf eine gewisse „Proselytenmacherei“ abzielt (und es könnte gar nicht anders sein), und zwar in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft (insbesondere in den höheren), und diese Proselytenmacherei impliziert naturgemäß die Präsenz, die Verzweigung und die Konsolidierung der Freimaurerei in der Gesellschaft durch Freimaurer, die nach freimaurerischen Prinzipien handeln. In dieser Hinsicht ist das Buch „Die Macht der Freimaurer“ 4 von Ferruccio Pinotti (2021) sehr aufschlußreich: Nicht nur die „untergegangene“ P2, sondern die Freimaurerei als solche ist „die starke Macht schlechthin“, „eines der stabilsten Machtnetzwerke – vom frühen 18. Jahrhundert bis heute“.
Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten die Führung des Großorients von Italien die Loge P2 und Licio Gelli offen kritisiert hat, muß man anerkennen, daß Gellis P2 der italienischen Freimaurerei auch einen großen Dienst erwiesen hat: Im Juni 1981 stürzte nämlich dank des Skandals, der drei Monate zuvor mit der Entdeckung der P2-Mitgliederlisten (die Namen von Militärs, Industriellen, Unternehmern, Politikern, Journalisten… enthielten) ausgebrochen war, die seit Kriegsende ununterbrochene Reihe der von den Christdemokraten geführten Regierungen (eine Regierung, die von „weltlichen“ Kreisen als zu klerikal angesehen wurde) ab. Es wurde die Tür für andere Regierungskonstellationen geöffnet, die den freimaurerischen und weltlichen Kreisen vielleicht angenehmer waren…
Darüber hinaus wurden Licio Gelli und die P2 in jüngster Zeit von freimaurerisch orientierten Gelehrten (z. B. Aldo Mola, der bis 1992 dem Großorient und danach der Großloge von Italien – Palazzo Vitelleschi nahestand) und von freimaurerischen Kreisen (z. B. der Nationalen Großloge von Rumänien 1880) verteidigt.5
In dieser Studie versuche ich, mich auf einige Aspekte dessen zu konzentrieren, was man als „Macht der P2“ bezeichnen könnte, gemäß der entsprechenden Definition von General Ninetto Lugaresi, der in den frühen 80er Jahren Direktor des italienischen Militärgeheimdienstes SISMI war. Es sei darauf hingewiesen, daß die „Macht“ der P2 praktisch mit der Person, den Absichten und der Arbeit ihres Organisationssekretärs und späteren Meisters Licio Gelli identifiziert wurde, sodaß man meiner Meinung nach auch von der „Macht der Gelli-P2“ sprechen kann, da die P2 ab den 1970er Jahren im wesentlichen Licio Gelli war, wie Giancarlo Elia Valori, ebenfalls ein Freimaurer des Großorients und P2-Mitglied, erklärte: „Gelli war die P2.“ 6
In dieser Studie bin ich daran interessiert, die „Macht“ der Gelli-P2 in der profanen und der initiatischen Welt zu untersuchen, d. h.: Gelli-P2 & Geheimdienste, Gelli-P2 & Esoterik.
2. Geheimdienste & Esoterik?
Welche Verbindungen könnte es zwischen den Geheimdiensten und der Esoterik geben, oder, besser gesagt, welche Elemente könnten uns erlauben, eine gewisse Nähe und/oder Allianz und/oder Gemeinsamkeit der Absichten und Freundschaften zwischen dem Milieu der Geheimdienste („mißbrauchte“ und/oder nicht „mißbrauchte“) und der initiatorischen, esoterischen und freimaurerischen Welt zu sehen?
In der Tat sind Geheimhaltung, Vertraulichkeit, die Suche nach Informationen für „höhere“ Zwecke und Interessen (die der Öffentlichkeit verborgen bleiben), die sorgfältige, diskrete und kontinuierliche Beobachtung von Persönlichkeiten, Institutionen, Vereinigungen, Milieus, Orten und Situationen, diskrete und wirksame Maßnahmen in der „profanen“ Welt… Elemente, die in gewisser Weise die Welt der Geheimdienste und die Welt (oder zumindest bestimmte Teile) der Freimaurerei verbinden.
Im allgemeinen werden die Geheimdienste technisch als „Dienste“, „Agenturen“, „Informationsbüros“ bezeichnet. Die Welt der Geheimdienste erscheint zweifellos als eine Art „initiatische“ Welt, die einer begrenzten Anzahl von „Eingeweihten“ (d. h. ihren jeweiligen Mitgliedern oder Agenten) vorbehalten ist… Andererseits ist die freimaurerische Welt in gewissem Sinn eine Welt der „Dienste“, in dem Sinne, daß die Freimaurer beispielsweise dazu neigen, „Informationen“ für ihre freimaurerische Ausbildung und Mission zu suchen, d. h. sie suchen von einfachen historischen und philosophischen Begriffen bis hin zum Wissen, der Gnosis… Darüber hinaus suchen die Freimaurer auch Informationen über mögliche Kandidaten für die Einweihung…
Auch im Lichte dieser Überlegungen ist das große Interesse von Licio Gelli an der Welt der Geheimdienste nicht überraschend.
Aus historischer Sicht ist anzumerken, daß der Aretiner7 Licio Graf Gelli nicht der erste Freimaurer war (und wohl auch nicht der letzte sein wird), der eine ausgeprägte Vorliebe für den Beruf und/oder das Umfeld der Geheimdienste hatte. Es gibt zumindest einen Präzedenzfall, der für die Geschichte der Freimaurerei von Bedeutung ist. Es handelt sich um den Meister der ersten Freimaurerloge in Florenz und vielleicht sogar in Italien: Baron Philipp von Stosch (1691–1757). Der preußische Antiquar lebte zunächst die meiste Zeit in Rom, dann in Florenz. Bereits in Rom machte er sich einen Namen als „ausgewanderter preußischer Sodomit“. Um seine Leidenschaften zu pflegen, spionierte von Stosch im Auftrag der britischen Regierung unter Premierminister Sir Robert Walpole den jakobitischen Hof8 in Rom aus. Als er 1731 als Spion enttarnt wurde, suchte von Stosch Zuflucht im Großherzogtum Florenz, das damals von Großherzog Gian Gastone dei Medici regiert wurde. Im Jahr 1733 gründete von Stosch in Florenz eine Freimaurerloge, die bis etwa 1737 bestand und dann von der römischen Inquisition, die auch für das Großherzogtum Toskana zuständig war, aufgespürt und verfolgt wurde. Bis zu seinem Tod wurde von Stosch von der britischen Regierung finanziert. Zu den Mitgliedern von Stoschs anglophiler Loge gehörten auch einige Geistliche und der junge Homosexuelle Paolino Dolci, der der Lieblingsbettgenosse des Großherzogs war, der der Freimaurerei freien Raum ließ.9
Ich schließe aus, daß Gelli, der Meister der P2, dessen jugendliche Ausbildung eminent militärisch und faschistisch war, die sexuellen Neigungen hatte, die dem preußischen Antiquar zugeschrieben wurden. Vielmehr haben Gelli und von Stosch gemeinsam, daß beide 1) in der Toskana leben, 2) die Zugehörigkeit zur Freimaurerei; 3) beide Stuhlmeister einer Loge waren; 4) die Leidenschaft für Antiquitäten (Bücher und Edelsteine bei von Stosch; esoterische Lehren bei Gelli) und 5) das große Interesse an Geheimdiensten, das bei Gelli sicherlich noch ausgeprägter, raffinierter und effektiver war.
Sehr aufschlußreich ist das Buch „Espionage, Diplomacy & the Lodge“ (2017), geschrieben von dem Freimaurer Richard Berman (Vereinigte Großloge von England; Mitglied der Quatuor Coronati Lodge No. 2076 in London), der die Verflechtung von Spionage, Diplomatie und Freimaurerei in England in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts rund um die Figur des Charles Delafaye (1677–1762), Unterstaatssekretär, Richter, Hugenotte, Anti-Jakobiter, Meister der Spionage und Mitglied der einflußreichen Horn Tavern Lodge in Westminster (London), analysiert. Es war vor allem Delafaye, der über ein Netz von Spionen die Post von Personen überwachen und entschlüsseln ließ, die einer jakobitischen Verschwörung gegen die englische „Whig“ und die Herrschaft der Hannoveraner10 über das britische Weltreich verdächtigt wurden. Zur damaligen Zeit ist der Herzog von Richmond Oberhaupt der Horn Tavern Lodge. Dieser Loge gehörten Persönlichkeiten aus dem Whig-Establishment an, d. h. eine Ansammlung von Politikern, Aristokraten, Militärs, Wissenschaftlern und prominenten Mitgliedern der Londoner Gesellschaft der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.11
3. Licio Gelli, Freimaurer (3°, 33°…), P2-Mitglied und Esoteriker
In einem Interview mit dem Journalisten Ferruccio Pinotti (2007) gibt Licio Gelli an, daß er 1959 offiziell der Freimaurerei beitrat, und zwar im Großorient von Italien.12
Laut Ferruccio Pinotti und Senator Francesco Cossiga (1928–2010) war Licio Gelli jedoch bereits 1946 Freimaurer, jedenfalls schon unmittelbar nach Kriegsende (vgl. S. 100, 115).
Francesco Cossiga, Christdemokrat und italienischer Staatspräsident von 1985–1992, der immer ein eifriger Verteidiger der Freimaurerei und sogar der P2 war, erklärte gegenüber Pinotti:
„Wahr ist am Gerede über die P2, daß sie eine Schöpfung der Amerikaner war. Wenn man sich ansieht, wer der P2 angehörte, wenn man die Ausrichtung der einzelnen Personen überprüft – abgesehen von Gelli, der ihr Verwalter war –, wird man feststellen, daß die P2 nur aus Ultra-Amerikanern bestand, aus Persönlichkeiten, die der amerikanischen Welt sehr nahe standen“ (S. 95).
Cossiga bekräftigte, daß die P2 eine „amerikafreundliche und transatlantische“ Operation war (S. 95).
Vielleicht hätte Cossiga, der bis zu seinem Tod 2010 Senator auf Lebenszeit war, besser daran getan, zu präzisieren, daß die P2 nicht „eine Schöpfung“ der USA, sondern von Teilen der amerikanischen Freimaurerei war. Als Pinotti sagte: „Die P2 war also ein antikommunistisches Bollwerk“ (S. 95), antwortete Cossiga:
„Natürlich haben die Amerikaner für diese Operation die freimaurerische Form gewählt, weil die Freimaurerei dort sehr tief verwurzelt ist. […]. Fast alle amerikanischen Präsidenten waren Freimaurer und im Wappen der USA finden sich freimaurerische Symbole. Auch die Banknote der USA, der Dollar, ist voll von freimaurerischen Symbolen“ (S. 95f).
Was den Freimaurer und Esoteriker Gelli kurz nach dem Krieg betrifft, ist es interessant, daß er in einer Gedichtesammlung von 1959 („Luci di stelle alpine“, „Edelweiß-Lichter“) in dem Gedicht „Il bianco e il nero“ („Das Weiße und das Schwarze“) schreibt:
„Ohne Satan gäbe es keinen Gott/ […] Aber glaubt nicht/ daß alles in Hell und Dunkel geteilt ist…“
Dieser Gedichtband wurde 1971 neu aufgelegt13, als Gelli bereits ein angesehener Freimaurer war, sowohl innerhalb als auch außerhalb der P2-Loge. Gelli schlägt also vor, daß Satan für Gott notwendig und gar nicht so schlecht ist…
Im Jahr 2008 habe ich auf einer toskanischen Freimaurer-Website einen Artikel des Freimaurers Olinto Dini gefunden, der eine wichtige Information enthält, die in allen anderen Büchern oder Artikeln über Gelli und die P2 fehlt und die nicht einmal in den Akten der parlamentarischen Untersuchungskommission über die P2 enthalten ist. Hier ist sie:
„1970 beauftragte Großmeister Gamberini Licio Gelli, einen Industriellen aus Arezzo, der am 27. Februar 1962 zum Meister und zwei Tage später in den 33. Grad des Schottischen Ritus erhoben wurde, mit der Arezzo-Loge der Piazza del Gesù Kontakt aufzunehmen, um wieder einen breiteren Dialog zwischen den beiden Obödienzen herzustellen; er erhob ihn zum Garanten der Freundschaft des Großorients von Italien für die Teilnahme am Ordensrat.“ 14
In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Licio Gelli in einem Interview, das er 1978 Roberto Gervaso (ebenfalls ein Eingeweihter der P2) gab, auf die Frage: „Wann sind Sie der Freimaurerei beigetreten?“ antwortete:
„Ich glaube, 1962.“ 15
Im Laufe meiner Studie konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf zwei Freimaurermeister der Loge P2, die eng miteinander befreundet waren und sich beide für die esoterische Kultur interessierten: zunächst Licio Gelli (anfangs Sekretär, dann Meister der P2) und Pier Carpi (1940–2000), Theosoph, Schriftsteller und Filmregisseur. Bei beiden geht das esoterische Interesse ihrer Erfahrung in der Loge P2 voraus, begleitet sie und folgt ihr.
Wir werden sehen, daß bei Licio Gelli die Veröffentlichung von Schriften mit esoterischem Inhalt vor allem nach seiner „P2-Erfahrung“ erfolgte, obwohl er sich bereits vor seiner Ernennung zum Stuhlmeister einige für die esoterische Welt typische Ideen zu eigen gemacht und diskret zum Ausdruck gebracht hatte.
Man könnte sagen, daß Gelli in den 1960er bis 1980er Jahren hauptsächlich mit dem Aufbau, der Konsolidierung und der Verbreitung der „P2-Macht“ in verschiedenen Bereichen (politisch, militärisch, sozial und wirtschaftlich in Italien und im Ausland, insbesondere in Lateinamerika) beschäftigt war. Nach der Auflösung der Loge P2 kann man sagen, daß es Gelli leichter gefallen ist, einige „Geistesblitze“ seiner esoterischen Kultur, die er sich wahrscheinlich schon vor einiger Zeit dank jahrzehntelanger freimaurerischer Erfahrung angeeignet hatte, schriftlich niederzulegen. Auf jeden Fall endete mit der Auflösung der P2 und (anscheinend) mit dem Ende der „Macht der P2“ nicht die „Macht“ Gellis, d. h. sein Aufstieg, sein Einfluß, sein Prestige, sein Netz von Freundschaften, initiatischen und profanen.
Tatsächlich war die Villa Wanda (Gellis Villa in der Nähe von Arezzo) das Ziel hochrangiger Persönlichkeiten, auch nach dem Ende der Loge P2.16
Die esoterischen und initiatorischen Theorien, die sich in einigen Schriften von Licio Gelli finden, sind auch in den Schriften anderer Freimaurer, Mitglieder „regulärer“, „irregulärer“ und „falscher“ Freimaurereien, zu finden.
4. Gelli zwischen Faschismus und Geheimdiensten
Ich wiederhole, daß Licio Gelli – ungeachtet verschiedener freimaurerischer Kritiken (aufrichtig oder nur taktisch?) – meiner Meinung nach ein echter Freimaurer war, und zwar in dem Sinne, daß er eine bemerkenswerte Fähigkeit und Sachkenntnis bewies, die freimaurerische Aktion und das Eindringen in die „profane“ Welt (durch ein Netz von „Diensten“, „Informationen“, „Freunden“, „Brüdern“) mit der Vertiefung jener Inhalte der freimaurerischen Kultur zu vereinbaren, die rein esoterisch und initiatisch sind.
Im Moralischen Bericht anläßlich der Ordentlichen Großloge vom 24. und 25. März 1973 prangerte der damalige Großorator des Großorients von Italien, Ermenegildo Benedetti, unverblümt Licio Gelli an, ohne ihn namentlich zu nennen:
„[…] Heute scheint es jedoch, daß die Familie vom Weg abgekommen ist und daß sie die Grundlagen ihrer traditionellen Auffassung vom politischen und sozialen Leben nicht mehr als völlig gültig anerkennt. In der Tat wurde an die Spitze des heikelsten Organs der Gemeinschaft, der Loge Propaganda Nr. 2 (P. 2), ein Bruder gesetzt, der nicht nur eine traurige faschistische Vergangenheit hat, sondern der immer noch die Vorstellungen eines verhängnisvollen Regimes lebt, bis zu dem Punkt, daß er die Brüder, die hohen Hierarchien des staatlichen Lebens angehören, einlädt, sich dafür einzusetzen, daß Italien eine diktatorische Regierungsform erhält, die für ihn die einzige ist, die die ernsten Probleme lösen kann, die das Leben des Vaterlandes heimsuchen. Dieser illustre Bruder wird, obwohl er von einem hohen Würdenträger des Großorients von Italien wegen wiederholter und erwiesener Äußerungen, mit denen die Würde und die Ehre des Großmeisters der Gemeinschaft verunglimpft wurde, dennoch in seinem Amt belassen, obwohl die Verantwortlichen sofort auf seine politischen Absichten und seine Vergangenheit aufmerksam gemacht wurden, nicht so sehr als Faschist, sondern als gewalttätiger Verfolger junger Partisanen und Wehrdienstverweigerer der Republik von Salò.“ 17
Zweifelsohne war Licio Gelli immer stolz auf seine faschistische Vergangenheit. In einem Artikel vom 5. Dezember 2008 in der linken Tageszeitung La Repubblica (S. 16) schreibt der Journalist Concetto Del Vecchio:
„Jenen von PandoraTV sagte Gelli, er trauere Benito Mussolini nach, ‚auch weil es damals keine Schwulen oder Lesben auf den Straßen gab‘: ‚Wenn er heute hier wäre, würde ich an seiner Seite stehen. Während des Faschismus gab es Gelassenheit, Arbeit, Sicherheit. Es gab keine Mafia‘.“ 18
In einem Interview mit OdeonTV aus dem Jahr 2008 erklärte der ehemalige Stuhlmeister der P2 ganz offen:
„Ich wurde im Faschismus geboren. Ich habe mit dem Faschismus studiert. Ich habe für den Faschismus gekämpft. Ich bin ein Faschist und ich werde als Faschist sterben.“ 19
Licio Gelli bestätigt im Grunde diesen Moralischen Bericht seines Freimaurerbruders Ermenegildo Benedetti auch in einem Interview mit Sky TG24 vom 4. Juni 2011, 15:30 Uhr, als er, Gelli, auf die Frage nach der politischen Situation in Italien erklärte, daß es einer Diktatur im Stil der Nationalsozialisten oder des Stalinismus bedürfe, um die Dinge in Ordnung zu bringen…20
Allein die Tatsache, daß der Freimaurermeister Gelli in der Lage war, öffentlich eine Apologetik für den Faschismus zu halten, ohne irgendwelche Konsequenzen zu erleiden, deutet auch darauf hin, daß die „Macht“ von Gelli wahrscheinlich nicht mit der Auflösung der P2 zu Ende ging.
Was die Beziehungen zwischen Gelli und den Geheimdiensten betrifft, so ist das Interview interessant, das Gelli dem Journalisten Marco Dolcetta von der linksliberalen Tageszeitung Il Fatto Quotidiano am 23. Mai 2014 gab. Der damals 96jährige Gelli erzählte:
„Sie sollten wissen, daß ich nach einem Treffen mit Mussolini, der mich treffen wollte, in den Geheimdienst des italienischen Staates eingetreten bin. Ich, der Freiwillige ‚Licio Gommina‘ aus dem spanischen Bürgerkrieg, in dem mein Bruder sein Leben verloren hatte. Der Duce fragte mich, welche Belohnung der italienische Staat meiner Familie geben könnte. Bei dieser Gelegenheit sagte ich ihm, daß es mich interessieren würde, die Welt der Geheimdienste kennenzulernen… Seitdem habe ich sie nie wieder verlassen.“ 21
(Fortsetzung folgt.)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Durch seine Veröffentlichungen bringt er den Nachweis, daß die Freimaurerei von Anfang an bis heute esoterische und gnostische Elemente enthielt, die ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
1 vgl. Abgeordnetenkammer – Senat der Republik, Neunte Legislaturperiode, Parlamentarische Untersuchungskommission zur Freimaurerloge P2, Anhänge zum Bericht, Serie II: Von der Kommission gesammelte Dokumente. Band VII. Geheimdienste – Subversion – Massaker – Organisiertes Verbrechen – Waffen‑, Drogen- und Ölhandel, Band X, Dok. XXIII Nr. 2‑quater/7/X, Rom 1987, S. 775. Ich werde das Werk als CPIP2 zitieren, gefolgt von der Angabe der Reihe, des Bandes, des Titels und der Seite.
2 vgl. Erasmo Notizie, Mitteilungsblatt des Großorients von Italien, N° 1–2, 15.–31. Januar 2006, S. 12.
3 vgl. Tina Anselmi (Vorsitzende und Berichterstatterin), Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission zur Freimaurerloge P2, in CPIP2, Dok. XXIII, Nr. 2, Rom, 12. Juli 1984, S. 12–30.
4 Originaltitel: „Potere massonico“.
5 Politica Magazine, Interview.
6 Auszüge aus der Anhörung von G. E. Valori vor der P2-Kommission vom 7. April 1983, in CPIP2, Dok. XXIII n. 2‑quater/3/VII-bis, Rom 1985, S. 248.
7 Licio Gelli wurde in der Stadt Arezzo (lat. Arretim, etruskisch Aritim) in der Toskana geboren.
8 Jakobiten hießen die Anhänger der im Exil lebenden katholischen Thronprätendenten des Hauses Stuart, die Anspruch auf die Throne Schottlands und Englands erhoben.
9 vgl. Carlo Francovich, Storia della massoneria in Italia. Dalle origini alla Rivoluzione francese (Geschichte der Freimaurerei in Italien. Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution), La Nuova Italia, Florenz 1989, S. 49–85.
10 Das deutsche Haus Hannover (Welfen) erbte 1714 die britische Krone, weil der Act of Settlement von 1701 die rechtmäßigen Thronerben aus dem Haus Stuart, weil Katholiken, von der englischen und schottischen Thronfolge ausschloß. Diese Bestimmung gilt noch heute.
11 vgl. R. Berman, Espionage, Diplomacy & the Lodge, The Old Stables Press, Goring Heath Oxfordshire 2017, S. 1.
12 vgl. Ferruccio Pinotti, Fratelli d’Italia, BUR (Biblioteca Universale Rizzoli), Mailand 2007, S. 115.
13 vgl. Aldo A. Mola, Gelli e la P2. Fra cronaca e storia, Bastogi Editrice Italiana, Foggia 2008, S. 422.
14 Olinto DINI [1. Aufseher der Logos-Loge Nr. 1082, Orient von Florenz], „I Massoni Toscani per la Libertà, la Fraternità e l’Unità“, 2. Teil, Florenz 27. April 2007, Datei: Logos-Dini-Seconda.pdf, S. 24. Mit den beiden Obödienzen sind der Großorient von Italien (Palazzo Giustiniani) und die Großloge von Italien (Piazza del Gesù) gemeint, die sich vom Großorient abgespalten hatte.
15 vgl. Roberto Gervaso, Massoneria, ecco cos’è. A colloquio con Licio Gelli, in Il Settimanale, 15. Oktober 1978, S. 30.
16 vgl. Andrea Scanzi, Michela Scolari: „In einem Film werde ich die Geheimnisse und Wahrheiten von Gelli erzählen“, in: Il fatto quotidiano, Samstag, 6. September 2014, S. 3.
17 Ermenegildo Benedetti (Großorator des Großorients von Italien), Moralischer Bericht, Ordentliche Großloge, 24–25 März 1973, CPIP2, Dok. XXIII Nr. 2‑quater/6/XII, Rom 1987, S. 186.
18 La Repubblica vom 5. Dezember 2008.
19 La Repubblica.Video: Licio Gelli: „Ich bin Faschist und werde als Faschist sterben“
20 Grande Oriente Democratico: Gelli und die P2.
21 Il Fatto Quotidiano: Licio Gelli al Fatto: „Il bambinone Renzi e gli ex lacchè di Berlusconi“.