Von Pater Paolo M. Siano*
In den vorangegangenen Folgen habe ich das Leben von Giuseppe Cambareri und sein Buch „Die Einheit der Welt“ dargestellt, das 1944 veröffentlicht wurde, als der Krieg noch andauerte und Cambareri offen auf die Seite der Alliierten getreten war als Agent des SIM (italienischer Militärgeheimdienst) und des OSS (amerikanischer Geheimdienst, Vorläufer der CIA). Ich habe auch Übereinstimmungen zwischen dem Inhalt dieses Buches und der gnostischen und freimaurerischen Kultur aufgezeigt.
In dieser vierten und letzten Folge untersuche ich ein weiteres Buch von Cambareri, wobei ich die Übereinstimmung einiger seiner Inhalte mit der Esoterik oder Gnosis der Freimaurerei, insbesondere des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus, hervorhebe.
8. „Das Höchste Gesetz“ von Ergos (Mithras, Rom 1951)
Um 1951 veröffentlichte der Verlag Mithras in Rom das Buch „La Suprema Legge“ („Das Höchste Gesetz“), ein esoterischer Text, dessen Autor „Ergos“ ist, d. h. die angebliche Giuseppe Cambareri und/oder Iole Fabbri anleitende Entität… In Wirklichkeit muß der Autor Cambareri und/oder sein Partner-Medium (Iole Fabbri) sein.
Auf S. 4 heißt es: „Von diesem Band wurden zehn Exemplare, die mit Buchstaben des Alphabets von A bis L gekennzeichnet und vergriffen sind, und 40 von 1 bis 40 numerierte Exemplare auf Pergamentpapier gedruckt“.
Auf Seite 11 enthält der Text einige Verse mit dem Titel „Verklärung“, die mit „Ergos“ unterzeichnet und mit „Grauna, Paraty, Brasilien, 29. September 1951“ datiert sind.
Im Lichte dieses Buches, „Das Höchste Gesetz“, läßt sich die esoterische Dimension des vorangegangenen Buches „Die Einheit der Welt“ (Mithras, Rom 1944) besser verstehen.
Schauen wir uns einige der von Ergos dargestellten Theorien an, die wir als gnostisch, esoterisch bezeichnen können.
Vereinigung von Gegensätzen
Es gibt kein Nichts, es gibt kein Alles… Das Nichts verwandelt sich in alles, alles ist „durch das Nichts materialisiert“… Es gibt keine Materie, es gibt nur „den Höchsten Schöpfergeist, den Unendlichen Geist, das Seiende, das Sein, Gott“ (vgl. S. 15). Nur das Unendliche existiert, das Endliche existiert nicht (vgl. S. 16)… Der Vater hat zwei Kräfte hervorgebracht, „Licht und Mickael“… Das Licht hatte die Herrschaft über die Engelssphären, Mickael war das Oberhaupt der Erzengel („Gabriel, Raffael, Anael, Azaziel, Azachiel, Uriel“) und unterstützte das Werk des „Lichts“ (vgl. S. 17).
Das Absolute, die „Summe der göttlichen Geheimnisse“ (S. 31), ist „das Große Gesetz, das Höchste Gesetz, von dem alles ausgeht und in dem alles enthalten ist“ (S. 32), der „göttliche unbewegliche Antrieb hat keinen Gedanken“ (S. 32), er ist „die absolute Kraft“ (S. 32)… Licht und Schatten, Licht und Dunkelheit, bedingen einander, sie sind „die beiden Urkräfte der Schöpfung“ (vgl. S. 35)… Diese beiden gegensätzlichen Kräfte erzeugen „Bewegung“, „Schwingung“ (vgl. S. 35)… Licht und Dunkelheit sind „die Quellen des Sichtbaren und Unsichtbaren“ (S. 35), sie gehen „von der unerschaffenen Brust aus“ (S. 35) und „bilden die absolute Schöpfung“ (vgl. S. 36)… Der Mensch befindet sich in einer „ewigen Wanderschaft durch die Sphären der Wirklichkeit“ (S. 39).
Nochmals zum Thema Gegensätze: Von der „Absoluten Einheit“, dem „Ewig-Männlichen“, geht das „Ewig-Weibliche“ aus… Vom Absoluten gehen zwei Kräfte aus: die positiv-maskuline und die negativ-feminine (vgl. S. 39).
Hier wird die „geoffenbarte Dreifaltigkeit“ von Ergos erklärt: „das Licht-positiv ist der Vater“, „der Schatten-negativ ist die Mutter“, „der Sohn, Geist-Substanz, das heißt Licht und Schatten, oder Leben, das beide ausdrückt“ (vgl. S. 54).
Das „oberste Gesetz“ des Absoluten im Universum „zerstört, um zu schaffen, und schafft, um zu zerstören“ (vgl. S. 193).
8.2 Licht-Luzifer will in die Materie fallen… Endgültige Erlösung
Das Licht aber sehnt sich danach, sich in den Abgrund der Finsternis zu stürzen, es stürzt sich hinein und fühlt sich dort als leuchtender Mittelpunkt, es ist unermeßlich in seinem Stolz… Dann aber spürt es die Sehnsucht nach der Ausgießung des Vaters, aber es kann nicht zu ihr zurückkehren (vgl. S. 18f). Das Licht will wie Gott sein, es rebelliert… Die Materie wird zum Gefängnis und zum Ort der Katharsis für die schuldigen „Funken“ des Lichts (vgl. S. 20f).
In der „Materie“ beginnt die „Katharsis“ jener rebellischen „göttlichen Funken“, die eines Tages strahlend „mit unsterblichem Glück in den Schoß des Schöpfers“ zurückkehren werden (vgl. S. 22). So beginnt „das Gesetz des Karmas der Materie“, Welten, Universen, Planeten, Erden, Menschen werden geboren (vgl. S. 22). Die „Allmächtige Herrlichkeit des Vaters“ leitet die „Evolution“ ein (vgl. S. 23).
„Luzifer, „der Fürst des Lichts“, wird „in das Reich der Finsternis verbannt“ und wird so zum „gefallenen Engel, dem Fürsten der Dämonen“ (vgl. S. 24). Luzifer erhält vom „Höchsten Willen“ die Aufgabe des „Verführers“ und macht so „die Rückkehr derer, die ihm gefolgt waren, zum Großen Schöpferischen Feuer beschwerlicher und schmerzhafter“… Luzifer erfüllt so „seine Aufgabe im Dienste des Höchsten Willens“ (vgl. S. 24). (vgl. S. 24)… Luzifer kann sich nicht in der Materie inkarnieren, um sich wie die anderen Funken zu läutern; er hat immer seinen Kummer vor sich und „sehnt sich nach Gott“ (vgl. S. 24)… Aber erst nach Jahrtausenden und Aberjahrtausenden wird Luzifer sich inkarnieren können, er wird von einer Frau gezeugt werden, und nach viel Leid wird seine Schuld getilgt werden. (vgl. S. 24–25)…
Mickael hingegen bleibt Gott treu (vgl. S. 25).
„Das väterliche Schöpferzentrum“ sendet anstelle des gefallenen Engels, um „die höchste Harmonie des Gesetzes“ wiederherzustellen, einen anderen Funken aus, „den Sohn Gottes“ (vgl. S. 26)…
8.3 Der Mensch als Luzifer
Ergos/Cambareri ist überzeugt, daß der Mensch ein Geist ist, der in die Materie hinabsteigen wollte (und vergleicht ihn in der Tat mit Luzifer, der in die Finsternis stürzen wollte); der Schmerz des irdischen Lebens ist das kathartische Mittel… Neue Reinkarnationen des Geistes werden bis zur völligen Läuterung stattfinden (vgl. S. 263–274, 283–286). Ergos bekräftigt seinen Glauben an die Reinkarnation: „Also Reinkarnation? Ja, Reinkarnation, denn niemand ist nur einmal geboren worden und niemand ist nur einmal gestorben“ (S. 286).
Ich zitiere aus dem letzten gnostischen Gebet, das von Ergos vorgeschlagen wurde: „Aus den tiefen Abgründen, in denen die Dunkelheit herrscht, gehe ich auf die Suche nach mir selbst, denn nur die leuchtenden Sphären der Wahrheit werden mein geheimes Streben befriedigen können, und dieser Traum des Geistes bringt mich zu den unendlichen Feldern, die die höchsten Grenzen des Wissens anzeigen. […] Im zerstörerischen Feuer der Leidenschaften, die aus dem dunklen Verlangen des Fleisches geboren sind, habe ich das Licht, das du mir geschenkt hast, untergehen lassen, o Gott! Ich hatte die strahlende Wahrheit, die reine Essenz, und ich wollte Täuschung und Illusion, und aus dem Reich des Raumes fiel ich in das Gefängnis des universellen Karmas. Du hast den lebendigen Geist in der Ewigkeit der göttlichen Sphären entzündet, und ich stieg hinab in die Larvenformen der Welt, vergängliche Schimären eines erloschenen Zyklus. […] Laß mich in die dunklen Abgründe aufsteigen und die alte verlorene Weisheit wiederentdecken“ (S. 315, kursiv im Original).
8.4 Gnosis, Pantheismus: Gott ist Mensch, Mensch ist Gott
Ergos erklärt, daß Gott „ein Teil von dir ist, er ist in dir Atem und Kraft, Geist und Materie, Gedanke und Bewußtsein, und du kannst dich niemals von ihm trennen, weil er in dein Fleisch, in deinen Geist und dein Herz eingegraben ist, weil er der unausweichliche Teil von dir ist, daß du unausweichlich sein bist. Es wird keinen Tod und keine Schuld geben, die dich von Ihm, dem unermeßlichen All, wegreißen können, denn von diesem ewigen All, so schrecklich oder so strahlend, wie du es durch Liebe oder Schrecken zu verstehen vermagst, wirst du dich wie ein Gefangener fühlen“ (S. 28).
Gott ist „der unveränderliche Geist aus dem veränderlichen Körper, denn er ist die absolute Wirklichkeit. […]. Er existiert nicht, weil er IST“ (S. 47). Der Mensch ist ein „göttliches Wesen“ (S. 47).
Nach Ergos/Cambareri ist das Leben entstanden, als „der hochmütige, vom Stolz getriebene Engel“ neue Formen hervorbringen wollte und so in das Reich der Finsternis eindrang (vgl. S. 64).
„Gott“, „das Absolute“, „das Unendliche“, ist „Gesetz“, ist „eine ausgleichende Kraft“ (vgl. S. 131)…
Jeder kann die Seele der anderen als seine eigene betrachten, denn alle sind in dem Einen, in dem ewigen Wort oder Logos, in jedem ist „der göttliche Funke“ (vgl. S. 156)… Die Natur ist „der menschliche Teil Gottes“ (S. 254)…
8.5 Engel und Illuminaten
Cambareri spricht auch von „den Führern der Menschheit“, die unter verschiedenen Namen in der Hermetik und in der Kabbala genannt werden… Es sind sieben Erzengel (vgl. S. 136f).
Unter den „Lichtgeistern“ (S. 141), die von Mickael regiert werden, ist „AZAZIEL“, der „die erzeugende Kraft des Feuers“ und den Planeten Mars beherrscht, den Rubin als Stein hat und „das Wissen erweckt durch Kundalini“ (vgl. S. 142).
Die sieben „Erzengel“, die von Mickael angeführt werden, leiten die kosmische Evolution und sind die „Inhaber“ der Souveränität des „Wortes“, d. h. des „kosmischen Gedankens“, der auch Ausdruck des „Karmas der göttlichen Hierarchien ist, das in die vom Menschen ausgedrückten Formen herabsteigt“ (vgl. S. 153)… Diese „leuchtenden Engelskräfte“ steigen „in menschlichen Formen herab, mal negativ, mal positiv“ (vgl. S. 156) und haben die Aufgabe, die menschlichen Geschöpfe zu führen (vgl. S. 156)…
Ergos spricht auch von Rama, Moses, Krishna, Hermes, Buddha und Jesus als „erleuchteten“, „höheren Wesen“, die „in physische Körper“ herabgestiegen sind (vgl. S. 302)… Später, im Kapitel über das „Gebet“, erklärt Ergos, daß dieselbe göttliche Wesenheit, derselbe göttliche Geist, im Menschen wohnt, jenseits der Religionen, die sich ihm entgegenstellen: „Flüstere immer, ohne müde zu werden: „Gott ist in mir“, und du wirst dich reiner fühlen, bereit für das Gute, und du wirst das dringende Bedürfnis verspüren, zu beten. Wenn du dieses Bedürfnis spürst, unterdrücke es nicht, sondern sprich in dir den ersten Satz aus, der deinem Herzen entspringt, dem Tempel der Wirkungen. Und bete zu diesem Gott, ob du ihn Christus oder Buddha, Visum oder Rama, Krishna oder Mithras nennst, denn jeder Name, der eine Stufe auf der von der Menschheit so mühsam erklommenen Leiter darstellt, sanktioniert eine Epoche, in der er einen Teil seiner selbst zeigen wollte“ (S. 314).
8.6 Die kathartische und vorübergehende Hölle: Erlösung für alle!
Im Namen der Liebe Gottes verneint Ergos die ewige Hölle, verneint „das Konzept der ewigen Strafe, der ewigen Bestrafung“, der „ewigen Verdammnis“ (vgl. S. 285)…
8.7 Tod-Transformation, Ursprung des Lebens
Nach Ergos/Cambareri ist der Tod die Verwandlung im ewigen Kreislauf des Lebens, der Tod ist im Leben, aus dem Tod kommt das Leben, Leben und Tod sind das kosmische Mysterium, d. h. Gott: „Wenn die Ewigkeit des Lebens das notwendige Kompendium für das vitale Element seiner Funktionalität ist, um der Verklärung des geistigen Funkens zu dienen, so ist die Ewigkeit des Lebens im kosmischen Mysterium von Leben und Tod zusammengefaßt. Und das kosmische Mysterium ist der schnelle, unbewegliche Gott, der die universale Existenz mit sich selbst erfüllt; es ist die Energie, die, Sonne an Sonne, Stern an Stern bindend, zeigt, wie sein höchstes Gesetz das göttliche und unsichtbare Gewebe der Schöpfung bildet“ (S. 287).
Kurz darauf fährt Ergos fort: „Und selbst wenn die statische und stagnierende Erscheinung der Materie im Zerfall dir die Gewissheit des Todes gibt, gärt und regt sich unter ihrer kalten und trägen Maske eine schöpferische Bewegung, die derjenigen, die die Form hervorgebracht hat, entgegengesetzt ist, die aber ihrerseits neue vitale Aspekte, neue Formen hervorbringen wird. Denn der Tod ist nichts anderes als die Verwirklichung jener Kette, die in der kosmischen, planetarischen oder atomaren Kraft zusammengefaßt ist, die mit ihrer immerwährenden Auflösung in der Lage ist, die materiellen Manifestationen, die für die Entwicklung des Geistes notwendig sind, in einer kontinuierlichen Reproduktion umzuwandeln und zu erneuern, die vom Vielfachen zur Einheit, vom Vergänglichen zum Beständigen geht, in einem Zyklus ohne Unterbrechung der Entwicklung zur Erreichung des Absoluten“ (S. 287–288).
Ergos erklärt, daß alles dem Tod unterworfen ist, sogar die Religion (vgl. S. 288)!
Das Mysterium des Lebens ist der TOD: „Das immaterielle Prinzip wird in die vitalen Funktionen verklärt, die Welt der Realität wird in das Subjektwesen verwandelt, das in der Entwicklung des Lebens seinen Zyklus in Form und Ausdruck vollendet. In diesem Prinzip ist das kosmische Mysterium des Lebens der Tod, der das geheime Streben des Geistes ist und in dem die Fähigkeit der universalen Schöpfung ruht, sich dem natürlichen Prinzip der Existenz anzupassen“ (S. 288–289).
9. In der Initiatischen Freimaurerei (AASR)
Lassen Sie uns nun zusammenfassend sehen, wie die gnostische Mentalität des Textes von Ergos/Cambareri perfekt mit der Gnosis übereinstimmt, die in der initiatischen oder esoterischen Freimaurerei gepflegt wird, insbesondere im Alten und Angenommenen Schottischen Ritus (AASR).
9.1. Die spirituellen Grundlagen der Freimaurerei
Im Jahr 1946 wurde ein den Freimaurern vorbehaltener maschinengeschriebener Text veröffentlicht. Es handelt sich um einen Vortrag, der in Anwesenheit mehrerer Freimaurer und des damaligen Souveränen Großkomturs des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus gehalten wurde (weder der Name noch die freimaurerische Obödienz wird genannt). Der Autor ist der Meister der damals neugegründeten Loge ANKH von Rom (Accademia Neo Kremmerziana Hermetica), Augusto Lista, 32° des AASR (vgl. Augusto Lista: Philosophia Hermetica. Die spirituellen Grundlagen der Freimaurerei, Editrice Miriamica, Bari 1992, S. 13). Lista richtet einen Dank an Dunstano Chancellor 33° Souveränen Ehrengroßkomtur der Freimaurerobödienz, der Lista angehört. Lista 32° dankt auch seinem Logen-„Bruder“ Mario Parascandalo 32° (vgl. S. 15).
Die Laudatio zu dieser Schrift stammt von Augusto Castaldo, 33° AASR, seinerzeit Meister der Loge Giovanni Bovio (im Großorient von Italien), in der Lista selbst als Freimaurer eingeweiht worden war.
In der Einleitung (vgl. S. 7–9) lobt Augusto Castaldo 33° das Werk von Lista und bekräftigt das esoterische und hermetische Gesetz der Einheit und Identität der Gegensätze: „männlich oder aktiv und weiblich oder passiv“, „hoch und niedrig“, „Geist und Materie“ (vgl. S. 7f)… Ich zitiere einige Passagen von Castaldo 33° (Großgeschreibung im Original):
„Das, was oben ist, ist wie das, was unten ist; und das, was unten ist, ist wie das, was oben ist, um das Wunder des EINEN DINGES zu machen, sagt der Trismegistus. […] Alles ist dual; alles hat Pole; alles hat sein Paar von Gegensätzen; und die Gegensätze sind in ihrer Natur identisch und nur im Grad verschieden; alle Extreme berühren sich; alle Wahrheiten sind nur Halbwahrheiten“ (S. 7).
„Der Tod ist für die Weisen ein NEUES LEBEN, das eingeleitet wird, jenes NEUE LEBEN, das wir auf jeder Stufe der „Einweihung“ in unsere Hierarchie auch in seiner gegenwärtigen Form verwirklichen, indem wir den Aufstieg anstreben. Der Tod ist in unseren Riten immer präsent, weil aus ihm das LEBEN aufsteigt“ (S. 9).
Der Name von Castaldo 33° erscheint in der Freimaurerzeitschrift des Großorients von Italien „L’Acacia Massonica“, von 1949. „Augusto Castaldo 33°“ verkündet den Tod von Dunstano Cancellieri 33° (Vgl. A. Castaldo 33°: Trauerkolumne. Dunstano Cancellieri ist tot!, in: L’Acacia Massonica, Jahrgang III, Nr. 2–3, Februar–März 1949, Rom, S. 83f).
Werfen wir einen Blick in das Buch von Augusto Lista. Lista 32° widmet sein Buch den „Genies des Lichts“ (Lista, a. a. O., S. 4)… Lista bekräftigt, daß die Freimaurerei den Menschen befreien und „IHN IN GOTT VERWANDELN“ (S. 14), „die DIVINISIERUNG des Tier-Menschen“ (S. 37) will.
Im Kommentar zum Ersten Grad des Freimaurers, dem Lehrling, (S. 25–38) stellt Lista 32° fest, daß mit der freimaurerischen Einweihung im Eingeweihten die Entwicklung der „INTELLIGENZ oder des HERMETISCHEN LICHTS“ (S. 28) begünstigt wird, d. h. jener Kraft des menschlichen Geistes, die es erlaubt, die dem Profanen verborgene Wirklichkeit zu verstehen (vgl. S. 28f). Diese hermetische Intelligenz entspricht Hermes oder Hermes Trismegistus (dem ägyptischen Gott Thoth), dem Götterboten; Hermes (die hermetische Intelligenz) sei, so Lista, auch „der katholische Heilige Geist“ und auch „LUZIFER, der Lichtträger, der Fürst der Engel! Alle diese Namen sind Synonyme für denselben Seinszustand der menschlichen Intelligenz, des menschlichen Geistes, dessen Gesetze den gewöhnlichen Menschen noch verborgen sind“ (S. 29).
Der Verstand des Eingeweihten muß unendlich und ewig werden wie jene höchste Entität, die die Freimaurer den Großen Baumeister des Universums nennen (vgl. S. 29f). Lista schreibt, daß die reine Idee des initiatischen Geistes durch die unbefleckte Empfängnis (Maria) symbolisiert wird (vgl. S. 31). Lista sexualisiert Gott und die Liebe Gottes, wenn er feststellt, daß „der sexuelle Akt göttlich ist“, weil er neues Leben schafft und weil „Liebe, höchstes Gut, Schöpfer, Javé, Gott, großer Baumeister des Universums gleichbedeutend sind mit dem SEIN der Wesen“ (vgl. S. 34).
Im Kommentar zum 2. Grad des Freimaurers, dem Gesellen, (S. 39–44) stellt Lista 32° fest, daß der Freimaurer „die Macht und Allgegenwart eines Dämons oder Numens erlangen kann, der alles weiß, alles kennt, alles voraussieht und eine sehr große Macht der Verwirklichung in der Tat hat“ (S. 42). Etwas später heißt es in Lista 32°, daß wir „den Kristos oder den donnernden Jupiter oder den schlauen Merkur oder den ägyptischen Thot in uns sprechen lassen müssen“ (S. 43).
Lista glaubt an die Reinkarnation (vgl. S. 28, 40–41).
Über den 3. Grad des Freimaurers, den Meister, (S. 45–51) schreibt Lista 32°:
„Die Grundidee des ‚Freimaurer-Mysteriums‘ ist dieselbe alte Grundidee, die in den ägyptischen Mysterien und in den späteren Mysterien verborgen war, die aus einer gemeinsamen Quelle stammten, die zur Palingenese des Menschen führte, die durch den mystischen oder initiatorischen Tod erreicht werden sollte“ (S. 45).
Weiter heißt es über den Freimaurermeister:
„DER EINGEWEIHTE IST ALS MENSCH TOT UND ERHEBT SICH ZUR KRAFT DES UNSTERBLICHEN NUMEN“ (S. 46).
Lista 32° impliziert eindeutig, daß die Schlange der Genesis Adam und Eva Unsterblichkeit und damit Vergöttlichung lehrte:
„Der Taoismus lehrt, wie man durch einen besonderen selbstschöpferischen Prozeß göttlich werden kann, d. h. im menschlichen Organismus eine unsterbliche Seele schaffen kann. Das gleiche sagen die Brahmanen in Indien, die Griechen, die Lateiner, die Inkas und die Azteken in Mexiko. Dasselbe wird in der mosaischen „Genesis“ berichtet, wo die Schlange zu Eva in Anspielung auf den berühmten Apfel sagt: „Ihr werdet nicht sterben, denn die Elohim wissen, daß an dem Tag, an dem ihr davon eßt, eure Augen geöffnet werden, sodaß ihr wie Götter sein werdet und die Erkenntnis von Gut und Böse habt“, und wenn dies geschehen ist, behaupten die Elohim: „Siehe, Adam ist wie einer von uns geworden“. Einfach ausgedrückt, nach dem Zeugnis der Elohim (= Er-die-Götter) selbst, wurde Adam nach der Sünde ein Gott wie sie! Qui vult capere, capiat!“ (ebd., S. 46f).
Die alten taoistischen und ägyptischen Mysterien konvergieren mit der Magie, der Alchemie und dem „30. Grad der Freimaurerei“ über das Konzept, in seinem Körper „seine eigene Unsterblichkeit“ zu errichten und aus seinem materiellen Körper „den leuchtenden, ewigen und unvergänglichen Körper“ zu gebären (vgl. S. 48).
Der „initiatorische Tod“ ist das „ERLEBEN DES TODES DURCH SEIN LEBEN IM VOLLEN BEWUSSTSEIN“ (S. 49).
Zur „Mission der universellen Freimaurerei“ (S. 53–57) schreibt Lista 32°:
„Die Freimaurerei muß ein Schmelztiegel von MÄNNERN sein, von MÄNNERN, die IN IHREN GÖTTLICHEN MÖGLICHKEITEN VEREINIGT sind, von MÄNNERN, denen die übermenschliche Aufgabe anvertraut werden muß, die Menschheit zu lenken, zu belehren und zu regieren, um sie – mit wahrhaft brüderlicher Liebe – zu den erreichbaren Zielen des Wohlstands und des Aufstiegs zu führen“ (S. 56).
Sie müssen „vollkommene Freimaurer“ sein (S. 56).
Zu Beginn seines Textes (über den Lehrlingsgrad) spricht Lista auch von der Liebe in den Worten Dantes: „Amor che move ‚l Sole e l’altre Stelle“ („Die Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne bewegt“, vgl. S. 19).
Schließlich bezieht sich Lista 32° auf die gnostisch-luziferische Version der Hiram-Legende des dritten Grades der Freimaurer, wenn er schreibt, daß in den unterirdischen Mäandern „Tubalcain-Vulcan das Hemd von Hiram schmiedet“ (S. 57). Dann preist Lista 32° Italien als „von den Göttern bevorzugten Uterus für die Humanisierung der Vorläufer- und Luzifer-Gene der menschlichen Rasse“ (S. 57).
9.2. Die Essenz der AASR (Umberto Gorel Porciatti 33°, Neapel 1947)
1947 veröffentlichte der Verlag Ardenza in Neapel das Buch „Il Rito Scozzese Antico e Accettato e la sua essenza“ („Der Alte und Angenommene Schottische Ritus und sein Wesen“), geschrieben von Umberto Gorel Porciatti 33°, Mitglied des Obersten Rates des AASR, der seit 1908 mit der von Saverio Fera 33° (ehemaliges Mitglied des Großorients von Italien) gegründeten Freimaurerei von Piazza del Gesù verbunden ist. Im Folgenden wird das Wesen des AASR von Porciatti 33° kurz erläutert:
- Die Freimaurerei will den Menschen vergöttlichen (vgl. S. 9, 14, 17, 33).
- Der Mensch kann die göttlichen Kräfte in sich entwickeln und die „okkulten Kräfte“ und „das universelle Lebensprinzip“ beherrschen (vgl. S. 34f).
- Der historische Christus, ein Mensch aus Fleisch und Blut, unterscheidet sich von dem göttlichen Christus, der im Herzen eines jeden Menschen geboren werden kann und der verschiedene Namen trägt: Gral, Stein der Weisen, Verlorenes Wort (vgl. S. 37)…
- Beim 3. Grad der Freimaurer: „Initiations-Tod gefolgt von einer Auferstehung“ (S. 15).
- Im 18. Grad: Hermetik und Alchemie (vgl. S. 21).
- Im 30. Grad: Esoterik, Gnosis (vgl. S. 23–24), „Okkultismus“ (S. 24).
- Im 33. Grad: Harmonie/Vereinigung der Gegensätze (die Zahl 33, der zweiköpfige Adler als alchemistische Rebis-Androgyne…) (vgl. S. 10–12).
- Die 33 AASR-Grade als Ganzes können durch die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, den Ouroboros, Symbol der ‚Ewigkeit‘, symbolisiert werden (vgl. S. 38)…
Zum Schluß. Esoterik, Freimaurerei, Spionage, Politik sind im Denken und Leben von Giuseppe Cambareri miteinander eng verwoben. Und er ist kein Einzelfall in unserer Zeit.
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Durch seine Veröffentlichungen bringt er den Nachweis, daß die Freimaurerei von Anfang an bis heute esoterische und gnostische Elemente enthielt, die ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/giulianokremmerz.com (Screenshot)