Von Pater Paolo M. Siano*
Fortsetzung von Teil 1.
4. Vom Fall des Faschismus bis zur Nachkriegszeit (1943–1948)
Nach dem 8. September 1943 (dem Tag, an dem Italien unter Marschall Badoglio den Waffenstillstand mit den Alliierten schloß) wurde Giuseppe Cambareri, ein Zivilist, aber Agent des Militärischen Nachrichtendienstes (SIM), zu einem wichtigen Bezugspunkt für den britischen Geheimdienst SIS und noch mehr für das amerikanische Office of Strategic Services (OSS). Die Briten und die Amerikaner nutzten Cambareri, um ihr eigenes Geheimdienstnetz in Italien aufzubauen (siehe Corvisieri, op. cit., S. 147).
Innerhalb des in Italien operierenden OSS werden zwei Gruppen gebildet:
(a) die Gruppe von Peter Tompkins (1919–2007), einem jungen progressiven Demokraten, der es vorzieht, Elemente aus dem Kreis der Sozialisten und linken Antifaschisten zu rekrutieren.
b) die Gruppe von SIM-Agenten, die faktisch von Cambareri angeführt wird. Letztere kämpft zusammen mit den linken Kräften gegen die Faschisten und die deutschen Besatzungstruppen.
Am Ende gewinnt im OSS die „rechte“ Richtung, die bereit ist, bekannte Faschisten (und in der Nachkriegszeit sogar extremistische Faschisten aus der Italienischen Sozialrepublik von Salò) für „Spezialoperationen“ einzusetzen (vgl. S. 149f)… Cambareri steht im Dienst der „rechten“ Richtung im OSS (vgl. S. 150f).
Cambareri zieht das OSS dem britischen Geheimdienst (der sich auf das Königshaus der Savoyer und General Badoglio konzentriert) vor, da er erkennt, daß die Amerikaner großen Einfluß auf das postfaschistische Italien haben werden. Cambareri ist bereit, mit jenen Teilen des OSS zusammenzuarbeiten, die der italienischen Linken den Weg versperren und Apparat des monarchisch-faschistischen Regimes von 1922 bis 1943 recyclen wollen (vgl. S. 153).
Geschickterweise bricht Cambareri nicht mit den britischen Diensten, sondern betont nach der Befreiung Roms (1944) seine guten Beziehungen zum britischen Geheimdienst (vgl. S. 154).
Viele OSS-Führer, von James Angleton (1917–1987) bis André Bourgoin, sabotieren die als pro-sozialistisch geltende OSS-Gruppe von Peter Tompkins, um Strukturen zu begünstigen, die der Linken, die damals aus Kommunisten, Sozialisten und der linksliberalen Aktionspartei bestanden, ablehnend gegenüberstehen (vgl. S. 160f).
Am 5. Juni 1945 erhält Cambareri von General Roberto Bencivenga (1872–1949) die Silberne Tapferkeitsmedaille als Belohnung für seine antifaschistischen Aktivitäten seit 1942… Nach einigen Monaten bekommt Cambareri auch eine Dankesurkunde von William Donovan (1883–1959), dem OSS-Generaldirektor, für seine Unterstützung der USA bei der Befreiung Italiens vom Nazifaschismus (vgl. S. 201)… Corvisieri schreibt zu Recht, daß Cambareri einen großen Beweis „chamäleonartiger Meisterschaft“ lieferte (S. 204).
Im Sommer/Herbst 1944 gründet Giuseppe Cambareri, in Italien bereits Anführer der Fraternitas Rosicruciana Antiqua (FRA) des deutschen Krumm-Heller, 33. Grad der Freimaurerei, Vorsitzender der Demokratischen Union, Agent des italienischen SIM und des amerikanischen OSS, die Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa, eine antibolschewistische Bewegung, die eine europäische Konföderation anstrebt, in der die Mitgliedsstaaten unter Wahrung ihrer politischen Unabhängigkeit die Zollschranken untereinander abschaffen würden (vgl. S. 204).
Im September 1945 wird dank der Finanzierung und des Engagements von Cambareri die Zeitschrift „Umanesimo“ („Humanismus“) ins Leben gerufen, die sich als eine „Zeitschrift des universellen Denkens“ präsentiert… Zu den Autoren gehören die Freimaurer Dunstano Cancellieri [Großorient von Italien], Umberto Gorel Porciatti [Großloge von Italien] und Giuseppe Cambareri selbst, der mit „Cagliostro“ unterzeichnet. Zu den Themen der Zeitschrift gehören auch die Beziehungen zwischen Giuseppe Mazzini und der Carboneria, die Magie (vgl. S. 211)…
Seit 1945 ist Dunstano Cancellieri in der sich reorganisierenden italienischen Freimaurerei eine prominente Figur, die sogar von den Führern der US-Freimaurerei des Schottischen Ritus geschätzt wird. Diese Tatsache scheint Cambareri nicht zu gefallen, der, zumindest anscheinend, seine Fraternitas Rosicruciana Antiqua als die einzige wahre Rosenkreuzer-Bruderschaft bezeichnet, die in der Lage ist, sogar die Freimaurerei zu beeinflussen (vgl. S. 223).
1946 erkennt Cambareri, daß im Nachkriegsitalien die politische Rechte keinen relevanten Platz haben wird und daß die Zukunft christdemokratisch sein wird (die christdemokratische Partei DC wird sowohl vom Vatikan als auch von den Amerikanern geschätzt). Cambareri hat große Ambitionen, die keineswegs demokratisch sind: Er will der Anführer einer großen spirituellen Bewegung und einer heiligen Stadt sein… Also sucht er nach fernen Ländern, wo er seine Utopie verwirklichen kann. Im Jahr 1946 beginnt er eine Reihe von Reisen nach Afrika, Asien und nach Amerika, Reisen, die er manchmal in wirtschaftlich-diplomatischer Mission oder für die italienischen oder amerikanischen Geheimdienste unternimmt, oder direkt um den Ort zu suchen, an dem er seine heilige Stadt für die Universelle Weiße Bruderschaft des Erzengels Michael gründen kann (vgl. S. 224).
Im April 1946 erhält er vom Außenministerium einen Dienstpaß und kann sich so der Quästur von Rom (Innenministerium) entziehen und in die Schweiz, nach England, Frankreich, Spanien, Portugal, Brasilien, Argentinien, Chile, Mexiko, Santo Domingo, in die USA, nach Ägypten, Australien und Neuseeland reisen, um eine Mission zu erfüllen, die ihm vom Außenministerium anvertraut worden war, konkret, um einige italienische Industrien zu finanzieren und Beziehungen für die Waren- und Rohstofflieferung aufzubauen (vgl. S. 224f).
Im September 1946 reist Cambareri im Auftrag des italienischen Außenministeriums auch nach Kuba und Kanada. Er will bis nach Washington, um mit US-Präsident Harry Truman zu sprechen, aber (laut Aussage von Vincenzo Lanzone, einem Mitglied von Cambareris Michaelischer Bruderschaft) erlaubt ihm das FBI nicht, in die USA einzureisen. Am Ende dieser Reisen beschließt Cambareri 1948 nach Brasilien zurückzukehren, von wo er 14 Jahre zuvor aufgebrochen war (vgl. S. 225).
5. Zurück nach Brasilien
1948 reist Giuseppe Cambareri nach Brasilien und wurde innerhalb von zwei Jahren, dank der Unterstützung von Rosenkreuzerbrüdern und anderen einflußreichen Freunden, zu einem:
- großen und reichen Fazendeiro, der viel Geld investiert;
- Hauptberater (d. h. Magier, „Psychologe“) des Gouverneurs des Staates São Paulo, des wichtigsten Staates der brasilianischen Föderation;
- Zahlstelle eines Netzwerks von „Schmiergeldjägern“;
- Leiter einer kleinen, aber einflußreichen Sekte, der Universellen Weißen Bruderschaft des Erzengels Michael (vgl. S. 227–236).
1949 wird Cambareri aus der brasilianischen Fraternitas Rosicruciana Antiqua (FRA) ausgeschlossen, weil die Rosenkreuzer zwar die Entwicklung des inneren Potentials bejahen, Cambareri und seine Anhänger (die Fraternidade Branca Universal do Arcanjo Mickael) die sich um seine Fazenda scharen, aber das „neue Jerusalem“ oder die „heilige Stadt“ errichten wollen und behaupten, einer spirituellen Entität namens Meister Ergos zu folgen, der durch den Mund von Cambareris Frau Iole Fabbri spricht… Diese beherrscht alle Mitglieder der Michaelischen Sekte, sogar ihren Mann Giuseppe (vgl. S. 235–237). Die Religiosität von Cambareris Fraternidade ist eine Mischung aus christlichen, gnostischen, buddhistischen und ägyptischen Elementen… Viele Kinder der Jünger empfangen die Sakramente von katholischen Priestern. Doch parallel entwickelt Cambareri einen „eigenen“ Ritus etwa für die Eheschließung. Ergos offenbart sich Iole, die in Trance den Betrieb der Fazenda und auch das Privatleben der Familien und der einzelnen Bruderschaftsmitglieder regelt, indem sie zum Beispiel Eheschließungen vorschreibt oder untersagt (vgl. S. 240).
Im Jahr 1950 schreiben die unternehmerischen Aktivitäten Cambareri rote Zahlen. Eine wirtschaftliche Katastrophe bahnt sich an. Ende 1958 sind alle Fazendas von Cambareri mit Hypotheken belastet. Zu spät erkennen seine Schüler, daß Ergos/Iole mit seinen schlechten Ratschlägen die Katastrophe verursacht hat. Auch Cambareri war Ergos/Iole in seinen Investitionen und Plänen blind gefolgt (vgl. S. 240–243). Um 1964 schreiben ehemalige Schüler der Fraternidade (u. a. Vincenzo Lanzone), daß das Ehepaar Cambareri-Fabbri/Ergos keine erleuchteten Persönlichkeiten waren, sondern lediglich Abenteurer, die sich hinter ihrem Rücken und an ihrer Leichtgläubigkeit bereicherten (vgl. S. 244f). Die Aktivitäten des Fazendeiro scheitern nicht nur: 1958 kursieren in der brasilianischen Presse Gerüchte, die „heilige Stadt“ Cambareris sei in Waffengeschäfte verwickelt und stecke mit Kriminellen und peronistischen Agenten unter einer Decke, die in Brasilien und Lateinamerika eine Miliz organisieren wollten, um Pérons Rückkehr an die Macht in Argentinien zu begünstigen. Diese Nachricht stammt von Antonio Osorio Pinheiro, einem Agenten der Spionageabwehr der brasilianischen Marine, der die Sekte von Cambareri infiltriert hat und sogar ihr Sondersekretär wurde. Osorio schickt mehrere Berichte an seine Vorgesetzten, aber die Ermittlungen werden von zwei Admirälen, die mit Cambareri befreundet sind, blockiert (siehe S. 246–249).
6. Wie Lopez-Rega und Licio Gelli?
Der Autor Silverio Corvisieri sieht einige Ähnlichkeiten zwischen Cambareri und dem Argentinier José Lopez Rega (1916–1989), der als „brujo“ (Hexer) bekannt war.
Sowohl Lopez Rega als auch Cambareri verbrachten ihre Kindheit und Jugend in den Armenvierteln von Buenos Aires; sie hatten eine Leidenschaft für das Theater (Cambareri als Impresario, Lopez Rega als Amateur-Opernsänger) und für Esoterik, Astrologie, Freimaurerei und politische Verschwörungen (vgl. S. 250).
Lopez Rega tritt in den Polizeidienst ein. Er besucht die Schule einer spiritistischen Sekte, hat enge Kontakte zu einer Rosenkreuzer-Vereinigung, ist Mitglied einer „Anael-Loge“, die sich dem Okkultismus verschrieben hat, und unterhält Kontakte zur extremen Rechten. Giancarlo Elia Valori (Freimaurer) berichtet, daß Lopez Rega nach der Entmachtung Pérons häufig nach Brasilien reist, um an den Riten einer religiösen Sekte teilzunehmen. Es ist Valori, der Lopez Rega bei Licio Gelli vorstellt. So tritt Lopez Rega der Loge P2 (Propaganda 2) von Gelli bei (vgl. S. 250). In Anbetracht seiner Vergangenheit bei der argentinischen Polizei und seiner späteren Rolle in der Todesschwadron AAA (Argentinische Antikommunistische Allianz) ist es wahrscheinlich, daß Lopez Rega in Brasilien tätig war, um eine peronistische Miliz zu organisieren. In seinem Buch „Esoterische Astrologie“ (1962) schreibt Lopez Rega, er wolle sich auf das neue Zeitalter vorbereiten… Lopez Rega ist wie Cambareri (und Krumm-Heller) auch ein Liebhaber magischer Düfte. Lopez Rega kauft Land in Brasilien, um es später touristisch zu erschließen. Magie, politische und wirtschaftliche Angelegenheiten: Das sind die gemeinsamen Leidenschaften von Cambareri und Lopez Rega. Corvisieri berichtet über die Anwesenheit von Licio Gelli in Brasilien, in São Paulo, im Jahr 1950, als Gelli der Vertreter des Banco Financeiro in Italien ist (vgl. S. 250f). Ich zitiere Corvisieri:
„Zwei Jahrzehnte lang operierten Cambareri, Lopez Rega und Licio Gelli oft in denselben Umgebungen und an denselben Orten, mit sehr ähnlichen Modalitäten und Zielen. All dies reicht nicht aus, um zu dem Schluß zu kommen, daß die drei zur selben Organisation gehörten, aber es bildet einen esoterisch-sektiererisch-politischen Hintergrund, der die Enthüllungen des Diario de Noticia und von Onorio Pinheiro über Cambareris Beteiligung an der Rekrutierung, Bewaffnung und Finanzierung der klandestinen peronistischen Milizen in Brasilien in den 1950er Jahren zumindest teilweise glaubwürdig macht“ (S. 252).
Im Oktober 1972 stirbt Cambareri in einem Krankenhaus in São Paulo an einem Herzinfarkt. Am 17. November 1972 transportiert ein Sonderflug der Alitalia den Caudillo Péron, dessen Frau Isabel, Lopez Rega, Licio Gelli und 150 Freunde nach Argentinien (vgl. S. 252).
(Fortsetzung folgt.)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/MiL/Facebook/HRCB (Screenshots)