(Rom) Die offizielle Internetseite des Heiligen Stuhls war gestern Ziel eines Hackerangriffs. Weder der Vatikan noch Italien, dessen Sicherheitsdienste in solchen Fragen meist konsultiert werden, äußerten sich bisher zu den möglichen Urhebern. Nachdem das vatikanische Presseamt zunächst einen Angriff dementiert hatte, hieß es in einem zweiten Moment, es habe „ungewöhnliche Zugangsversuche“ gegeben. Der Angriff erfolgte nur zwei Tage nach der Kritik von Papst Franziskus an den russischen Truppen in der Ukraine. „Es müssen die Russen gewesen sein“, klingt es aus Medienredaktionen, die für westliche Propaganda anfällig sind. Die Sache ist allerdings komplizierter, wie der Versuch von Andreas Becker zeigt, allein den gestrigen Tag im Ukrainekonflikt einigermaßen zu rekonstruieren.
Ein Tag im Ukrainekrieg
Von Andreas Becker
Die wichtigste Internetseite des Vatikans wurde gestern von Hackern angegriffen. Kurz zuvor war bekanntgeworden, daß der Heilige Stuhl beim jüngsten Gefangenenaustausch zwischen Rußland und der Ukraine als Vermittler aufgetreten war. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß dem Vatikan insgesamt eine vielleicht wichtige Vermittlerrolle zukommen könnte, je länger sich der russisch-ukrainische Krieg hinziehen sollte. Papst Franziskus selbst bekräftigte mehrfach, alle Anstrengungen unternehmen zu wollen, um die beiden Streitparteien an einen Tisch zu bringen.
Msgr. Paul Richard Gallagher, der „Außenminister“ des Vatikans, war es, der in diesen Tagen davon sprach, daß die Vatikandiplomaten in der Frage des Gefangenenaustausches aktiv sind. Der Papst hofft, so Gallagher, daß das bisher Gesäte nun auch für umfassendere Vereinbarungen dienen kann.
Der aus Liverpool stammende Erzbischof betonte, daß Papst Franziskus bereit ist, sofern es von beiden Konfliktparteien gewünscht sei, den Vatikan als neutralen Ort für Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen zur Verfügung zu stellen.
Über verschiedene Kanäle, so Msgr. Gallagher, werde bereits in diese Richtung gearbeitet. Es seien „kleine Schritte“, aber es gebe sie, wobei er konkret den Apostolischen Nuntius in Moskau und den russischen Botschafter beim Heiligen Stuhl nannte.
Papst Franziskus: Moskau reagierte „immer sehr positiv“
In dem am Montag veröffentlichten Interview der US-amerikanischen Jesuitenzeitschrift America mit Papst Franziskus hatte das Kirchenoberhaupt selbst bestätigt, zwischen der Ukraine und Rußland zugunsten des Gefangenenaustauschs zu vermitteln. Einige solcher Operationen konnten bereits erfolgreich durchgeführt werden. Franziskus erzählte, Gefangenenlisten entgegenzunehmen, die „Zivilisten wie Soldaten“ betreffen:
„Ich lasse sie der russischen Regierung zukommen, und die Antworten waren immer sehr positiv.“
Er gab damit zu verstehen, eine minimale Ebene geschaffen zu haben, um einen nächsten Schritt zu wagen und Verhandlungen für die Beendigung des Krieges vorzuschlagen.
Die Worte des Papstes und seines Außenministers bestätigen aus erster Hand, was im Vatikan schon zuvor zu hören war: Rußland habe die Vorschläge des Papstes wohlwollend aufgenommen und damit zu verstehen gegeben, daß die diesbezüglichen Aktivitäten des Heiligen Stuhls geschätzt werden. Die vatikanische Diplomatie sieht darin Hoffnungszeichen, daß eine Rückkehr an den Verhandlungstisch möglich ist, wenn, ja wenn… Nur unter Wahrung der Anonymität wird fortgesetzt: „Wenn da nicht Selenskyj wäre“. Gemeint ist der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj, der, so sagt die Quelle im Vatikan, an einem Dialog kein Interesse zeige und Bedingungen für die Aufnahme von Gesprächen stelle, die unrealistisch seien. Was Vatikandiplomaten nur informell äußern, wird von Dmitry Peskow offen ausgesprochen: Der Kreml sehe eine vatikanische Vermittlung wohlwollend, „die Ukraine aber nicht“, so der Kreml-Sprecher.
Ende März, als noch verhandelt wurde, schien es, als hätten sich Rußland und die Ukraine in Istanbul auf einen ersten Minimalkonsens verständigt. Rußland hatte sich aus den im Norden besetzten Gebieten um Kiew zurückgezogen, nachdem der erhoffte Sturz Selenskyjs mißglückt war. Dennoch erklärte Selenskyj überraschend alles für null und nichtig – laut russischer Darstellung, nach einem Telefongespräch mit US-Präsident Joe Biden. Die Russen sprechen seither noch deutlicher von einem Stellvertreterkrieg der USA auf dem Gebiet der Ukraine, mit den Ukrainern als Bodentruppen Washingtons. Der weitere Verlauf der Ereignisse scheint diese These zu bestätigen, wenn die Details auch zu wenig bekannt sind und die Geschichte am Ende der Sieger schreiben wird. Selbst Franziskus scheint diese Sicht der Ereignisse zu teilen, wobei er auch in diesem Fall zum Mittel der Umschreibung greift, um die Verwicklung der USA zu meinen, ohne Washington zu erwähnen. Mitte September sagte er zu den Jesuiten in Kasachstan:
„Es ist ein Irrtum zu denken, daß das ein russisch-ukrainischer Krieg ist und fertig. Nein, das ist ein Weltkrieg.“
Päpstliche Nachhilfe in Diplomatie für die EU
Tatsache ist, daß Selenskyj neuerdings sein engstes Umfeld nervös macht und sogar den Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko tadelte. Klitschko äußerte sich zunächst nicht, bis ihm offenbar der Geduldsfaden riß und er wissen ließ: „Die Ukrainer brauchen Einigkeit und keine politischen Kämpfe.“ Klitschko hatte zuvor von einer möglichen zeitweisen Evakuierung der Einwohner Kiews gesprochen, da im Winter wegen der jüngsten russischen Zerstörungen der Infrastruktur die Versorgung durch Heizung, Strom und Wasser nicht garantiert werden könne.
Papst Franziskus meint diese Menschen, wenn er vom „gemarterten Volk“ spricht. Aus dem päpstlichen Umfeld ist bekannt, daß er irritiert ist über die ihm gegenüber geäußerte Kritik. Er lasse keinen Zweifel am Anteil, den Putin am Ausbruch dieses Krieges habe. Es sei aber nicht klug, ja ärgerlich, von ihm bei jeder Gelegenheit eine Verurteilung Putins zu erwarten. Franziskus will, so enge Vertraute, weder einen Sieg- noch einen Diktatfrieden, sondern Frieden stiften. Das könne er aber nicht, wenn er eine Konfliktpartei ständig öffentlich verurteilen müsse. Er will, so wird versichert, den dünnen Gesprächsfaden nicht gefährden, der aufrechterhalten werden konnte. Das sei wertvoller, so ein Vatikandiplomat, als die platte Verurteilung Rußlands im vergangenen März als „Schurkenstaat“ und vergangene Woche als „Unterstützer des staatlichen Terrorismus“, wie es die EU getan hat. Das Verhalten des EU-Parlaments mache diplomatische Bemühungen überflüssig und habe die EU als Friedensstifter selbst ausgeschaltet.
Im America-Interview erteilte Franziskus etwas Nachhilfeunterricht in Richtung Brüssel:
„Wenn ich von der Ukraine spreche, spreche ich von einem gemarterten Volk. Wenn es ein gemartertes Volk gibt, gibt es auch jemand, der es martert. Natürlich, wer eingedrungen ist, das ist der russische Staat. Manchmal versuche ich, nicht näher darauf einzugehen, um nicht zu beleidigen, sondern ganz allgemein zu verurteilen, auch wenn bekannt ist, wen ich verurteile. Es ist nicht notwendig, daß ich Vor- und Zunamen nenne.“
Allein schon, daß der Papst sich dazu gezwungen sieht, seine vermittelnde Position öffentlich zu erklären, sprengt den diplomatischen Rahmen. Franziskus ließ sich dennoch auch eine Anklage entlocken, indem er sagte, die Tschetschenen und Burjaten seien „der grausamste Teil der russischen Truppen in der Ukraine“.
Der Papst als „Opfer der Propaganda“?
Die russische Reaktion blieb nicht aus, schließlich stellt die russische Teilrepublik Tschetschenien unter ihrem Präsidenten Ramsan Kadyrow im Verhältnis zur Einwohnerzahl die größten Kontingente der in der Ukraine kämpfenden russischen Truppen. Die Tschetschenen sind Muslime. Für Rußlands Präsidenten Wladimir Putin ist es von Vorteil, an Stelle von russischen Wehrpflichtigen tschetschenische Freiwillige an die Front zu schicken und diesen „Dienst“ der Teilrepublik mit mehr Geld abzugleichen. Aufgrund eines harten und langen Bürgerkriegs ist in Tschetschenien eine Generation von Muslimen herangewachsen, für die Krieg etwas „Normales“ ist. Der Umstand, daß Moskau Muslime in der Ukraine kämpfen läßt, sorgt dort für besondere Empörung. Die Konnotation eines Religionskrieges, obwohl von niemand erklärt, schwingt unterschwellig mit. Hinzu kommt, daß Kadyrow ein Mann mit ausgeprägter Selbstdarstellung ist und erfolgreich mit einem abschreckenden Image spielt, das bis zum Papst vorgedrungen ist (siehe das Video am Ende des Beitrags).
Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, fand erstaunlich harte Worte. Die Aussage von Franziskus beweise eine „antirussische“ Haltung und sei „eine unerhörte Verdrehung der Wahrheit“. Zurückhaltender äußerte sich der burjatische Präsident Alexej Zydenow, der sagte, die Worte des Papstes seien „seltsam“.
Auch Burjatien ist eine russische Teilrepublik, allerdings in Sibiren. Die Burjaten sprechen eine mongolische Sprache und sind Buddhisten. Wenn Kadyrow selbst Wert darauf legt, seine tschetschenischen Kämpfer zur Einschüchterung als Schrecken darzustellen, waren es westliche Medienberichte, die im Frühjahr ein burjatisches „Gespenst“ an die Wand malten, offenbar in der Absicht, den Feind in diesem nicht erklärten Krieg des Westens durch ein unbekanntes Volk im Osten besonders grausam erscheinen zu lassen. In Wirklichkeit spielen die Burjaten in diesem Krieg weder zahlenmäßig eine Rolle noch sind sie sonst irgendwie aufgefallen. Tschetschenen und vor allem Burjaten dienten dem Papst offenbar als „Stütze“, um gemäß seiner selbstgewählten Prämisse Kritik an Moskau zu üben, ohne es direkt zu nennen.
Schließlich meldete sich gestern noch Kadyrow selbst zu Wort:
„Papst Franziskus ist ein Opfer der Propaganda. Jeder tschetschenische Kämpfer weiß, daß man in der Kriegszeit Ehre, Würde und auch den Respekt für den Feind nicht vergessen darf, wie der Islam lehrt.“
Klöster, Priester und Vergeltung
Das Päpstliche Hilfswerk Kirche in Not berichtete unterdessen, daß zwei ukrainische Redemptoristen, P. Iwan Lewyzkyj und P. Bohdan Heleta, die in Berdjansk im Oblast Saporischja wirkten, festgenommen wurden. Ihnen wird von russischer Seite „Vorbereitung eines Terroranschlags“ vorgeworfen. Die beiden Priester waren zur Betreuung der griechisch-katholischen Gläubigen in der Stadt geblieben, auch nachdem sie von russischen Truppen eingenommen worden war. Russische Medien berichten, daß auf dem Gelände der von ihnen betreuten Kirche „Sprengstoff und Waffen“ gefunden worden seien.
Die Vertretung der Redemptoristen in der Ukraine erklärte hingegen, daß diese Waffenfunde „gefälscht und unwahr“ seien. Sie äußerte gleichzeitig die Vermutung, es handle sich um eine „Vergeltungsmaßnahme“, nachdem ukrainische Sicherheitskräfte vor kurzem das berühmte Kiewer Höhlenkloster durchsucht hatten mit der Begründung, es sei ein mögliches „Zentrum der russischen Subversion“.
Unterdessen bombardierte die russische Armee auch gestern zahlreiche Ziele in der Ukraine. 30 Einschläge innerhalb von 24 Stunden wurden allein in dem von Rußland geräumten Teil des Oblast Cherson registriert, wobei die ukrainische Seite einen Toten und zwei Verletzte unter der Zivilbevölkerung meldete. Ein weiterer Zivilist starb in einem anderen Landesteil der Ukraine. Die russische Seite meldete eine durch ukrainischen Beschuß getötete Zivilistin in Swatowo.
Westliche Regierungen schaffen inzwischen weitere rechtliche Voraussetzungen, um das ganze Jahr 2023 hindurch Waffen und militärisches Gerät an die Ukraine abtreten zu können. Gestern faßte Italiens neue Regierung einen entsprechenden Beschluß und erfüllt damit die Hoffnungen bzw. Befürchtungen nicht, aus dem westlichen Bündnis auszuscheren. Ein Zeichen dafür, daß der „Stellvertreterkrieg“ in der Ukraine zwischen Washington und Moskau fortgesetzt werden soll. In der Politik kann sich jedoch viel ändern. Darauf darf gehofft werden.
Offenbar gibt es noch immer manchen auf beiden Seiten zu wenig Tote. Während die getöteten Zivilisten von beiden Seiten gemeldet werden, gibt es zu den gefallenen Soldaten weder von russischer noch ukrainischer Seite konkrete Angaben.
Von der Leyens Video und die Zahl der ukrainischen Gefallenen
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte in einer Videobotschaft den Wunsch, ein Sondertribunal zu errichten, um „russische Kriegsverbrechen“ in der Ukraine zu ahnden. Die Botschaft wurde für die Globalistin, die zusammen mit ihrem Ehemann wegen der Corona-Politik und Milliardengeldflüssen in der Kritik steht, jedoch zu einem Problem. Die von ihr genannte Zahl der ukrainischen Gefallenen scheint eine unangenehme Wahrheit zu sein. Von der Leyen sagte:
„Man schätzt, daß bisher mehr als 20.000 ukrainische Zivilisten und 100.000 Soldaten getötet wurden.“
Keine zwei Stunden später wurde ein neues Video veröffentlicht, in dem die Opferangaben herausgeschnitten waren. Von der Leyens Sprecherin Dana Spinant versuchte die Sache herunterzuspielen. Die Schätzungen „externer Quellen“ hätten sich auf Tote und Verletzte bezogen. In Wirklichkeit soll die Zahl der Gefallenen geheim bleiben, wie eine Erklärung von Bohdan Senyk, Leiter der Presseabteilung der ukrainischen Streitkräfte, bestätigte:
„Die Verluste der ukrainischen Armee sind inoffizielle und vertrauliche Informationen.“
Just am selben Tag sprach auch der ukrainische Präsident Selenskyj von den Gefallenen, allerdings den russischen, und das nur in sehr hypothetischer Form:
„Dieses Jahr wird Rußland 100.000 seiner Soldaten verlieren, und nur Gott weiß, wie viele Söldner.“
Am Ende des Tages scheint nur klar zu sein, daß der Hackerangriff auf die Internetseite des Heiligen Stuhls eine Reaktion auf die Aussagen von Papst Franziskus in der amerikanischen Jesuitenzeitschrift war. Unklar ist, durch wen, also ob deshalb, weil er die russischen Truppen in der Ukraine kritisierte, oder weil er bekanntgab, daß der Vatikan auf diplomatischer Ebene als Vermittler auftritt und Rußland „sehr positiv“ reagiert. Jemand wollte Santa Marta jedenfalls ein Signal senden.
Bild: Vatican.va (Screenshot)