Von Pater Paolo M. Siano*
Silverio Corvisieri, geboren 1938 und noch am Leben, war ein Aktivist der Kommunistischen Partei Italiens, Journalist, von 1960 bis 1967 Redakteur der kommunistischen Parteizeitung L’Unità und von 1976 bis 1987 Abgeordneter zum Italienischen Parlament, zunächst der Democrazia Proletaria (Arbeiterdemokratie, 7. Legislaturperiode), dann der Kommunistischen Partei Italiens (8. und 9. Legislaturperiode). Nach der Wende wurde er Mitglied der altkommunistischen Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung). Er trat auch als Essayist und als Publizist mit Abhandlungen über die Geschichte des kommunistischen Widerstandes während des Faschismus in Erscheinung. Mitte der 70er Jahre gehörte er zusammen mit Marco Pannella zu den Hauptagitatoren für die legalisierte Tötung ungeborener Kinder durch Abtreibung.
Im Jahr 2001 veröffentlichte er im Verlag Odradek (Rom) sein Buch „Il mago dei generali. Poteri occulti nella crisi del fascismo e della monarchia“ („Der Zauberer der Generäle. Okkulte Mächte in der Krise des Faschismus und der Monarchie“), in dessen Mittelpunkt die Figur des Giuseppe Cambareri „Cagliostro“ (Cagliostro ist der Nachname seiner Mutter), alias Gambareri, alias Cambarer, alias Elio steht. Er ist eine vielleicht wenig bekannte Figur im magisch-okkultistischen Milieu Italiens des 20. Jahrhunderts. In gewisser Weise war Cambareri eine Art Vorläufer von Licio Gelli, da es ihm gelang, Esoterik und okkulte Macht zu vereinen und sich mit Leichtigkeit in rosenkreuzerischen, freimaurerischen, faschistischen, britischen und US-amerikanischen, antifaschistischen und antibolschewistischen Kreisen zu bewegen…
Der Text von Corvisieri erweist sich als sehr interessant.
1. Von Italien nach Argentinien und Brasilien (1911–1934)
Giuseppe Cambareri wurde in Kalabrien geboren (vgl. S. 1). Im Alter von zehn Jahren wandert er mit seiner Großmutter nach Argentinien aus. Er kehrt nach dem Ersten Weltkrieg nach Italien zurück, wo er 1919 seinen Militärdienst bei der Luftwaffe ableistet. In den Jahren 1921/1922 gehört Cambareri zu den faschistischen Kadern, die in der Lombardei Aktionen gegen politische Gegner und gewerkschaftliche Arbeiterorganisationen durchführen. Nach einigen Jahren kehrt er nach Argentinien zurück und reist durch Lateinamerika. Er arbeitet als Theaterimpresario, bezahlt aber seine Schauspieler nicht.
1929 wechselt er seinen Beruf und widmet sich dem Filmgeschäft in Bolivien. In Lateinamerika kommt er in Kontakt mit den Kreisen, die mit der Fraternitas Rosicruciana Antiqua (FRA) von Arnold Krumm-Heller (1876–1949) verbunden sind. Cambareri ist vom Okkultismus fasziniert, insbesondere von den Ideen Krumm-Hellers, der Okkultismus und Geschäft miteinander verbindet. Der deutsche Esoteriker verkauft nämlich Parfüms, die „heilen“, und Gegenstände für gnostische Rituale. Cambareri lebt als Magier und Wahrsager, träumt aber immer noch davon, auch Unternehmer zu sein (vgl. S. 5–7).
1930 tritt Cambareri einer Freimaurerloge in Rosario, Santa Fé (Argentinien), bei. Im Jahr 1932 wird er zudem Mitglied des Fascio, der Auslandsortsgruppe der Faschistischen Nationalpartei in derselben Stadt, und um dieselbe Zeit auch der Theosophischen Gesellschaft. Während des Ersten Weltkriegs gab es Kooperationsbeziehungen zwischen der Theosophischen Gesellschaft und dem britischen Geheimdienst (vgl. S. 4f).
In einem Brief aus dem Jahr 1938 an Arturo Bocchini, den damaligen Polizeichef und Leiter der Politischen Polizei Italiens (Operazione Vigilanza Repressione Antifascismo, kurz OVRA), bekennt sich Cambareri zum Faschismus, aber in einem Brief aus dem Jahr 1946 an das US–Konsulat in Italien sagt „Cagliostro“ (Cambareri) stattdessen, daß seine Militanz im Fascio nur dazu diente, den Faschismus von innen heraus zu unterwandern und zu sabotieren (vgl. S. 4).
Im Jahr 1932 geht Cambareri nach Brasilien. Er wird Teil der neuen rosenkreuzerischen Kreise in Sao Paulo und Rio de Janeiro, wo er das Vertrauen sowohl von jungen Leuten gewinnt, die mit der Theosophischen Gesellschaft verknüpft sind, als auch von Freimaurern, die mit wohlhabenden Familien verbunden sind. Der Vorsitzende der Theosophischen Gesellschaft, Manoel Coutinho, war eine bekannte Persönlichkeit in den Finanzkreisen von Sao Paulo. In Brasilien, zwischen der Fraternitas Rosicruciana Antiqua und der Theosophischen Gesellschaft, war Cambareri als charismatischer Führer, Magier, Organisator und Ökonom erfolgreich. Dann beschließt er, nach Italien zu gehen, um dort eine Mission zu erfüllen (vgl. S. 5–8).
2. In Deutschland mit Arnold Krumm-Heller (1934)
1934, etwa ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung, begibt sich der 33jährige Giuseppe Cambareri nach Berlin in die Zentrale der Fraternitas Rosicruciana Antiqua (FRA), um deren Souveränen Großkomtur Arnold Krumm-Heller zu treffen. Der Reichsdeutsche und spätere mexikanische Staatsbürger Krumm-Heller ist Rosenkreuzer, Freimaurer, Bischof einer gnostischen Kirche, Magier und „Heiler“ (vgl. S. 1f).
Im Alter von 15 Jahren arbeitete Arnold Krumm-Heller (1875–1949) bei den Eisenbahnen in Chile. In Paris wurde er 1902 [eigentlich: 1897] von Oberst Henry Olcott in die Theosophische Gesellschaft eingeweiht. Krumm-Heller ist auch Freimaurermeister und 33. Grad des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus und 97. Grad des Alten und Primitiven Orientalischen Ritus von Memphis und Misraim. In Mexiko war er Stabschef von Präsident Francisco Madero (1873–1913). Dessen Nachfolger Venustiano Carranza (1859–1920) ernennt Krumm-Heller zum Direktor der Militärschulen. Von 1914 bis 1918 war Krumm-Heller Mitglied des mexikanischen diplomatischen Corps und außerdem Militärattaché an der mexikanischen Botschaft in der Weimarer Republik (Deutsches Reich) und der Schweiz. Nach dem Tod Carranzas ließ sich Krumm-Heller in der Weimarer Republik nieder und blieb in Kontakt mit seinen Rosenkreuzerbrüdern in Lateinamerika. Krumm-Heller, fasziniert von den präkolumbianischen Kulturen, glaubt, daß diese mit besonderen psychischen und intellektuellen Kräften ausgestattet sind… 1929 erhält er in Peru eine Inka-Einweihung und nennt sich seitdem „Huiracocha“. Er lebte unbelästigt unter Hitlers Regime, ja versuchte, wie andere okkulte Führer, sich in das NS-Milieu einzugliedern, um Beschützer und Geldgeber zu finden (vgl. S. 10f).
Arnold Krumm-Heller meldete seinen Sohn Parsifal an einer nationalsozialistischen Eliteschule, der NaPoLA, an, die nach Heinrich Himmlers Vorstellungen die zukünftigen SS-Führungskader ausbilden sollte. In einem Brief, der am 12. Oktober 1936 auf dem Ozeandampfer „General Artigas“ auf dem Weg nach Brasilien geschrieben wurde, schreibt Krumm-Heller an seine Rosenkreuzer in Galicien (Spanien), daß seine Sympathien und die des nationalsozialistischen Deutschlands dem Nationalismus und damit General Francisco Franco gelten… Der deutsch-mexikanische Esoteriker schreibt auch, daß das „Zeitalter des Wassermanns“ gerade wegen des Nationalismus herannaht… Laut Cambareri ist Krumm-Heller bei den NS-Hierarchien gut angesehen… Tatsächlich hält er sich während des gesamten Zweiten Weltkriegs ruhig in einer Klinik in Marburg auf und korrespondiert auch mit seinen in verschiedenen Ländern verstreuten Mitarbeitern. Krumm-Heller korrespondiert sogar mit einer kalifornischen Loge des Ordo Templi Orientis (OTO) von Aleister Crowley und tritt auch als Anhänger der mexikanischen faschistischen Bewegung in Erscheinung, wobei er sich entschieden gegen den Kommunismus und den Materialismus positioniert (vgl. Corvisieri, a. a. O., S. 12–15).
1934, in Berlin, hat Cambareri (wie er in der Zeitung „Rosa Cruz“ schreibt) „mystische“ Erfahrungen. Er hat die „Vision“ des „Großen Lichts“ und der „Meister“… Cambareri, der Berlin 1934 als „Stadt des Lichts“ bezeichnet, wird von Krumm-Heller nach Italien geschickt, um dort die Fraternitas Rosicruciana Antiqua zu gründen (vgl. S. 15f).
3. In Italien zwischen Faschismus und Antifaschismus (1934–1943)
Nach einigen Wochen in Berlin geht Giuseppe Cambareri nach Rom, wo er 14 Jahre lang bleibt. Es gelingt ihm, in den Dienst von General Pietro Badoglio (1871–1956) zu treten… Später diente er den Alliierten. Nach dem Krieg, im Jahr 1946, behauptet Cambareri, daß er bereits in den 1930er Jahren als Saboteur des Faschismus tätig war… Aber es ist schwierig, den Aussagen Cambareris Vertrauen zu schenken. Während des Faschismus offenbart Cambareri einigen OVRA-Agenten seine Ambitionen: Er will Mussolinis geheimer Berater werden. Cambareris Anhänger behaupten, er habe seit den 1930er Jahren für die angelsächsischen Geheimdienste gearbeitet (siehe S. 2f). Graf Bino Bellomo, Hauptmann des SIM (Militärischer Nachrichtendienst) sowie Cambareris Anhänger und Mitarbeiter, glaubt, daß er ein Agent im Dienste der mächtigen Elite der britischen Royal-Arch-Freimaurerei war (vgl. Corvisieri, op. cit., S. 3)
Am 10. Oktober 1973 schreibt Iole Fabbri, die Witwe Cambareris, an den Journalisten Marcello Coppetti, daß die Reise ihres Mannes nach Italien im Jahr 1934 folgende Ziele hatte: 1) den Krieg zu vermeiden; 2) das faschistische Regime zu stürzen; 3) die „Universelle Weiße Bruderschaft des Erzengels Michael“ zu gründen; 4) Bücher zu veröffentlichen, die von einem spirituellen Wesen, dem „Meister Ergos“, diktiert wurden, der sich einem Medium (d. h. Iole Fabbri selbst) offenbarte; 5) die neue Lehre zu verbreiten; 6) einen spiritistischen Tempel zu errichten; 7) den Bau einer heiligen Stadt vorzubereiten (vgl. S. 4).
In Wirklichkeit scheint es, als wollte Cambareri den Faschismus nicht stürzen, sondern ihn für das „Große Werk“ nutzen, d. h. die Schaffung einer Sektion der Fraternitas Rosicruciana Antiqua in Italien (vgl. S. 28).
Auf jeden Fall wurde Cambareri bereits bei seiner Ankunft in Italien von der OVRA überwacht, die ihn stark verdächtigte, ein Agent der internationalen Freimaurerei zu sein (vgl. S. 30).
Im Laufe des Jahres 1935 gelang es Cambareri problemlos, Kontakte zu verschiedenen Ministerien der italienischen Regierung und sogar zum Direktorium der Faschistischen Nationalpartei zu knüpfen. Der Polizeipräsident Arturo Bocchini läßt Cambareri von der Quästur (Polizeipräsidium) in Rom und der OVRA überwachen (vgl. S. 28–31).
1935, zur Zeit des Abessinien-Krieges, weiß die OVRA, daß der Rosenkreuzer Cambareri hofft, Mussolini werde die Fraternitas Rosicruciana Antiqua von Krumm-Heller nützen, um über die Theosophische Gesellschaft mit der internationalen Freimaurerei in Kontakt zu treten und so den Krieg zwischen Italien und England zu verhindern… Tatsächlich hatte die Theosophische Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges antideutsche Propaganda im Dienste Großbritanniens betrieben und die britische Herrschaft in Indien begünstigt. Cambareri war überzeugt, daß Italien den Krieg gegen England nicht gewinnen konnte (vgl. S. 31–33). Damit hatte er recht.
Im November 1936 hält sich Cambareri in London auf und erhält ein Buch des Okkultisten Aleister Crowley, „Die Tagundnachtgleiche der Götter“, vom Autor selbst geschenkt samt Widmung und Autogramm vom 15. November 1936 (vgl. S. 58).
1937 trifft Benito Mussolini im Palazzo Venezia in Rom Harvey Spencer Lewis (1883–1939), den „Imperator“ des Antiquus Mysticus Ordo Rosae Crucis (AMORC, Alter mystischer Orden vom Rosenkreuz), einer amerikanischen Rosenkreuzergruppe, die sich gegen Krumm-Hellers deutsche Fraternitas Rosicruciana Antiqua stellt. Spencer Lewis, ein Freimaurer, wird von der politischen Rechten in den USA unterstützt, die Mussolini wohlwollend gegenübersteht. Der AMORC ist, auch wirtschaftlich, mächtiger als die Fraternitas Rosicruciana Antiqua. Bei diesem Treffen lobt Mussolini die US-Präsidenten Franklin und Jefferson, die von diesen Rosenkreuzern sogar als ihre Mitglieder betrachtet werden (vgl. S. 33–36).
Der italienische Vertreter des AMORC ist zu dieser Zeit Dunstano Cancellieri (vgl. S. 38f). Anfang des 20. Jahrhunderts war Dunstano Cancellieri (1870–1949) Anarchist, Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, der subversiven Geheimgesellschaft Carboneria (die damals noch existierte) sowie Freimaurer des Großorients von Italien und auch des internationalen gemischten Freimaurerordens Le Droit Humain und 18. Grad des Alten und Angenommenen Schottischen Ritus der Freimaurerei (RSAA) und auch Martinist… Im Untergrund der faschistischen Zeit ist Cancellieri in einer anderen Freimaurergruppe tätig, die sich Vereinigte Freimaurerei nennt und 1945 in den Großorient von Italien überging. Cancellieri erreicht den 33. Grad des RSAA.
Corvisieri schreibt, daß Cancellieri nach dem Zweiten Weltkrieg von John Cowles 33° als einziger vertrauenswürdiger Freimaurer gepriesen wird (vgl. Corvisieri, op. cit., S. 39). Cowles 33° war der damalige Souveräne Großkomtur des Obersten Mutterrates des Angenommenen Schottischen Ritus der Freimaurerei (RSAA) auf der Welt (mit Sitz in Washington D.C., USA).
Cancellieri, ein Anarchist, Antimonarchist und Republikaner, arbeitete einige Jahre lang als Übersetzer im Justizministerium in Rom. Dann war er in der römischen Stadtrat Ratsmitglied der Mehrheit, die den Bürgermeister Ernesto Nathan, Großmeister der italienischen Freimaurerei, unterstützte. Während des Faschismus wurde Cancellieri deswegen aus dem Staatsdienst entlassen. Cancellieri unterliegt jedoch keinen Zwangsmaßnahmen, sondern kann sich gefahrlos in Italien aufhalten, bewegen und die Korrespondenz mit dem amerikanischen AMORC aufrechterhalten, wenn auch unter der geheimen Überwachung der OVRA (vgl. S. 38f).
Seit der erzwungenen Selbstauflösung aller Logen, die Mussolini der Freimaurerei im November 1925 auferlegt, duldet das faschistische Regime rosenkreuzerische, spiritistische, theosophische, neo-pythagoreische und martinistische Kreise, da sie nicht allgemein verbreitet waren, sondern sich auf intellektuelle, wohlhabende und aristokratische Eliten des faschistischen Italiens beschränken. Msgr. Umberto Benigni (1862–1934), Gründer des Sodalitium Pianum und Herausgeber der antimodernistischen Corrispondance de Rome) und seine Nichte Bianca d’Ambrosio (Agentin „Nr. 42“ der OVRA, Sekretärin von Msgr. Benigni und Mitarbeiterin von Radio Vatikan) wünschen sich die Verfolgung solcher esoterischen Gruppen, da sie auf jeden Fall mit der freimaurerischen Welt in Verbindung stehen würden… Aber die OVRA zeigt kein Interesse, gegen diese Gruppen vorzugehen (vgl. Corvisieri, op. cit, S. 44–46)… In der Tat üben in den aristokratischen und elitären Kreisen des faschistischen Italiens (sogar unter den Generälen der Armee) Esoterik, Okkultismus, Spiritismus, Astrologie, Yoga, Alchemie eine starke Anziehungskraft aus (vgl. S. 47). Junge Leute aus den großen Familien hängen dieser esoterischen Kultur an, und Cambareri unternimmt Schritte, um sie in seine Projekte einzubinden und sie als Vermittler zu ihren Verwandten innerhalb des faschistischen Establishments einzusetzen.
So lockt Cambareri beispielsweise den jungen, reichen und sportlichen Paolo Badoglio (1912–1941), der von Okkultismus und Spiritismus begeistert ist, in sein Netz. Er ist der Sohn des Generals und Freimaurers Pietro Badoglio (vgl. S. 47–50). Paolo Badoglio di Addis Abeba, Marchese del Sabotino (sein 1929 geadelter Vater war 1936 mit dem neugeschaffenen Titel eines Herzogs von Addis Abeba rangerhöht worden) heiratet Annina Silj, Tochter des Marchese di S. Andrea d’Ussita und Senators des Königreichs Italien, Nichte von Kardinal Augusto Silj und Cousine von Kardinal Pietro Gasparri.
Über Paolo Badoglio findet Cambareri auch Verbindungen zum militärischer Nachrichtendienst SIM (vgl. Corvisieri, a.a.O., S. 54). In diesen reichen und einflußreichen faschistischen und esoterischen Kreisen hält Cambareri Séancen ab. Bice Pupeschi, Schauspielerin, OVRA-Agentin und von den US-Geheimdiensten als Geliebte Bocchinis geführt, erzählt Cambareri von dem Medium Iole Fabbri, die in Trance fällt und sagt, sie sei Ergos, ein Geistwesen… Iole und Cambareri lernen sich 1938 während einer Séance kennen und bilden von da an, zusammen mit Ergos, ein unzertrennliches Paar (vgl. S. 54–56).
Cambareri und Iole übernehmen die Universelle Weiße Bruderschaft des Erzengels Michael (FBUAM), kaufen ein Stück Land, südöstlich von Rom, in den Castelli Romani, um ihren Tempel zu errichten, und beginnen Bücher zu veröffentlichen, in denen sie die „Lehre“ des Ergos verbreiten: „Astralweltliche Weisheit“, „Meditationen der Karwoche“, „Ewige Weisheit“, „Das Höchste Gesetz“… Cambareri und Iole werden die ganze Zeit von der OVRA überwacht (vgl. S. 56f). Ihre Lehre über den heiligen Erzengel Michael ist gnostisch, esoterisch, rosenkreuzerisch (vgl. S. 57f). Cambareri und sein Medium machen ihre Villa in der Nähe von Rocca di Papa, die sie Villa San Michele nennen, zum Zentrum ihrer Bruderschaft.
In den Kreisen, die im faschistischen Rom zählen, erwirbt Cambareri zusammen mit seinem Medium Iole Fabbri Ruhm als bedeutender Magier. Pupeschi beobachtet sie und informiert darüber die OVRA. Cambareri, der sich für die Inkarnation des Magiers und Freimaurers Cagliostro hält, und Iole erzählen, sie hätten 1938 Visionen des Erzengels Michael und Jesu gehabt… Cambareri zufolge ist Mussolini ein Werkzeug des heiligen Michael, um den Frieden zu verteidigen… Cambareris Anhänger glauben das (vgl. Corvisieri, a.a.O., S. 59–61).
Bei den Séancen von Cambareri-Fabbri ist auch Oberst Raffaele Perfetti (S. 77) anwesend, ebenfalls ein Mitglied von Cambareris Michaels-Bruderschaft. Perfetti rekrutiert viele Offiziere des SIM, Sektion Spionageabwehr, als Cambarreris Schüler, darunter auch Bino Bellomo (vgl. S. 71–74). Auch Oberst Perfetti wird von der OVRA überwacht, insbesondere von der Agentin Bice Pupeschi, die bereits Cambareri als Gefahr für die faschistische Regierung benannt hatte. Doch Cambareri und Perfetti bleiben unangetastet. Zu den Spionen in Pupeschis Diensten gehören auch mehrere ehemalige Freimaurer (vgl. S. 73–76).
Perfetti, der sich für Esoterik, Theosophie und Rosenkreuzer begeistert und Geheimagent des militärischen Nachrichtendienstes und in der Kriegsindustrie und im Waffenhandel aktiv ist, war, laut seinem Untergebenen Bino Bellomo, ein hochrangiges Mitglied der internationalen (ausländischen) Freimaurerei. (vgl. S. 78).
Die Angst an der Staatsspitze vor freimaurerischen Verschwörungen oder einer Verflechtung von Freimaurern und Geheimdienst war nicht in allen Fällen übertrieben. So fand einer der italienischen Geheimdienste heraus, daß am 24. April 1942 in Lausanne eine Konferenz über die staatliche Altersvorsorge stattfand, an der drei Freimaurer, E. Jomini, H. A. Rochat und Charles Buchner, bzw. Freundschaftsgaranten der britischen, amerikanischen (Kentucky, USA) und brasilianischen Freimaurerei teilnahmen (vgl. S. 78f).
Es ist gesichert, daß in der italienischen Abteilung des amerikanischen Geheimdienstes OSS (Office of Strategic Services), dem Vorläufer der CIA, Freimaurer wie Earl Brennan 33° (Mitglied der Florentiner Loge „Il Risveglio“) und Riccardo Mazzerini tätig waren (vgl. S. 78).
In der von Cambareri im faschistischen Rom gegründeten Bewegung Unione Democratica (Demokratische Union) gab es Agenten des SIM und auch der OVRA, darunter Marco Fossa, der ein enger Mitarbeiter von Cambareri (und seines Michaelisch-spiritistischen Kreises) werden sollte, der Fossa nach dem Krieg half seine Vergangenheit als OVRA-Agent vergessen zu lassen (vgl. S. 99f).
Noch im Dezember 1941 wies Bice Pupeschi ihre OVRA-Chefs auf die Gefährlichkeit Cambareris und seine konspirativen Fähigkeiten hin… Doch die OVRA vertraute die weiteren Ermittlungen einem Unteroffizier an, der stattdessen glaubte, Cambareri und Iole Fabbri litten einfach an psychischen Störungen (vgl. S. 101f). In Wirklichkeit war die OVRA zu wohlwollend gegenüber Cambareri, der sich tatsächlich gegen das faschistische Regime verschworen hatte.
Am 18. März 1942 läßt die OVRA Cambareri verhaften, entkräftet dann aber die Anschuldigungen, indem sie ihn als leichtgläubigen Menschen hinstellt. Selbst im römischen Gefängnis „Regina Coeli“ und in der Verbannung in Campobasso genießt Cambareri eine gewisse Freiheit, finanzielle Mittel, Ruhm als Magier und Heiler und die magnetische Fähigkeit, Wohlwollen, Sympathie und sogar neue Anhänger für seine Michaelsbruderschaft anzuziehen… Nach einigen Monaten kommt Cambareri frei. Auch das ist ein Zeichen dafür, daß er hochrangigen Schutz genießt (vgl. S. 103–112).
Später, nach dem Krieg, hilft Cambareri auch dem OVRA-Funktionär Arturo Musco, der ihn gerettet hat, indem er die Ermittlungen gegen ihn im Jahr 1942 „zügelte“. Nach dem 8. September 1943 schließt sich Musco der von Mussolini gegründeten Italienischen Sozialrepublik an. Trotzdem gelingt es Cambareri, Musco zu retten, indem er ihn als seinen eingeschleusten Agenten bei den Faschisten von Salò präsentiert. So erhält Musco sogar das Kriegskreuz für militärische Tapferkeit für anti-nazifaschistische Aktivitäten (vgl. S. 185f).
Doch der Reihe nach: Am 25. Juli 1943 rebelliert der Großrat des Faschismus und stürzt die Regierung von Benito Mussolini, der verhaftet wird. In diesem Moment bekennt sich Giuseppe Cambareri offen als Antifaschist und schließt sich auf der Seite der Alliierten dem SIM an. Einer der Kollaborateure von Cambareri ist der SIM-Agent Hauptmann Bino Bellomo (siehe S. 136f).
Bei all diesen Ereignissen ist man erstaunt über die Fähigkeiten und den Schutz (und nicht nur das Glück), die Cambareri im faschistischen Rom zweifellos genoß. Als ob es über ihm eine unsichtbare (geistige und/oder irdische) „allsehende“ „Macht“ gäbe, die ihm die Türen des Faschismus öffnete und die OVRA daran hinderte, gegen ihn vorzugehen… ja, als ob sogar die OVRA ihn schützte und ihm beistand… Die OVRA-Agenten Pupeschi und d’Ambrosio hatten die Identität und die Mission Cambareris wohl erraten, aber unter den Vorgesetzten der OVRA gab es jene, die ihn schützten… Eine unsichtbare Macht, die nationale Identitäten, Regierungen, ideologische Ausrichtungen übersteigt… jenseits und über allen Gegensätzen?
(Fortsetzung folgt.)
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. In seiner jüngsten Veröffentlichung geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, daß die Freimaurerei von Anfang an esoterische und gnostische Elemente enthielt, die bis heute ihre Unvereinbarkeit mit der kirchlichen Glaubenslehre begründen.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/MiL