(Rom) Italiens Kulturminister Gennaro Sangiuliano besuchte am 79. Todestag des seligen Rolando Rivi dessen Grab in Castellarano in der Provinz Modena und setzte damit ein bemerkenswertes geschichtspolitisches Zeichen. Der 14jährige Rivi war am 13. April 1945, weil er Seminarist in einem bischöflichen Gymnasium war, von kommunistischen Partisanen erschossen worden.
Viele Jahrzehnte war die Erinnerung an den jungen Märtyrer im „Roten Dreieck“ der Emilia ein Tabu. Zu mächtig waren die Kommunisten, die nach Kriegsende effizient das kollektive Geschichtsbild mitprägten und dabei sich selbst als makellos präsentierten. Doch der Mythos von den Antifaschisten, die für die Demokratie gekämpft hätten, wurde seit den 90er Jahren schrittweise demontiert. Seither wird die jüngere Geschichte etwas differenzierter betrachtet und auch die zum Schweigen gebrachten Opfer der roten Partisanen werden in den Blick genommen.
Das Rote Dreieck
Als „Rotes Dreieck“ oder „Dreieck des Todes“ wird die Provinz Modena in der Emilia-Romagna bezeichnet. Zwischen 1943 und 1949 wurden hier von Kommunisten überdurchschnittlich viele politische Morde begangen. Allein für die Zeit von April 1945 bis Ende 1946 wird ihre Zahl auf über tausend geschätzt.
Italienweit gehen die Schätzungen der Gesamtzahl dieser Morde, die als „Partisanenjustiz“ bekannt wurden, weit auseinander. Sie ist erschreckend und reicht von 15.000 bis 34.500.
Gerichtlich wurde die Hinrichtung des jungen Rolando Rivi 1951/52 aufgearbeitet und führte zur Verurteilung zweier Partisanen der kommunistischen 27. Garibaldi-Brigade „Dolo“ zu 22 Jahren Haft. Aufgrund der Togliatti-Amnestie, benannt nach dem damaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) Palmiro Togliatti, der in der ersten Nachkriegsregierung stellvertretender Ministerpräsident und Justizminister war, mußten sie aber nur sechs Jahre verbüßen.
Lange behinderte die politische Linke, die die Provinz Modena und die Region Emilia-Romagna ununterbrochen seit Kriegsende regiert, das Gedenken an den jungen Rolando Rivi. Die Gläubigen pilgerten jedoch seit 1945 zu seinem Grab. Eine kleine Gebetsgruppe ließ, obwohl politisch unerwünscht, nicht locker. Erst 2006 war das Klima so weit, daß die Erzdiözese Modena die Eröffnung des Seligsprechungsverfahrens wagte. Die zuständige vatikanische Theologenkommission erkannte das Martyrium in odium fidei, aus Haß gegen den Glauben, an und am 28. März, wenige Tage nach seiner Wahl zum Papst, unterzeichnete Franziskus das bereits unter seinem Vorgänger vorbereitete, aber durch dessen Amtsverzicht verzögerte Seligsprechungsdekret. Am 5. Oktober 2013 erfolgte die feierliche Seligsprechung Rivis in Modena.
Der Gedenktag des Seligen wird am 29. Mai begangen, dem Tag seiner Bestattung 1945 im Priestergrab der Valentinskirche in Castellarano. Das offizielle Italien tat sich dennoch schwer mit dem jungen Märtyrer, zu sehr fiel er aus dem Rahmen dessen, was die Italiener heute von ihrer jüngeren Geschichte zu wissen glauben. In der vom Staat durch seine Geschichtspolitik vermittelte und vor allem an den Schulen gelehrte Geschichte gab es keinen Platz für die „anderen“ Opfer. Das von den Siegermächten bestimmte und der italienischen Linken zementierte Geschichtsbild blendete sie aus, auch den 14jährigen Rolando Rivi.
Zum besseren Verständnis ein Vergleich: An welcher bundesdeutschen Schule oder Universität erfahren die Schüler und Studenten, daß die Erforschung und Lehre der eigenen Geschichte nicht frei ist, sondern die Bundesrepublik Deutschland und alle seine Organe und Behörden, also auch der gesamte Bildungs- und Kulturbereich von der Schule über die Universitäten, die Bundeszentrale für politische Bildung bis zum Militärgeschichtlichen Forschungsamt und damit auch bei der üppigen Subventionspolitik für NGOs, Kulturvereine, Konferenzen usw. verpflichtet sind, das Sieger-Narrativ zu vermitteln, zuletzt festgeschrieben und bekräftigt im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990?
Seit 1946 begeht Italien den 25. April als Staatsfeiertag. An diesem Tag gedenkt die Kirche des Evangelisten Markus, der italienische Staat aber der Befreiung von der nationalsozialistischen Besetzung und vom Faschismus. Der Gedenktag richtet sich also gegen die Zeit des Faschismus (1922–1945) und insbesondere gegen die 20 Monate der deutschen Besetzung Italiens in Zusammenarbeit mit Benito Mussolinis faschistischer Sozialrepublik von Salò (1943–1945). De facto handelt es sich jedoch um einen Feiertag der politischen Linken, die das Gedenken sofort in Beschlag nahm, um eine interessengeleitete Gleichung zu etablieren. Laut dieser habe die politische Linke, allen voran die Kommunisten, Italien vom Nazi-Faschismus befreit, um die Demokratie zu retten. Die Kommunisten seien daher die wahren (und letztlich einzigen) Demokraten im Land, woraus folgt, daß alle Kräfte rechts von ihnen potentielle Feinde der Demokratie sind. Das Gedächtnis an eine dunkle Zeit dient seit 1946 auch dem politischen Machtkampf. Damit wollten die Kommunisten, als ihnen nach Kriegsende die Machtübernahme nicht gelang, vergessen machen, daß sie dafür gekämpft hatten, die faschistische durch eine kommunistische Diktatur zu ersetzen.
Ein toter Junge, der stört
Ein 14jähriger Junge, dessen einzige Schuld darin bestand, eine Soutane zu tragen und sich zu seinem Glauben und zur katholischen Kirche zu bekennen, und der von kommunistischen Partisanen entführt, grausam mißhandelt und schließlich nach drei Tagen erschossen wurde, stört das geschönte Narrativ.
Rolando Rivi war im Alter von elf Jahren in das bischöfliche Knabenseminar in Marola eingetreten, ein „Kleines Seminar“. Das erlaubte ihm, wie es damals üblich war, da er sich auf das Priestertum vorbereitete, die Soutane und den Saturno als Kopfbedeckung zu tragen. Im Sommer 1944 wurde das Kleine Seminar von deutschen Truppen besetzt und so mußte Rivi in sein Elternhaus zurückkehren. Er selbst schrieb damals: „Ich gehöre Jesus“, weshalb er stets die Soutane trug. Das wurde ihm zum Verhängnis. Die Soutane machte ihn den Kommunisten zum Feind.
Es dauerte 79 Jahre, bis sich das offizielle Italien zu einem ehrlicheren Geschichtsverständnis aufrafft. Minister Gennaro Sangiuliano durchbrach das Tabu, indem er am Todestag des Seligen dessen Grab besuchte, und das nur wenige Tage vor dem heute begangenen „Tag der Befreiung“ 2024.
„Zwei Schüsse am 13. April 1945, als er erst 14 Jahre alt war, haben ihn aus dem Leben gerissen, aber seither ist sein Andenken und Beispiel in den Herzen der Gläubigen eingeprägt“, schrieb der Publizist Giuseppe Brienza nach dem denkwürdigen Besuch des Ministers.
Kulturminister Sangiuliano sagte, daß die Erinnerung an Rolando Rivi ein Teil „des kollektiven Gedächtnisses“ aller Italiener werden sollte. Deshalb sprach er auch eine Einladung aus, indem er meinte: „Im Jahr 2025, am 80. Jahrestag der Ermordung, wird der nationale Partisanenverband mit mir zum Grab des Märtyrers kommen.“
Und weiter:
„Es ist klar, daß diejenigen, die heute an der Spitze des italienischen Partisanenverbandes stehen, keine direkte Verantwortung für die Ermordung des Märtyrerkindes tragen, aber es wäre schön, wenn sie sich uns bei diesem Gedenken anschließen würden.“
Es habe ein Gerichtsurteil gegeben, so der Minister, das alle drei Instanzen einhellig fällten, in dem zwei kommunistische Partisanen für die Tat verurteilt wurden. Es habe aber keine Erinnerung gegeben:
„Wir mußten für eine angemessene Erzählung auf das Buch ‚Il Sangue dei Vinti‘ („Das Blut der Besiegten“) von Gianpaolo Pansa aus dem Jahr 2005 warten, um Licht in das sogenannte Rote Dreieck zu bringen.“
„Ich bin auch hier, um eine lange Arbeit fortzusetzen, um die leeren Seiten der italienischen Geschichte zu füllen. Mit der Foibe ist uns das fast gelungen, Wir werden in Rom ein Museum zum Gedenken an das tragische Ereignis einrichten.“
Die Karstfoiben
Die Foiben sind Höhlen und Zerklüftungen im Triestiner Karst, einem Gebiet, das von Krain über Istrien bis Dalmatien reicht. Die kommunistischen Partisanen warfen bei Kriegsende ihre Gegner, die sie gefangengenommen oder entführt hatten, zu Tausenden, meist noch lebend, in diese Höhlen. Die Gegner der Kommunisten waren alle Andersdenkenden, die ihnen bei der politischen Neuordnung in der Nachkriegszeit als Konkurrenten im Wege stehen konnten. Das betraf nicht nur slowenische und kroatische Faschisten und „Kollaborateure“, sondern auch die Katholiken und nicht zuletzt die Angehörigen der italienischen und der deutschen Volksgruppe, gegen die man eine ethnische Säuberung praktizierte. Die Zukunft sollte slawisch und kommunistisch sein. Seit 1991 konnten Dutzende von Foiben identifiziert und teilweise die Opfer geborgen werden. Wie viele solcher Höhlengräber noch unentdeckt sind, kann niemand sagen. Die Zahl der in diese Höhlen geworfenen Opfer wird auf mehrere tausend geschätzt, doch eine genaue Zahl gibt es nicht.
Eines der Opfer war Don Francesco Bonifacio, der 2008 seliggesprochen wurde.
Der seit Herbst 2022 amtierende Kulturminister Sangiuliano sprach sich für die Überwindung der ideologischen Kämpfe zum „italienischen Bürgerkrieg“ von 1943–1946 aus. Dazu gehöre die Anerkennung, daß es „schändliche Taten auf beiden Seiten gegeben hat“. Für die amtierende Regierung sagte er: „Wir berücksichtigen die gesamte Geschichte.“
Auch das ist bemerkenswert, denn der promovierte Wirtschaftsjurist und heutige Minister Gennaro Sangiuliano hat selbst einen langen Weg hinter sich. Er gehörte in jungen Jahren der neofaschistischen Partei Italienische Sozialbewegung (MSI) an. Seit diese sich Anfang 1995 auflöste, ist er parteilos. Als solcher gehört er auch der Regierung an. Einen Namen machte er sich dann vor allem als Journalist und Buchautor. Er war stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Libero, Kolumnist des linksliberalen Wochenmagazins L’Espresso und der Wirtschaftstageszeitung Il Sole24Ore, RAI-Korrespondent in Bosnien, Afghanistan und im Kosovo und seit 2018 Chefredakteur der Nachrichtenredaktion des staatlichen Fernsehsenders RAI 2. Er ist zudem Lehrbeauftragter an mehreren Universitäten, darunter der LUMSA und der Sapienza, Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftsgeschichte an der LIUSS, alle drei in Rom, und Direktor der Journalistenschule an der Universität Salerno. Publizistisch sind vor allem seine vielfach ausgezeichneten Biographien bekannt, darunter über Lenin, Wladimir Putin, Hillary Clinton, Donald Trump und Xi Jinping.
Dem Partisanenverband ANPI gehören, altersbedingt, nur mehr vereinzelt aktive Partisanen an. Die Organisation wird heute von nachgeborenen Generationen bestimmt und ist eine der wichtigsten linken Organisationen. Auf die Einladung des Ministers, im nächsten Jahr gemeinsam mit ihm das Grab Rivis aufzusuchen, reagierte der ANPI-Vorsitzende von Modena, Vanni Bulgarelli, etwas trotzig: „Die Anführer des Partisanenverbandes brauchen sich nicht nach San Valentino zu begeben, um sich für den Tod von Rolando Rivi zu entschuldigen, denn sie haben bereits in unverdächtigen Zeiten eine sehr starke Verurteilung für diesen barbarischen Mord zum Ausdruck gebracht. Die ANPI hat den Vorfall mehrfach entschieden verurteilt und hat sicherlich nicht auf die Ankunft von Minister Sangiuliano gewartet.“ Die Ermordung des Jungen, so Bulgarelli, sei ein „irrtümlicher Racheakt“ gewesen.
Rivi wurde nach drei Tagen der Folter und der Demütigungen in einem Wald bei Piane di Monchio erschossen. Ein besonderer Akt der Versöhnung geschah am 13. April 2018, als sich am Jahrestag des Martyriums die Schwester von Rolando Rivi und die Tochter von Giuseppe Corghi, jenes Partisanen, der den Jungen erschossen hatte, in der Kirche von San Valentino in Catellarano umarmten. Die Tochter hatte getan, was ihr 1998 verstorbener Vater (und auch der Partisanenverband) versäumt hatte. Sie bat um Vergebung für den Mörder, indem sie die Fürsprache des jungen Seligen anrief, den er getötet hatte.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Wikicommons/Alleanza Cattolica (Screenshots)