
(Rom) Ist P. Marko Ivan Rupnik ein Sexualstraftäter? Trifft die Kirche der nächste Mißbrauchsvorwurf wie ein Donnerschlag? Der slowenische Jesuit ist den allermeisten Katholiken persönlich nicht bekannt, doch sehr viele kennen seine Mosaike, die in einem unverkennbaren Stil den Sakralraum einiger der bekanntesten Wallfahrtsorte zieren wie Fatima, San Giovanni Rotondo und Lourdes und die dem heiligen Johannes Paul II. geweihten Kirchen von Krakau und Washington. Auch die Kapelle Redemptoris Mater im Apostolischen Palast wurde von ihm ausgestaltet. Derzeit stellt P. Rupnik von ihm entworfene Mosaike an der Fassade des brasilianischen Nationalheiligtums Aparecida fertig. Was hat es aber mit den Vorwürfen auf sich? Vorsicht ist geboten.
Die Kunst des slowenischen Jesuiten kann, angesichts der Förderung in drei Pontifikaten, zumindest indirekt als der vom Vatikan bevorzugte Stil für Sakralkunst bezeichnet werden. Über dieses Übergewicht herrschten geteilte Meinungen, die jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sein sollen. Die Wertschätzung des Heiligen Stuhls ist jedenfalls so groß, daß Papst Franziskus 2016 im Apostolischen Palast eine Heilige Messe für das von Rupnik geleitete Centro Aletti feierte. P. Rupnik ist Priester, Jesuit, Theologe und Künstler. Seit vielen Jahren ist er die zentrale Gestalt des Studienzentrums „Ezio Aletti“ seines Ordens. Hat Papst Franziskus nun durch seine schützende, gar vertuschende Hand eine Exkommunikation latae sententiae seines Mitbruders verhindert?
Wer gibt den Vorwürfen Raum? Die Internetseite Silere Non Possum („Ich kann nicht schweigen“) und eine Seite, die – nomen est omen – Left heißt und mit einem linken Theorie-Magazin verbunden ist. Der Kirchenmann habe sich der „sexuellen und psychischen Gewalt“ schuldig gemacht. Bei näherer Betrachtung könnte es sich allerdings um eine Sache um zwei Ecken handeln. Die Nachricht wurde inzwischen auch von traditionsnahen und papstkritischen Medien aufgegriffen. Vielleicht sollte nicht auf jeden Zug aufsprungen werden, zumindest nicht voreilig.
P. Rupnik wurde 1954 im innerkrainischen Zadlog in Slowenien geboren. 1974 erfolgte sein Eintritt in den Jesuitenorden, 1985 seine Priesterweihe. An der Päpstlichen Universität Gregoriana erwarb er ein Doktorat und studierte an der Päpstlichen Akademie der Bildenden Künste. Seit 1991 lebt er im Centro Aletti, das er bis 2020 leitete. Er lehrt an der Gregoriana und dem Päpstlichen Liturgischen Institut und leitet noch zwei „Ateliers“ am Studienzentrum, eines für spirituelle Kunst und eines für Theologie. Er war bzw. ist Consultor mehrerer Dikasterien der Römischen Kurie.

Zunächst ein Wort zu Silere Non Possum. Der Blog existiert seit März 2021 und wird von Marco Felipe Perfetti betrieben, der damals als Student der Rechtswissenschaften an der Universität Bologna an die Öffentlichkeit trat und inzwischen als Herausgeber der „Strafprozeßordnung des Vatikans“ von Medien auch zum Fall von Kardinal Angelo Becciu befragt wird. Die Internetseite Korazym bezeichnete ihn irrtümlich als Rechtsanwalt, das wäre dann aber doch etwas zu schnell gegangen. Ein Hauptanliegen des Blogs ist der Kampf gegen „Homophobie“ in der Kirche, wobei auch mit rechtlichen Schritten vor staatlichen Gerichten gegen Priester gedroht wird, die sich der Homo-Agenda widersetzen.
Damit ist bereits vorweggenommen, daß die Anschuldigungen gegen P. Rupnik nicht homosexueller Natur sind. Gut 80 Prozent der Fälle von sexuellem Mißbrauch durch Kleriker sind homosexuelle Taten.
Anschuldigungen gegen den Jesuiten gehen auf das Jahr 1995 zurück, als sich eine Angehörige des in den 80er Jahren in Laibach gegründeten und dem Jesuitenorden nahestehenden Frauenordens Comunità Loyola beschwerte, sie sei plagiiert worden und es habe 1992/93 „psychische, physische und spirituelle Mißhandlung“ gegeben. P. Rupnik war geistlicher Assistent und Beichtvater der Schwesterngemeinschaft und mit der Gründerin und Generaloberin Ivanka Hosta befreundet. Die aufgetretenen Probleme endeten damals mit der Entfernung Rupniks, nachdem es zu einem Streit zwischen Hosta und dem Jesuiten gekommen war.
Dieser Bruch war für einige Schwestern so traumatisch, daß sie den Orden verließen und Rupnik an das von ihm geleitete Centro Aletti in Rom folgten. Die männlichen Mitglieder des Zentrums sind fast ausnahmslos Jesuiten und bilden eine Hausgemeinschaft. Dazu gibt es aber auch zahlreiche weibliche Mitarbeiter, die an akademischer Ausbildung ihren männlichen Kollegen um nichts nachstehen und an verschiedenen Universitäten lehren. In dieses Umfeld sind auch die Frauen zu zählen, die Rupnik nach Rom gefolgt sind.
An die Öffentlichkeit gelangte die Angelegenheit nun, weil Briefe an Papst Franziskus bekannt wurden, die drei verschiedene Schwestern der Comunità Loyola ihm geschrieben hätten. Zumindest einer davon wurde veröffentlicht. Die Schreiberin sagt, die „Suche nach dem Ordensleben“ aufgegeben zu haben. Wegen der Weigerung, ihr zuzuhören, habe sie sich vom Orden entbinden lassen. Sie tut in dem Brief ihre Empörung darüber kund, daß P. Rupnik, trotz „der schweren Anschuldigungen, die gegen ihn erhoben wurden und für die ich mehr als einmal als Zeuge geladen wurde, weiterhin in ganz Italien Vorträge hält und seine Katechesen auf YouTube veröffentlicht“.
Der Fall Rupnik ist demnach ein Fall in einem anderen Fall, dem des slowenischen Frauenordens, und liegt über 25 Jahre zurück. Ob und welche Rolle eventuell auch die ihm nach Rom gefolgten Frauen spielen, scheint derzeit aber nicht die Frage zu sein. Die von Left zitierte Anklägerin, die anonym bleibt, spricht zwar davon, „mindestens drei Schwestern“ der Comunità Loyola „zu kennen“, denen Rupnik in den ersten 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts „psychische und auch physische Gewalt“ angetan habe, ihr selbst aber offenbar nicht.
Es ist auch unklar, ob Left und Silere Non Possum aus demselben Brief zitieren, obwohl sie sich auf dieselbe Quelle zu stützen scheinen. Die Frau, die angibt, vom Vatikan mehrfach angehört worden zu sein, gelangt zum Schluß, „daß man mir nicht geglaubt hat. Ich habe das berechtigte Bedürfnis, nach soviel Leid zu wissen, ob die Kirche Pater Rupnik für einen zuverlässigen Lehrer hält“. Eine Anspielung darauf, daß der Jesuit Katechesen im Internet publiziert. Die Briefe hätten den Papst „sicher“ erreicht, doch eine Antwort stehe bis heute aus.

Was ist geschehen? 2019 wurde der in Laibach gegründete Frauenorden einer Visitation unterzogen. Im Dezember 2020 ernannte die Ordenskongregation mit Zustimmung von Papst Franziskus einen Apostolischen Kommissar. Als Kommissar wurde Msgr. Daniele Libanori beauftragt, Weihbischof von Rom und selbst Jesuit. Letzteres wird angekreidet, obwohl er in der Vergangenheit in ähnlichen Fällen durch seine Strenge bekannt wurde.
Die Entsendung des Kommissars erfolgte in aller Stille. Ausgangspunkt war nicht P. Rupnik, sondern der Vorwurf des Machtmißbrauchs und der Unterdrückung von Mitschwestern durch die Ordensgründerin und Generaloberin Ivanka Hosta. Eine beträchtlicher Teil der Schwestern wehrt sich allerdings gegen diesen römischen Eingriff, der als „Akt der Verfolgung“ gesehen wird, und weist die Anschuldigungen zurück.
Wurde aber P. Rupnik in diesem Fall auch zum Fall? Wurde er bisher gar zu „idealisiert“? Wurde der Anklägerin nicht geglaubt, weil die von ihr beschuldigte Person zu hohes Ansehen genießt oder weil ihre Aussagen unglaubwürdig sind? Sie selbst deutet an, Selbstmordgedanken gehegt zu haben. P. Rupnik sei damals, vor einem Vierteljahrhundert, auch ihr Beichtvater gewesen. Die Anschuldigungen bleiben allerdings vage. Auch sexuelle Gewalt wird angedeutet, doch alles scheint verschwommen.
„Die Gemeinschaft war in ihren Anfängen auch von Mißbrauch des Gewissens, aber auch emotionalem und angeblich sexuellem Mißbrauch durch P. Marko Rupnik geprägt. Als Freund der Gründerin und mehrerer Schwestern der ersten Stunde hatte er eine ständige Nähe und Präsenz im persönlichen Leben aller Schwestern und der Gemeinschaft als Ganzes. Als durch das große Leid einiger Schwestern die endgültige Trennung von Pater Rupnik vollzogen wurde, war das für die Schwestern eine große Belastung. Rupniks Verantwortlichkeiten wurden nie vollständig geklärt; im Gegenteil, sie wurden praktisch vertuscht und von den direkt Beteiligten, aber auch von Schwester Ivanka, die davon wußte, nicht angeprangert.“
Zweifelhaft wird die Anklage, wenn die Autorin dann von den ohnehin wenig konkreten Vorwürfen, die mehr vom Hörensagen zu stammen scheinen, die faktische Ebene ganz verläßt und ihre Vorwürfe verallgemeinert, indem sie den Papst auffordert, „alle Mittel zu ergreifen, um diesen und allen anderen vielen Opfern dieser neuen religiösen Bewegungen und neuen Gemeinschaften Stimme, Würde und Gewissensfreiheit zu geben“.
Führt da jemand seinen ganz privaten, überzogenen Feldzug? Die von Left zitierte anonyme Quelle behauptet, daß nicht nur gegen den Frauenorden, sondern auch gegen P. Rupnik im Januar 2022 harte Sanktionen verhängt worden seien. Er habe ein Leben in Zurückgezogenheit zu führen, „keine Predigten, keine öffentlichen Zelebrationen und ein Beichtverbot“, schreibt Silere Non Possum.
Tatsache ist, daß P. Rupnik schon 2020 die Leitung des Centro Aletti abgegeben hat, aber dort noch ein künstlerisches und ein theologisches „Atelier“ leitet. Sein Rücktritt ließe sich mit der einige Monate später erfolgten Ernennung des Kommissars in eine entfernte zeitliche Nähe rücken, aber nicht mit dem Januar 2022. Was ist Anfang des Jahres geschehen?
Am 3. Januar 2022 wurde P. Rupnik von Papst Franziskus in Audienz empfangen. Das vatikanische Presseamt nannte keine Funktion. Die Leitung des Centro Aletti hat heute die promovierte Theologin Maria Campatelli inne, die den Verlag des Studienzentrums und das theologische Atelier „Kardinal Špidlík“ leitet. P. Rupnik war demnach ausschließlich ad personam beim Papst, was eher selten der Fall ist.

Über den Inhalt der Audienz wurde nichts bekannt, da weder der Heilige Stuhl noch P. Rupnik dazu Stellung nahmen. Nach einer Bestrafung des Jesuiten sieht es allerdings nicht aus. Bei einer Verurteilung wird die Distanz gesucht und ein Kontakt gemieden. Die anonyme Anklägerin sieht die Audienz hingegen als Moment, an dem Franziskus seinen Mitbruder persönlich über die gegen ihn verhängten „harten Sanktionen“ informiert habe. Eine ziemlich abwegige Interpretation angesichts der vatikanischen Gepflogenheiten.
Von einem Reiseverbot und anderen strengen Auflagen ist wenig zu spüren: Im vergangenen Mai leitete P. Rupnik Exerzitien für Priester in der italienischen Provinz. Am 30. November wurde ihm in Paraguay die Ehrendoktorwürde der Päpstlichen Katholischen Universität von Paraná verliehen. Der Jesuit kann sich frei bewegen, tritt in der Öffentlichkeit auf und ist auf der Internetseite des Centro Aletti aktiv wie zuvor.
Die anonyme Quelle sagt, der Priester habe sie „mit Druck und Erpressung gezwungen, Dinge zu tun, die ich rechtzeitig an der richtigen Stelle gemeldet habe“. Doch „alle haben den Mantel des Schweigens darübergebreitet“. Und weiter: „Nach meiner ersten Anzeige hat mir niemand geholfen, weder die Gemeinschaft noch der damalige Erzbischof von Laibach noch der Obere von Pater Rupnik, mit dem ich sprach und versuchte zu erklären, was geschehen war.“
Die Frau möchte das Ergebnis der Untersuchungen gegen P. Rupnik durch Msgr. Libanori und das zuständige Dikasterium erfahren. Die Frage ist, ob und in welcher Form Msgr. Libanori überhaupt damit beauftragt wurde. Seine Ernennung zum kommissarischen Leiter des Frauenordens Comunità Loyola steht jedenfalls in keinem Zusammenhang mit einem Ermittlungsauftrag. Dieselbe Quelle, die einerseits Klarheit will, behauptet zugleich, Msgr. Libanori sei zum Schluß gelangt, daß „die angehörten Opfer glaubwürdig sind und ihre Erzählung standhält“. Das stehe so in einem Akt der Glaubenskongregation. Die Darstellung wirkt verwirrend und scheint ihrerseits nicht standzuhalten.
Silere Non Possum und Left werfen die Frage auf, ob Papst Franziskus „den Mißbrauch Rupniks“ decke, und erinnern an den Fall Inzoli, der dem Kirchenoberhaupt in Italien schon einmal einen solchen Vorwurf einbrachte. Nun ist bekannt, daß das sogenannte „System Bergoglio“ Begünstigte kennt. Vor allem im Zusammenhang mit Homosexualität, was weder Left noch Silere Non Possum stören dürfte. Das erlaubt dennoch keine Verallgemeinerung. Allein schon der Hinweis einer angeblich verhinderten Exkommunikation latae sententiae wirft ernste Zweifel auf. Eine im Zusammenhang mit einer Tat stehende Exkommunikation kann gar nicht „verhindert“ werden. Wer die Tat begeht, zieht sich automatisch die Exkommunikation zu. Deshalb ist die Exkommunikation als Spruchstrafe nach einem ordentlichen Verfahren die Regel.
Laut dem, was bisher bekannt wurde, ist die Anklage gegen P. Rupnik zu dünn, viel zu dünn. Was, wenn er schuldig ist? Dann müssen konkretere Beweise her. Was aber, wenn er unschuldig ist? Dann wird versucht, ihn mit Schmutz zu bewerfen, denn bekanntlich bleibt immer etwas hängen. Was vorerst bleibt, sind Zweifel, die den Beigeschmack des Rufmordes haben. Und es liegt in der Natur von Zweifeln, daß sie nagen. Papst Franziskus hat getan, was er immer dann tut, wenn er jemand verteidigen will, der angegriffen wird: Er hat sich demonstrativ zusammen mit P. Rupnik gezeigt.

Text: Giuseppe Nardi
Bild: Centro Aletti/Giuseppe Nardi/Facebook/VaticanMedia(Screenshots)