
(Rom) Papst Franziskus behält in der Ukrainekrise seine vermittelnde Rolle bei und drängt auf die Rückkehr zu Verhandlungen, Waffenstillstand und Frieden. Obwohl das katholische Kirchenoberhaupt massiv unter Druck gesetzt wird durch das allgemeine Kriegsgeschrei, das ringsum inszeniert wird, beharrt er darauf, nur einen einseitigen Schritt zu setzen, den des Friedens. Eine Analyse seines Interviews mit dem Corriere della Sera vom 3. Mai.
Franziskus spricht in dem Interview aus, was im Westen kaum jemand im öffentlichen Raum zu sagen wagt. Das gilt aber auch gegenüber Moskau, da Franziskus den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche mahnte und ein geplantes Treffen im Libanon faktisch absagte.
Am 3. Mai veröffentlichte der Corriere della Sera, Italiens wichtigste Tageszeitung, ein Interview mit Papst Franziskus, das Chefredakteur Luciano Fontana und seine Stellvertreterin Fiorenza Sarzanini in Santa Marta führten.
Papst Franziskus äußert darin die anhaltenden Kämpfe im Ukraine-Konflikt als seine Hauptsorge. Seit dem 24. Februar lautet die Botschaft des Kirchenoberhauptes: „Hört auf!“ Neben diesem Appell, die Waffen schweigen zu lassen, vertraut Franziskus den diplomatischen Fähigkeiten seines Kardinalstaatssekretärs Pietro Parolin.
„Er ist wirklich ein großer Diplomat, in der Tradition von Agostino Casaroli, er weiß, wie man sich in dieser Welt bewegt, ich vertraue ihm sehr und ich verlasse mich auf ihn.“ Um zumindest einen Waffenstillstand zu erreichen, wie Luciano Fontana den päpstlichen Gedanken vervollständigt.
Die Anspielung auf Kardinal Casaroli, Staatssekretär unter Paul VI., ist eines von zahlreichen Signalen, die Franziskus in dem Interview an beide kriegsführenden Seiten aussendet.
Mehrfach betont der Papst, bereit zu sein, nach Moskau zu reisen. Dabei meint er weniger ein Treffen mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, sondern mit Rußlands Staatspräsidenten Wladimir Putin. Mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj habe er gleich am ersten Kriegstag telefoniert. Ein solches Gespräch führte er mit Putin nicht, sondern begab sich Franziskus in die russische Botschaft beim Heiligen Stuhl. Nach dem 20. Kriegstag ließ er dann aber offiziell in Moskau den Wunsch deponieren, mit Putin zusammenzutreffen. Eine Antwort liegt bisher nicht vor.
Die Frage einer Reise nach Moskau ist sehr komplex. Franziskus erwähnt es nicht, doch er würde damit russischen Boden betreten. Eine solche Begegnung auf dem Gebiet der russisch-orthodoxen Kirche gilt bisher als Tabu. Franziskus würde sie unter Verweis auf seine Vermittlung im Ukrainekonflikt umgehen. Dazu scheint Putin ohne Zustimmung des Moskauer Patriarchats nicht bereit zu sein. Franziskus relativiert den Punkt daher selbst, indem er andeutet, daß Putin dieses Treffen „derzeit nicht machen könne oder wolle“.
Franziskus bemüht, um seine Empörung zum Ausdruck zu bringen, einen Vergleich mit dem Bürgerkrieg in Ruanda 1994. Ein unglücklicher Vergleich, da die äußeren und inneren Voraussetzungen zu verschieden sind von dem, was zwischen Russen und Ukrainern, Großrussen und Kleinrussen, zwischen Rußland und der Ukraine – und den USA – geschieht.
„Das Bellen der NATO an Rußlands Tür“
Interessanter ist, daß Franziskus nach den Ursachen des Krieges fragt. Eine Frage, die in dem von der US-Regierung Biden ausgegebenen Kriegsgeschrei geradezu als anstößig gilt. Das Kirchenoberhaupt nennt auch die Gründe, die für das kriegstreiberische und „masochistische“ (Prof. Gianfranco Battisti) Verhalten der westlichen Regierungen und Mainstream-Medien verantwortlich sind. Das ist der deutlichste Teil des Interviews, da er in krassem Gegensatz zu der im Westen ausgegebenen Sprachregelung steht, wo die Regierungen nicht davor zurückschrecken, gegenteilige Meinungen unter Strafe zu stellen.
„Vielleicht hat das ‚Bellen der NATO an Rußlands Tür‘ den Kremlchef dazu gebracht, schlecht zu reagieren und den Konflikt zu entfesseln. Eine Wut, von der ich nicht sagen kann, ob sie provoziert wurde, aber vielleicht wurde sie begünstigt.“
In Israel heißt es zur „Kriegsschuldfrage“, einer Erfindung der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, daß nicht entscheidend sei, wer den ersten Schuß abgebe, sondern was vor diesem ersten Schuß geschehen ist. Das sagt Franziskus nicht, aber er ermahnt mit seinem Hinweis auf das „Bellen der NATO an Rußlands Tür“, die Frage wesentlich differenzierter zu betrachten und auch das eigene Handeln auf den Prüfstand zu stellen.
Franziskus gibt damit zu verstehen, daß die eigentlichen Kontrahenten in der Ukraine die US-Regierung unter Biden und die russische Regierung unter Putin sind. Er vermeidet es zugleich weitgehend, sowohl die US-Regierung als auch die russische Regierung namentlich zu nennen und eine offene Anklage gegen sie zu formulieren. Gegenüber den USA und der NATO, die einen Stellvertreterkrieg führen, ist Franziskus nuanciert zurückhaltender, denn von dort erfährt er seit Wochen den massivsten Druck. Da Putin „nicht aufhören“ werde, wolle er dringend mit ihm sprechen. Franziskus nennt als Hoffnungsschimmer auch, daß Rußland bis zur großen „Siegesparade“ am 9. Mai die „Militäroperation“ in der Ukraine beendet haben wolle. Derzeit sieht allerdings nichts danach aus. Rußland hat seine Kriegsziele noch nicht erreicht und Selenskyj setzt, angetrieben von den angelsächsischen Regierungen und den westlichen Waffenlieferungen, auf Kampf statt Verhandlungen.
Nein zum Wettrüsten
Franziskus beharrt auf dem Nein zum Wettrüsten. Er verweist darauf, wie die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine sogar die katholische Friedensbewegung spaltet. Für ihn gilt das Nein zur Eskalation durch Waffenproduktion, denn sie führe „früher oder später zu Tod und Leid“. Auch auf die direkte Frage, ob der Ukraine Waffen geliefert werden sollten, folgt Franziskus nicht den Vorgaben der Regierung Biden. Im transatlantischen Säbelrasseln wird eine abweichende Meinung geradezu als „Hochverrat“ angeprangert. Franziskus weiß allerdings, daß im Volk, ob in Italien oder Deutschland, die Stimmung keineswegs so eindeutig ist, wie es in der veröffentlichten Meinung vermittelt wird.
Franziskus beantwortet die direkte Frage nicht, denn „dazu bin ich zu weit weg“. Das ist freilich wenig stichhaltig. Dafür wird sein Wunsch offensichtlich, sich der Frage zu entziehen, um sich nicht offen gegen die US-Regierung und ihre europäischen Satelliten stellen zu müssen. Er ergänzt allerdings zum ukrainischen Kriegsschauplatz:
„Klar ist nur, daß dort Waffen getestet werden. Die Russen wissen jetzt, daß Panzer wenig nützlich sind, und denken an andere Dinge. Deshalb werden Kriege geführt: um die Waffen zu testen, die wir produziert haben. So war es auch im spanischen Bürgerkrieg vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Waffenhandel ist ein Skandal, den nur wenige bekämpfen. Vor zwei oder drei Jahren traf in Genua ein Schiff ein, das mit Waffen beladen war, die auf ein großes Frachtschiff für den Transport in den Jemen umgeladen werden sollten. Die Hafenarbeiter wollten das nicht tun. Sie sagten: Laßt uns an die Kinder im Jemen denken. Es ist eine kleine Sache, aber eine nette Geste. Es sollte viele davon geben.“
Auf die Frage, ob er nicht in die Ukraine reisen wolle, was eine „starke Geste“ wäre, verweist Franziskus auf zwei Kurienkardinäle, den Slowaken Michael Czerny und den Polen Konrad Krajewski, die er bereits mehrfach in die Ukraine geschickt habe. Die Solidaritätsreisen westlicher Politiker zum ukrainischen Staatspräsidenten Selenskyj sind Teil der Propaganda-Strategien hinter dem Kriegswillen der US-Regierung. Der Papst sagt das nicht, weiß es aber. Auch hier betont er seinen Willen, sich nicht von einer der beiden kriegsführenden Parteien vereinnahmen zu lassen.
„Ich habe das Gefühl, daß ich nicht gehen darf. Ich muß erst nach Moskau fahren, ich muß erst Putin treffen. Aber ich bin auch ein Priester, was kann ich tun? Ich tue, was ich kann. Wenn Putin die Tür öffnen würde…“
Die Journalisten fragen Franziskus, ob Patriarch Kyrill diese Tür öffnen könnte. Der Papst zeigt sich jedoch skeptisch:
„Ich habe mit Kyrill 40 Minuten lang per Videokonferenz gesprochen. In den ersten zwanzig Minuten las er mir alle Rechtfertigungen für den Krieg vor. Ich hörte zu und sagte: ‚Ich verstehe das alles nicht. Bruder, wir sind keine Staatskleriker, wir können nicht die Sprache der Politik verwenden, sondern die von Jesus. Wir sind Hirten desselben heiligen Volkes Gottes. Deshalb müssen wir nach Wegen des Friedens suchen und das Feuer der Waffen einstellen.‘ Der Patriarch kann nicht Putins Meßdiener werden. Ich hatte am 14. Juni ein Treffen mit ihm in Jerusalem vereinbart. Es wäre unser zweites persönliches Treffen gewesen, das nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Aber jetzt stimmt sogar er zu“.
Aus diesem Grund werde es nicht zu dem Treffen im Libanon kommen, das offiziell noch gar nicht bestätigt war, denn „es könnte ein zweideutiges Signal sein“.
Franziskus nennt schließlich „Syrien, Jemen, Irak, Afrika“ als Kriegsschauplätze. Überall hätten „internationale Interessen“ die entscheidende Rolle gespielt. Ein weiterer Seitenhieb, wer ihn hören will. Franziskus selbst bleibt auf der subtilen Ebene. Er weiß, daß man ihn in den Staatskanzleien und daß ihn die politischen Analysten verstehen. Der Rest ist Diplomatie, denn Franziskus möchte als ehrlicher Makler zwischen den Fronten bereitstehen. Als durch und durch politisch denkender Mensch scheint er ganz in seinem Element zu sein.
Zur Empfindlichkeit von ukrainischer Seite, wie sie sich zeigte, als Franziskus bei der Via Crucis am Karfreitag eine Ukrainerin und eine Russin gemeinsam eine Friedensbotschaft formulieren lassen wollte, meinte er entschuldigend, die Ukrainer seien eben ein „stolzes Volk“, sie hätten im Zweiten Weltkrieg „so viel bezahlt“, „sie sind ein Märtyrervolk“. In diesem Punkt zeigt sich Franziskus undifferenziert, kann dadurch allerdings den Vorwurf verhindern, sich eventuell zu sehr der russischen Position zu nähern.
Sein Gesamtresümee zum derzeitigen Zeitpunkt lautet:
„Es gibt nicht genug Willen zum Frieden.“
Moskauer Reaktion
Während Franziskus die kriegsführenden Regierungen in Moskau und Washington schonte, fand er tadelnde Worte für den Moskauer Patriarchen. Das wurde dort auch so empfunden, zumal die meinungsbeherrschenden westlichen Presseagenturen, zum Beispiel Reuters, sogleich bemüht waren, Öl ins Feuer zu gießen, um eine Kluft zwischen Franziskus und Kyrill zu öffnen.
Aus dem Moskauer Patriarchat hieß es entsprechend, daß solche Kommentare, wie der des Papstes, den Dialog zwischen den Kirchen beeinträchtigen würden. Es sei bedauerlich, daß der Papst anderthalb Monate, nachdem Franziskus und Kyrill direkt miteinander gesprochen hatten, einen solchen Ton angeschlagen habe.
Wörtlich ließ das Patriarchat wissen:
„Solche Erklärungen werden wahrscheinlich nicht dazu beitragen, einen konstruktiven Dialog zwischen der römisch-katholischen und der russisch-orthodoxen Kirche aufzubauen, der zu diesem Zeitpunkt besonders notwendig ist.“
Zu dem beabsichtigten Treffen zwischen Kyrill und Franziskus am 14. Juni im Libanon äußerte sich das Patriarchat nicht.
Der Kreml hingegen äußerte, daß es „keine Vereinbarungen“ und „keine Initiativen“ bezüglich einer Begegnung zwischen Putin und Franziskus gebe.
„Dazu habe ich nichts zu sagen“
Auf die Frage an Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin zu den Moskauer Reaktionen auf das Franziskus-Interview hielt sich der vatikanische Chefdiplomat bedeckt:
„Dazu habe ich nichts zu sagen.“
Angesprochen wurde Kardinal Parolin gestern am Rande einer Veranstaltung der Gemeinschaft von Sant’Egidio in Rom. Auf die Frage, ob es bei der Videokonferenz zwischen Papst Franziskus und Patriarch Kyrill am 16. März „Mißverständnisse“ oder „Unklarheiten“ gegeben habe, sagte der Kardinalstaatssekretär:
„Ich möchte nicht auf diese heiklen Themen eingehen. Es ist besser, mich nicht zu äußern. Natürlich hat dieser Wille unsererseits immer bestanden, und alle Schritte, die unternommen wurden, waren immer darauf ausgerichtet, nicht noch mehr Spaltungen und nachfolgende Spannungen zu schaffen. Das ist der aufrichtige Wille des Papstes.“
Text: Giuseppe Nardi/Andreas Becker
Bild: VaticanMedia/MiL (Screenshot)
Der Bischof von Rom wird auf jeden Fall von den Mächtigen der Welt nicht überhört worden sein, auch wenn ihre Beller, die Dorfmedien, nichts davon berichten, außer es paßt zur Rußland-Schelte. Er macht der Nato einen kleinen Strich durch die Rechnung. Es wird für jeden bspw. immer klarer, daß die verlogenen Waffenlieferungen in die Ukraine den Ukrainern nur schaden, aber die Geldbeutel der westlichen Rüstungsfirmen füllen.
Besten Dank an die Redaktion für diesen wertvollen Bericht mit der Aufschlüsselung des Interviews. Diese Stellungnahmen des Papstes sind sozusagen eine erfreuliche Überraschung. Für diplomatische Usancen ist die Formulierung „Bellen der NATO“ vermutlich eine Atombombe. Aber sie trifft durchaus zu.
Die Zeit des Hosianna ist für den Papst vorbei. Die Kreuzige-Ihn-Rufe dürften bis nach Rom schallen…
Casaroli hier positiv zu vereinnahmen, zeigt die ganze Verwirrung der traditionstreuen Katholiken. Er hat die aufrechten Bischöfe wie Kardinal Mindszenty an die Kommunisten mit seiner Ostpolitik verraten. Insofern passt er gut zu den Putinverstehern, die den altsowjetischen Lügengeist, der in Putin fortlebt, nicht durchschauen wollen. Es wäre besser mit den baltischen Ländern zu reden. Die Atomraketen in Kaliningrad stören den Autor offenbar nicht.
Wetten, dass es Sie nicht stört, dass sich die Nato entgegen den Vereinbarungen nach Osten erweitert hat.
Es ist die Nato, welche vor der Haustüre von Russland „bellt“ und provoziert.
Das alles stört offenbar Sie nicht, genauso der jahrelange Beschuß von Luhansk und Donezk durch die Ukraine.
Papst Franziskus wird sicher nicht in der Kirchengeschichtsschreibung als großer Theologe eingehen,
aber auf dem Gebiet der Kirchenpolitik versteht er zu agieren. In der westlichen Welt gehört er zu den
Wenigen, die mit klarem Kopf Vorschläge zur Überwindung des Ukrainekonfliktes präsentieren statt in
wüstes Kriegsgeschrei auszubrechen.
Es ist ein weiterer Hinweis auf einen Gesinnungswandel des Papstes. Wie weit der Gesinnungswandel geht, ist in Rom schwer zu erahnen, bremst doch die Kurie einiges aus. Interessant sind die Zusammenhänge. Der diplomatischen Aktivität des Papstes geht die Weihe Russlands an das Herz Mariens voraus. Es gibt geteilte Meinungen ob die Marienweihe so, wie Franziskus sie gemacht hat, den Ansprüchen der Mutter Gottes genügt. Im Falle einer Erfüllung soll sich Russland bekehren und Frieden einkehren.
Sagen wir mal, der Papst wäre überzeugt, die Marienweihe sei vollständig und richtig gewesen. Dann tritt er nicht wie bisher als politische Person und als geistliches Oberhaupt der katholischen Kirche auf. Dann kommt er im Auftrag der Mutter Gottes nach Russland. Papst Franziskus kommt dann mit der Macht Gottes.
Dieser Bischof von Rom gehört zu den Mächtigen dieser Welt und ihrem Spiel dazu.
Per Mariam ad Christum.