(Rom) Wird die Enzyklika Humanae vitae von Papst Paul VI. tatsächlich entsorgt? Ja, sagt der französische Professor der Philosophie Thibaud Collin. Den Grund dafür sieht er in der Ernennung seines Landsmanns Msgr. Philippe Bordeyne zum Rektor des Päpstlichen Theologischen Instituts Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften.
Die Enzyklika Humanae vitae wurde von Paul VI. im Jahr 1968 veröffentlicht, jenem Jahr, in dem die Studentenproteste tiefgreifende Umbrüche auslösten, darunter die Förderung der sexuellen Revolution. Die Enzyklika bekräftigte das moralische und naturrechtliche Nein zur Abtreibung und zur künstlichen Verhütung. Sie trat damit in offenen Konflikt mit der damals vorherrschenden Meinung. Damals wie heute waren es die Bischöfe des deutschen Sprachraums, die sich lautstark auflehnten und in öffentlichen und bis heute nicht revidierten Erklärungen sich gegen den Papst stellten.
Diese Auflehnung behindert seither die Verkündigung der kirchlichen Lehre in diesem Bereich. Die Bischöfe und Teile des Klerus unterminierten die kirchliche Autorität in Fragen der Moral. Sie stießen einen Zersetzungsprozeß an, der sich bis heute fortsetzt und immer neue Bereiche erfaßt.
2016 erteilte Papst Franziskus Kurienerzbischof Vincenzo Paglia den Auftrag zum Umbau jener beiden vatikanischen Institutionen, die von Papst Johannes Paul II. zur Verteidigung des Lebensrechts, der Ehe und der Familie errichtet worden waren. Dazu gehörte das 1981 vom polnischen Papst geschaffene Päpstliche Institut Johannes Paul II. für Studien zu Ehe und Familie, das 2017 im Zuge der Neuausrichtung in Päpstliches Theologisches Institut Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften umbenannt wurde. Das gewandelte Institut erhielt den neuen Auftrag, besondere Berücksichtigung dem „anthropologisch-kulturellen Wandel“ der Gesellschaft zu schenken. Seither warnen Beobachter vor einer absehbaren Entsorgung von Humanae vitae, wie die Bischofskonferenzen der Bundesrepublik Deutschland, Österreichs und der Schweiz bereits 1968 mit ihren Erklärungen von Königstein, Maria Trost und Solothurn angeregt hatten.
Sollte es tatsächlich zu einem verspäteten Sieg der drei Bischofskonferenzen kommen und die Kirche selbst bestätigen, daß in ihr „rückwärtsgewandte“ Kräfte richtige Entwicklungen nur sinnlos und zum Image-Schaden der Kirche verzögern? Implizit bedeutet diese Sicht, es stimme, was Kirchengegner schon viel länger behaupten, daß die Kirche die Menschen unnötig quäle und schädige.
Am 21. Februar wurde der französische Moraltheologe Philippe Bordeyne, bisher Rektor des Institut Catholique von Paris, zum neuen Rektor des Päpstlichen Theologischen Instituts Johannes Paul II. für Ehe- und Familienwissenschaften ernannt. Er löst den Fundamentaltheologen Pierangelo Sequeri ab, der von Franziskus im August 2016 zum ersten Rektor des umgebauten Instituts berufen wurde.
Unter der Federführung Paglias kam es im Juni 2018 zum selben Erdbeben, das der Kurienerzbischof zuvor bereits im Auftrag von Papst Franziskus an der Päpstlichen Akademie für das Leben ausgelöst hatte. Dort waren mit Anfang 2017 alle Akademiemitglieder entlassen worden, obwohl sie auf Lebenszeit ernannt waren. Im Sommer 2018 wurde bekanntgegeben, daß das nach Johannes Paul II. benannte Institut neue Statuten erhalten werde, weshalb der gesamte Lehrkörper vor die Tür gesetzt werde. Der entschlossene Protest aller Dozenten verzögerte die Umsetzung jedoch.
Am 23. Juli 2019 wurden aber zwei Professoren entlassen, darunter auch Sequeris Vorgänger als Rektor, Msgr. Livio Melina. Am nächsten Tag erfolgte die Entlassung von weiteren sieben Dozenten.
Benedikt XVI. brachte seine Mißbilligung zum Ausdruck, indem er Msgr. Melina am 1. August empfing, ihn segnete und sich mit ihm solidarisierte. Am nächsten Tag protestierten zahlreiche Wissenschaftler aus aller Welt, die am Handbuch über Sex, Liebe und Fruchtbarkeit, einem Projekt des Instituts, mitarbeiteten, gegen die Entlassung ihrer Kollegen.
Sequeri selbst blieb im Amt und verteidigte Humanae vitae im Sinne von Paul VI. – nun als letzter und einziger. Am 21. Februar ist auch „dieser letzte Damm gefallen“, so der Vatikanist Sandro Magister. Bordeyne „vertritt seit Jahren die Überwindung der Enzyklika und ein Überdenken der Familientheologie, die für ihn – und laut ihm auch für Papst Franziskus – ‚sich nicht auf das kleinbürgerliche Dreieck von Vater, Mutter und Kindern begrenzt‘, sondern ‚der Ort ist, an dem jedes Individuum als eine Person in Beziehung aufwächst‘, weshalb ‚die Verachtung davon verschiedener Familien auch bedeuten würde, diese Sozialisationsleistung zu verachten“. Diese Aussagen Bordeynes stammen aus einem Interview, das am 8. April 2016 von La Croix, der Tageszeitung der Französischen Bischofskonferenz, veröffentlicht wurde.
Thibaud Collin sieht in der Ernennung Bordeynes die „letzte Phase“, des von Msgr. Vincenzo Paglia und Papst Franziskus durchgeführten Umbaus dieser von Johannes Paul II. und Carlo Caffarra gegründeten Einrichtung. Die Ernennung „bestätigt, daß diese Neugründung eine echte Revolution ist“.
Die reiche Reflexion von Johannes Paul II. über den Leib, die Ehe und die Familie könne als Reaktion auf die gescheiterte Akzeptanz der Enzyklika von Paul VI. verstanden werden. Humanae vitae sei zwar weit davon entfernt, umfassend diesen Bereich zu behandeln, „kann aber als Prüfstein der gesamten kirchlichen Lehre über Sexualität und Ehe angesehen werden“.
„Die empfängnisverhütende Mentalität, der sich die Enzyklika widersetzt, ist tatsächlich objektiv die Voraussetzung, welche die soziale Legitimation der Abtreibung, der Fortpflanzungstechnologien und aller LGBTQ-Forderungen möglich macht.“
Durch den Umbau des Instituts, die Entlassung eines Gutteils des früheren Lehrkörpers und die Berufung von Theologen wie Maurizio Chiodi und Gilfredo Marengo stehe fest, so Collin, daß Humanae vitae nicht mehr als Maßstab dient. Die Enzyklika werde zwar als „prophetisch“ gelobt, aber zugleich verstärkt als „zu abstrakt“ und „zu theoretisch“ abgetan. Die Bezeichnung als „prophetisch“ diene nur dem Zweck, sie als Dekorationsgegenstand auf einem Sims abzustellen, für unantastbar, sprich unbrauchbar, zu erklären und verstauben zu lassen.
„Die Ernennung von Philippe Bordeyne bestätigt diesen Paradigmenwechsel“, so Collin.
Der Professor der Philosophie verweist auf einen Text[1] des Moraltheologen, den dieser zur Familiensynode 2014/2015 verfaßte und darin zwar auf Humanae vitae verweist, dann jedoch ein „aber“ folgen läßt. Der Graben zwischen „dem kirchlichen Lehramt und der Praxis der Gläubigen“ habe sich weiter vertieft, daraus würden sich zahlreiche Fragen ergeben. Zudem würden die Humanwissenschaften lehren, daß das Verhältnis zwischen Wunsch und Lust „komplex“ sei. Der langen Rede kurzer Sinn: Bordeyne stellt die Frage, ob es nicht klüger sei, die Entscheidung über die Geburtenregelung der „Weisheit der Paare“ zu überlassen. Das Ganze garnierte der Moraltheologe mit dem Hinweis, daß dadurch das Schwergewicht stärker auf die Bekämpfung der Versuchungen gelegt werden könnte wie Abtreibung, Scheidung und fehlende Offenheit für die Zeugung.
Den erwähnten Kausalzusammenhang zwischen Verhütungsmentalität und Abtreibung, Scheidung und Zeugungsverweigerung blendete Bordeyne aus, weshalb er folgerte:
„In dieser Perspektive könnte die Kirche eine Vielzahl von Wegen zulassen, um auf den allgemeinen Ruf zu reagieren, die Offenheit der Sexualität für die Transzendenz und das Geschenk des Lebens aufrechtzuerhalten.“
Thibaud Collin zieht aus der Betrachtung der Rezeption und der Entwicklung seit Veröffentlichung von Humanae vitae 1968 eine andere Schlußfolgerung:
„Der Kreis hat sich geschlossen: Der kirchliche Geist der siebziger Jahre hat Rom erobert! Warum aber hat sich der Graben so vertieft, wenn nicht deshalb, weil der Großteil der Hirten diese gute Nachricht über die Geburtenregelung, die als unerträgliche Belastung gesehen wurde, nicht annehmen wollten und sie nie wirklich an jene weitergegeben haben, die ihnen anvertraut wurden?“
Und weiter:
„Die Realität ist, daß die meisten von ihnen [den Gläubigen] keine Ahnung von der Lehre der Kirche zu diesem Thema haben, außer durch die dominierenden Medien. Da die Weitergabe nicht durchgeführt wurde, ist es nicht überraschend, daß keine Annahme stattgefunden hat.“
Heute hätten daher jene leichtes Spiel, die nun in einem nächsten Schritt behaupten, weil die Enzyklika nicht angenommen wurde, müsse sie durch die Humanwissenschaften und die „Weisheit der Paare“ gesiebt werden. Diese Argumentation ziele darauf ab, die Enzyklika still und leise zu entsorgen.
„Die Geburtenregelung zum Gegenstand einer Option zu machen zeigt, daß das Sakrament der Ehe nicht mehr als auf die Heiligkeit ausgerichtet wahrgenommen wird, zu der alle Getauften berufen sind.“
Es sei offensichtlich, so Collin, wie solche Behauptungen das Lehramt ernsthaft relativieren und Paare guten Willens irreführen. Diesen werde eingeredet, daß die in Humanae vitae gebotene Norm nicht der Weg zum Glück, sondern ein geradezu unmenschliches Ideal sei. Die Entsorgung der Enzyklika diene damit implizit der Verwirklichung des wahren menschlichen Wohls.
Collin zerpflückt daher die von Bordeyne geprägte Formulierung von einer „Humanisierung der Technik durch die Liebe“. Sie sei entlarvend „aufschlußreich, wenn die Einführung der Technik erst das sich selbst Verschenken verdunkelt und aus der Vereinigung der Körper eine Art Lüge macht, die nicht mehr objektiv die Gemeinschaft der Eheleute bedeutet.“
„Der Höhepunkt der Verwirrung wird erreicht, wenn gesagt wird, diese Humanisierung der Technik solle in den Dienst einer menschlichen Ökologie gestellt werden.“
Dem stelle sich entgegen, was Humanae vitae lehrt und von Johannes Paul II. vertieft wurde. „Nur die Tugend der Keuschheit, die eng mit dem Wohl der ehelichen Gemeinschaft und der Quelle vorübergehender Enthaltsamkeit verbunden ist, aber nicht darauf reduziert wird, kann in der Einheit der Person in Leib und Seele die Wahrheit der Liebe schützen. Nur die Keuschheit erhebt das Sexualleben der Ehepartner auf die Höhe des Wertes der Person und vermeidet es, sie allein auf ihre sexuellen Werte zu reduzieren. Im Bereich der Liebe kann und wird die Technik die Tugend niemals ersetzen können.“
Erst recht sei es atemberaubend, so Collin, wenn Bordeyne denkt, daß die Verhütung eine Art Schutzwall gegen die Abtreibung sein könnte. Alle Studien belegen das Gegenteil: Die sich breitmachende Verhütungsmentalität ermutigt die Abtreibung, ohne in Rechnung zu stellen, daß viele Verhütungspillen heute auch abtreibende Wirkung haben.“
Thibaud Collin resümiert:
„Kurz gesagt, die Ernennung einer Person wie Philippe Bordeyne zum Manager bestätigt, daß das Institut Johannes Paul II., das massiv Studenten verliert, aus intellektuellen Gründen seinen Namen ändern sollte. Man könnte es zum Beispiel in Institut Amoris laetitia umbenennen.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
[1] Synode sur la vocation et la mission de la famille dans l’Eglise et monde contemporain. 26 théologiens répondent, Bayard, 2015, S. 197f.
Die Bischöfe aus DACH, welche dur unselige Erklärung abgegeben haben und ihre Nachfolger im Geiste haben einfach Realitäten ignoriert. Da im Prinzip alle hormonellen und intrauterinen Verhütungsmittel in unterschiedlichem Ausmass aber grundsätzlich immer auch eine abtreibende Wirkung haben, exkommuniziert sich die Nutzerin selbst. Ob direkt mit der Bereitschaft, dieses Mittel zu verwenden oder erst wenn es tatsächlich unbenerkt zur ersten Frühabtreibung kommt, kann ich als Nichttheologin nicht beurteilen. Jedenfalls exkommunizieren sich die Nutzerinnen. Und Priester werden im Stich gelassen, wie im Ehevorbereitungskursen damit umgegangen werden soll. Das Lehramt vermitteln? Oder die unzulässige Erklärung von Königstein? Am Ende haben die Bischöfe nicht einmal differenziert zwischen dem Kondom (aus moralischen Gründen abzulehnen, erkennt es der Gläubige als Stunde, kann er zur Beichte gehen) oder Pille (abtreibende Wirkung, Exkommunikation kann nur unter bestimmten Voraussetzungen wieder aufgehoben werden). Stillschweigend, folgt man der Erklärung der Bischöfe, wäre ein Kondom, Pessar, erlaubt. Ihrer Logik nach. Abtreibende Mittel aber nicht. Aber unter Verhütungsmittel verstand man 1968 vor allem die Pille. Warum haben sie Bischöfe nicht darauf hingewiesen, dass die (von ihnen zu Unrecht erteilte) Erlaubnis eben gerade für die Pille nicht gilt?