Im Zuge der im Frühjahr 2015 veröffentlichten Serie Der Jesuit auf dem Papstthron – von zwei Katastrophen in einer Person war ein Epilog geplant und wurde auch angekündigt. Ein oder zwei Leser äußerten darüber hinaus einen diesbezüglichen Wunsch. Dieser Epilog sollte die Frage behandeln, ob der seit 1965 in aller Öffentlichkeit vor sich gehende religiöse und moralische Verfall des Jesuitenordens, der von einem massiven Schwund an Mitgliedern begleitet wird, in dessen Grundlagen angelegt sei, ob es sich also um eine mehr oder weniger zwangsläufige „Entwicklung“ handle. Gelegentlich wird das ja behauptet. Man sagt etwa, es gebe im Orden Geheimlehren oder Geheimanweisungen, die nur wenigen bekannt seien und die gegen den katholischen Glauben und die Gebote gerichtet seien, oder der Orden sei schon im Anfangsstadium unterwandert worden (etwa von jüdischen Scheinkonvertiten, conversos).
Da Papst Franziskus aus dem Jesuitenorden stammt und seit nunmehr etwa acht Jahren als Verwirrer und Zerstörer wirkt, bekommt die Frage nach einem allfälligen Konstruktionsfehler der Gesellschaft Jesu naturgemäß mehr Gewicht.
Mit einer Verzögerung von sechs Jahren – die werten Leser mögen darob Nachsicht walten lassen – soll diese Frage nun in einem dreiteiligen Essay schlaglichtartig behandelt werden. Es handelt sich um keine erschöpfende Abhandlung, sondern nur um die Darlegung von Grundgedanken. In diesem ersten Teil geht es um eine kurze Bestandsaufnahme, die beiden folgenden Teile sollen zwei Punkte aus dem Exerzitienbuch behandeln, die aus dem Gesamtzusammenhang gerissen zu problematischen Entwicklungen führen können. Am Schluß soll das übliche Resümee stehen.
Dekadenz ist keine „Entwicklung“
Um die Antwort vorwegzunehmen: Der Verfall ist, was er ist, nämlich ein Verfall, und daher keine Entfaltung von Anlage und Auftrag, mithin keine „Entwicklung“ im Sinne des Wortes.
Ignatius von Loyola (1491–1556) war Katholik und gründete eine katholische Ordensgemeinschaft mit Approbation der Kirche (Papst Paul III., 1540). Diese sprach ihn heilig (1622) und empfahl die Geistlichen Übungen gemäß dem Exerzitienbuch. Noch zu Lebzeiten des Gründers begann sich der Orden in viele Länder auszubreiten und brachte eine beispiellose Erneuerung des kirchlichen Lebens hervor. Unzählige Missionen, Schulen und Kollegien wurden gegründet, die theologischen und säkularen Wissenschaften bereichert und segensreiche Entscheidungen in Kirche und Politik durch kluge Beratung vorbereitet. Ganz offenkundig segnete Gott den guten Willen und die Opfer, den Schweiß der Missionare und das Blut der Märtyrer der jungen Gesellschaft Jesu in überreichem Maß. Die Kirche bestätigte das durch zahlreiche Heilig- und Seligsprechungen.
Von daher wäre es unsinnig zu sagen, daß die „Entwicklung“ einer fruchtbaren Gemeinschaft dazu führen sollte, daß diese Gemeinschaft weniger gute Frucht bringen sollte. Eine legitime „Entwicklung“ einer katholischen Gemeinschaft kann auch nicht dazu führen, daß diese Gemeinschaft weniger oder nicht mehr katholisch sein sollte.
Aber genau diese Abkehr vom katholischen Glauben wurde vom Jesuitenorden tragischerweise vollzogen. Sie steht vor aller Augen.
Der neue Kurs wurde von oben befohlen, nämlich von der 31. Generalkongregation (1965/66) und dem von ihr gewählten Generaloberen P. Pedro Arrupe. Er wurde autoritär gegen den Willen vieler Ordensmitglieder durchgesetzt. Jesuiten, die am überlieferten Glauben und der überlieferten Theologie festhielten, wurden gemaßregelt oder mit Publikationsverbot belegt.
Prominente Namen stehen für diese Abkehr vom überlieferten Glauben:
Der religiöse und theologische Niedergang wird etwa durch die Namen Pierre Teilhard de Chardin, Karl Rahner, John Courtney Murray1, Henri de Lubac und Anthony de Mello2 illustriert.
Sinnbildlich für den moralischen Verfall der Gesellschaft Jesu ist die penetrante und von den Oberen nicht unterbundene Agitation des US-Jesuiten James Martin für die kirchliche und zivile Akzeptanz einer derjenigen Sünden, die um Vergeltung zum Himmel schreien. P. Martin ging neuerdings so weit, eine blasphemische Verhöhnung der Ikone Unserer Lieben Frau von Tschenstochau zustimmend zu verbreiten.
Der personelle Niedergang, also der Verlust von mehr als der Hälfte aller Mitglieder von 1965 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, illustriert den Verfall an Bindekraft und Motivation. Viele wollten nicht mehr mitmachen bei einem Lebensstil, der hohe Opfer erfordert, diese Opfer aber nicht mehr begründen kann. Wenn nämlich durch den Orden selbst in Zweifel gezogen wird, daß der Glaube der Kirche heilsnotwendig ist, ist das Leben als Katholik und besonders als Ordensmann und Missionar sinnlos. Berücksichtigen muß man aber auch, daß Jesuiten, die den Orden verließen, Priester blieben. Schließlich müssen Entlassungen durch den Orden selbst erwähnt werden.3
Infiltration, Verwirrung, Apostasie
Der Niedergang ist ein Phänomen einer allgemeinen Apostasie innerhalb der Kirche, die mit der Infiltration der kirchlichen Strukturen durch die feindliche Kraft (inimica vis nach Papst Leo XIII., „teuflischer intelligence service“ nach Brunero Gherardini) ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts zu tun hat.
Das II. Vaticanum mit allen seinen Intrigen und Geschäftsordnungsverstößen, mit seinem suggestiven Medienrummel, seiner Anbiederung an die Welt und seinen schlechten Dokumenten offenbarte die zum damaligen Zeitpunkt schon länger wirkende Verrottung in Hierarchie und Klerus, und eben auch in den Orden und da wiederum in der Gesellschaft Jesu, die als Muster und Modell für die nicht-klösterlichen Orden diente:
Nach Auskunft von Mark Fellows, Fatima in Twilight, erachtete es Papst Pius XII. bereits im Jahr 1946 für notwendig, die Jesuiten zu ermahnen, beim überlieferten Glauben zu bleiben. 1950 verurteilte Papst Pius in der Enzyklika Humani Generis die Nouvelle théologie, von der Henri de Lubac SJ ein wichtiger Repräsentant war. Diese Verurteilung kam zu spät, blieb zu unkonkret, nannte keine Namen, war zu halbherzig und entfaltete daher längerfristig keine Wirkung. De Lubac wurde im Jahr 1983 von Johannes Paul II. sogar zum Kardinal kreiert. (Allerdings scheint er nach dem Konzil einige Positionen revidiert zu haben. Aber das wäre ein eigenes Thema.)
Auch die Maßnahmen gegen Pierre Teilhard de Chardin und dessen Science-Fiction-Theologie4 wirken halbherzig (posthumes Monitum des Heiligen Offiziums 1962).
Diese Vorgänge zeigen, daß schon einige Jahre vor dem Amtsantritt von Pedro Arrupe als Generaloberer im Jahr 1965 untergründige Strömungen der Häresie und der Auflösung wirkten. Arrupe übernahm die Führung von über 36.000 Mitbrüdern (als historischer Höchststand werden 36.038 angegeben). Als 1981 P. Arrupe durch eine Gehirnblutung amtsunfähig wurde, hatten viele Jesuiten den Orden verlassen.5 Die inhaltliche Ausrichtung entfernte sich von den eigenen Grundlagen. Man wandte sich in manischer Fehleinschätzung der Situation optimistisch der Welt zu, dem Kommunismus und der Befreiungstheologie, der Zen-Meditation und dem interreligiösen Wahn, der Gruppendynamik und sonstigen Spielarten „moderner“ Psychologie.
Aber eben: War diese Entwicklung im Gründungscharisma angelegt?
Das war sie nicht.
Da es in diesem Rahmen weder möglich noch zweckmäßig ist, alle Gründungsdokumente der Gesellschaft Jesu und die sonstigen Dokumente des hl. Ignatius und der ersten Gefährten zu analysieren, konzentrieren wir uns nur auf zwei Paragraphen des Ignatianischen Exerzitienbuches, des vermutlich wichtigsten und geschichtsmächtigsten Textes des Heiligen. Diese beiden Punkte sind ein möglicher, aber nicht zwangsläufiger Ausgangspunkt für Fehlentwicklungen.
Es handelt sich um diese beiden:
Das Exerzitienbuch: zwei mögliche Ausgangspunkte für Fehlentwicklungen
Der erste Paragraph, der thematisiert werden soll, ist eine Anweisung zum wohlwollenden Anhören des Nächsten und zum „Retten“ seiner Aussagen. In den letzten Jahrzehnten, wenigstens scheint es diesem Betrachter so, wurde diese Regel abseits des katholischen Gesamtzusammenhangs und in modifizierter Lesart von Kirchenleuten, auch von Jesuiten, zur Grundregel jeglichen „Dialogs“ und jeglicher „Begegnung“ erhoben. Damit wurde de facto die Wachsamkeit gegenüber übelwollenden Spracheinsatzes wie Lüge, Propaganda und Sophisterei eingeschränkt.
Der zweite Paragraph, dem wir uns im dritten Teil widmen, ist die dreizehnte Regel zum „Fühlen mit der Kirche“. Man kann konstatieren, daß diese Anweisung des hl. Ignatius zu Übertreibungen führen kann.
Der zweite Teil folgt in Kürze.
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro Lifer
Bild: Wikicommons/MiL
1 P. Murrays Wirken ist geradezu ein Musterbeispiel für den Einfluß reicher und mächtiger Kreise auf eine Kirche, die von ihren Glaubensgrundsätzen abrückt und sich der Welt „öffnet“. In diesem Fall (da es um den „Amerikanismus“ und das Verhältnis von Staat und Kirche ging) waren es amerikanische protestantische Oligarchen, die im Auftrag der CIA Murray vor ihren Karren spannten. Die theologischen Gegner des staatsnahen Jesuiten waren der Redemptoristenpater Francis Jeremiah Connell und der Weltpriester Msgr. Joseph Clifford Fenton. Diese verteidigten die Rechte der Kirche gegenüber dem Staat. Siehe dazu die hochinteressante, akribisch recherchierte Studie von David Wemhoff, John Courtney Murray, Time/Life and the American Proposition – How the CIA’s Doctrinal Warfare Program Changed the Catholic Church.
2 Anthony de Mello hielt sich für einen Schöpfer tiefsinniger Weisheitsliteratur. Seine zahlreichen Bücher wurden in vielen Sprachen verbreitet. Aber mit diesen lächerlichen, dem Verstand spottenden interreligiösen Geschichtchen schadete er dem Glauben vieler Katholiken. (Der Glaubenskongregation fiel das dann offenbar erst elf Jahre nach seinem Tod auf. Die betreffende Notifikation konzediert im ersten Absatz zu allem Überfluß auch noch positive Elemente in de Mellos Werk.)
3 Auf der offiziellen Seite der Jesuiten heißt es (per 11.02.2021) lapidar und leider nicht ganz aufrichtig:
Since 1814, the Society has experienced growth and has since then surpassed the apostolic breadth of the early Society in its educational, intellectual, pastoral and missionary endeavours.
The 16,000-plus Jesuits worldwide come from 112 countries and belong to approximately 80 provinces and regions, but the order has a universal character that transcends these boundaries.
Bzw. gemäß:
Since its foundation the Order has grown from the original ten to more than 16,000 Jesuits worldwide.
Beide Zitate legen – mit Ausnahme der Zeit der Aufhebung von 1773 bis 1814, die auch erwähnt wird – mehr oder weniger deutlich ein kontinuierliches Wachstum nahe. Der historische Höchststand findet sich dort nicht.
Die Netzseite der österreichischen Jesuiten gibt per 01.03.2021 übrigens nur 14.839 Mitglieder weltweit an. Dort findet sich auch ein Hinweis auf den historischen Höchststand von [rund] „36.000“, den sie genau 1965 erreichte, als P. Pedro Arrupe zum Generaloberen der Gesellschaft Jesu gewählt wurde.
4 Zu diesem Ausdruck vgl.: „Peter Medawar, the Nobel Prize winning biologist, published an uncharitable review that is now legendary for its harshness, calling Teilhard’s book ‚philosophy-fiction‘.[4] The great medievalist, Étienne Gilson, was more gentlemanly; he avoided ad hominem attacks, but he neatly balanced Medawar’s language by speaking of Teilhard’s work as ‚theology-fiction‘.“ Zit. nach: Vgl. auch die vernichtende Kritik durch den katholischen Philosophen Dietrich von Hildebrand in Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, zit. hier.
5 Nach Malachi Martin, The Jesuits, waren es per 1981 nur mehr etwa 27.000, das bedeutet einen Schwund von etwa 9.000 in einem Zeitraum von sechzehn Jahren. Die Austritte setzten gemäß Malachi Martin schnell nach dem Amtsantritt von P. Arrupe ein.
Der Jesuitenorden hat „genau“ 1965, 430 Jahre nach der Gründung, seinen Höchststand erreicht… und wählt P. Arrupe zum Generaloberen und hat sich in 50 Jahren halbiert. Was für eine Ironie des Schicksals. Eitelkeit kommt vor dem Fall. Die Ordensoberen haben gedacht, sie können nun, stärker denn je, den großen, finalen Coup landen und sich alles erlauben. Das Gegenteil ist eingetreten, aber sie geben es nicht zu. So wenig wie die Konzilskirche nicht zugibt, dass das Konzil keine Früchte getragen hat. Ich kenne junge Jesuiten, die von Arrupe schwärmen, weil es ihnen ordensintern so verklärend beigebracht wird. Besserung ist also nicht in Sicht. Wer schafft Abhilfe? Der erste Jesuit auf dem Papststuhl jedenfalls nicht.
Die nackten Zahlen zeigen den Verfall in aller Deutlichkeit:
1965/1966/1967 verließ ca. ein Drittel der Jesuiten den Orden.
Die Noviziate leerten sich über Nacht fast komplett.
Der Orden wurde im Westen in seinen Fundamenten total erschüttert.
Ganz bekannt damals die Schweizer Niederlassung, die, um näher bei Rom und beim Papst zu sein, kurzerhand nach Rom übersiedelte, wo der damalige noch junge und sehr dynamische Pater Provinzial mit drei ebenso dynamischen jungen Damen in einem Appartement wohnte…
Erst nach vielem Bitten, Flehen, Sprechen, Beraten usw. wurde nach vielen Monaten dieses römisch-exilschweizerische Intermezzo beendet.
„Der Jesuitenorden ist an der Zukunft interessiert“ und studiert/beschreibt natürlich nicht solche Geschichten. Damnatio memoriae (die damaligen Kumpane sind alle spurlos verschwunden).
Besonders gravierend war damals der plötzliche Wegfall faktisch des gesamten Nachwuchses.
55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils sind die Kommunitäten in Westeuropa enorm überaltert, sterben jährlich viele Jesuiten und werden kaum welche neu aufgenommen.
In der Nordbelgischen Provinz wurden allein 1961 36 Jesuiten geweiht – 2000 bis 2010 nur 1 (einer).
Das ist eine Reduktion um 97,2%.
Ganz verschwunden ist das Institut der Jesuitenbrüder (schon so festgestellt vom Pater General Adolfo Nicolas).
Die Häuser werden geschlossen, zu Alten- und Pflegeheimen umgewandelt, die Provinzen werden in schnellem Tempo zu immer größeren Einheiten verschmolzen, die Bibliotheken aufgegeben, die Schulen abgegeben.
Kurzum: der Jesuitenorden verdampft rasant.
Im jetzigen Tempo ist er in 20 Jahren nur mehr Geschichte.
Mit 1850 verbinde ich die Entstehung von Sozialismus und Nationalismus. Das ist eine Fundsache, die ich nie gesucht hatte.
Ebenso ist mir die Euphorie aufgefallen, die sich nach der Ankündigung des Konzils breit machte. Das lag sicher nicht an der Liturgischen Bewegung allein. Waren da schon gewisse Wünsche, genauer, Forderungen im Denken vorhanden?
Warum konnte sich der „Geist des Konzils“ so brachial durchsetzen? Sahen manche das Konzil als Vollendung von 1517?