
Von P. Paolo M. Siano*
Vor ungefähr 20 Jahren beschäftigte ich mich mit dem Konzept der „christlichen Esoterik, insbesondere der katholischen“ (vgl. Christianità , März–April 2000, S. 17–20), das mich von Anfang an sehr irritierte. Dann, vor einigen Jahren, erfuhr ich von einer katholischen Gruppe, die sich des kirchlichen Schutzes auf bischöflicher Ebene (und noch höher) erfreut und behauptet, Esoterik, Magie, Satanismus und irregeleitete Freimaurerei zu bekämpfen. In den Schriften einiger ihrer führenden Vertreter stieß ich jedoch auf Sympathie für: Esoterik, Alchemie, Hermetik, René Guénon, Julius Evola, die Suche nach kosmischen und tellurischen Energien in mittelalterlichen Kirchen … Später kontaktierten mich einige Mitglieder und bestätigten im Wesentlichen, was ich entdeckt hatte.
An dieser Stelle erscheint es angemessen, einige Denker von dem, was wir als christliche oder katholische Esoterik bezeichnen können, d. h. eine kulturelle Strömung, die in einigen katholischen Kreisen gepflegt wird und sich als innere und persönliche Vertiefung des katholischen Glaubens sowie als Mittel zur Bekehrung für Esoteriker und Freimaurer darstellt, etwas näher zu betrachten. Trotz der angeblich guten Absichten enthüllt eine eingehende Untersuchung zu diesem Thema zumindest mehrdeutige und wenig empfehlenswerte Elemente und Aspekte. Hier nun der erste Teil meiner Forschung.
Antoine Faivre ist ein Gelehrter der Esoterik, Direktor von CESNUR-Frankreich und Meister der freimaurerischen Grande Loge Nationale Française – GLNF (über die GLNF siehe hier) und der deutschen Loge Quatuor Coronati von Bayreuth der Vereinigten Großlogen von Deutschland – VGLvD. Die GLNF selbst enthüllt, daß Faivre Freimaurer ist. 1992 veröffentlichte Faivre das Buch L’Ésotérisme (Presses Universitaires de France, Paris; dt. Ausgaben: Esoterik, Aurum, Braunschweig 1996, und Esoterik im Überblick – Geheime Geschichte des abendländischen Denkens, Herder, Freiburg im Breisgau 2001; hier zitiert nach der italienischen Ausgabe: L’esoterismo. Storia e significati, Sugarco, Mailand 1992), die in der italienischen Ausgabe ein Vorwort von Massimo Introvigne enthält (S. 7–10). Faivre gilt als „der größte lebende Historiker der westlichen Esoterik“ (S. 9), ist „katholisch“ (S. 9) und „macht kein Hehl aus seiner Vorliebe für das Werk von Valentin Tomberg“ (S. 9f), einem baltendeutschen Esoteriker (1900–1973), der nach dem Zweiten Weltkrieg zum katholischen Glauben konvertierte. Faivre „leistete einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung von Tombergs Werk“ (S. 10), in dem er „den Höhepunkt eines möglichen Dialogs zwischen Esoterik und Katholizität“ sieht (S. 10). Introvigne zufolge haben sowohl Faivre als auch der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar in Tombergs Werk Aspekte festgestellt, die mit der katholischen Lehre unvereinbar sind (S. 10). Dennoch loben beide, wie wir gleich sehen werden, dieses Werk.

So schreibt Faivre in seinem Buch L’Ésotérisme über das von Tomberg anonym veröffentlichte Werk Méditations sur les 22 Arcanes majeurs des Tarots (in französischer Sprache verfaßt und am 21. Mai 1967 fertiggestellt, dann 1972 in deutscher Sprache und später auch in anderen Sprachen veröffentlicht):
„Es gibt vielleicht keine bessere Einführung in die christliche Theosophie, in den Okkultismus, in jedwede Reflexion über die Esoterik als dieses meisterhafte Werk, das nicht von einem Historiker, sondern von einem inspirierten Theosophen stammt und – was selten ist – von einem, der aufmerksam die Geschichte respektiert“ (S. 137).
Bevor wir auf Tombergs Arbeit eingehen, ist es gut, darauf hinzuweisen, daß der Freimaurer Faivre die Esoterik als eine Strömung des westlichen Denkens mit mindestens sechs intrinsischen Elementen darstellt, von denen ich mich darauf beschränke, nur drei zu erwähnen (vgl. S. 25–32):
- Die Korrespondenztheorie, z. B. das alchemistisch-hermetische Motto der Tabula Smaragdina: „Das, was unten ist, ist wie das, was oben ist, und das, was oben ist, ist wie das, was unten ist, ein ewig dauerndes Wunder des Einen“, die in der sichtbaren Natur (z. B. zwischen den Planeten und dem menschlichen Körper, eine Lehre, die Grundlage der Astrologie ist) und in der unsichtbaren Natur existiere (zwischen der natürlichen Welt und der himmlischen und überirdischen Welt).
- Die Theorie der lebendigen Natur, die zu erkennen und konkret zu manipulieren sei (das magische Grundprinzip).
- Das (typisch alchemistische) Konzept der Transmutation (Verwandlung) des Adepten, d. h. seine Metamorphose, der Übergang von einer Ebene zur anderen, weshalb die Esoterik – wie Faivre präzisiert – keineswegs eine rein spekulative Form der Spiritualität ist.
Bereits anhand dieser Notizen frage ich mich, wie der katholische Glaube und die Esoterik miteinander vereinbar sein sollen.
Fahren wir fort. Ich habe die italienische Ausgabe von Tombergs Werk in zwei Bänden konsultiert: Meditazioni sui Tarocchi. I 22 Arcani Maggiori rivelati alla luce dell’Ermetismo Cristiano da un autore che ha voluto conservare l’anonimato, 2 Bd., Estrella de Oriente, Villazzano – Trento [1. Bd.: 1999; 2. Bd.: 2007 (2001)]; dt. Erstausgabe: Anonymus d’Outre Tombe: Meditationen über die Großen Arcana des Taro. 22 Briefe an den unbekannten Freund, übersetzt von Gertrud von Hippel, herausgegeben von Ernst von Hippel (heute vergriffene, aber von Tomberg noch selbst korrigierte Ausgabe), Verlag Anton Hain, 1972. Der erste Band enthält das Vorwort von Hans Urs von Balthasar (S. 11–18), der zwar erkennt, daß Tomberg sich in verschiedenen Punkten von der „christlichen Weisheit“ entfernt, ihn jedoch als „christlichen Denker und Mystiker“ bezeichnet, „dessen Reinheit zur Bewunderung zwingt“, und der uns die „christliche Hermetik“ vorstellt (S. 11). Laut dem Schweizer Theologen ermöglicht Tombergs Werk, obwohl es aus der Kabbala, aus Magie und Okkultismus schöpft, zu einer „facettenreichen, aber in ihren Grundlagen einheitlichen christlichen Kontemplation“ zu gelangen (S. 13), und es enthält eine „fast überwältigende Fülle von authentischen und tiefgreifenden Lichtern“ (S. 18).

Aus katholischer, intellektueller und pastoraler Sicht halte ich die große Begeisterung für Tombergs Werk, der eine unauflösliche Verflechtung zwischen Mystik, Gnosis, Magie und Hermetik theoretisiert (Bd. I, S. 21f, 72), für gefährlich. Tomberg lobt die „heilige Magie“, die seiner Meinung nach keine Hexerei ist (I, S. 85f) und sogar böse Geister befreien und erlösen könne. Diese heilige Magie mache den Teufel zum „willigen Diener“ oder „Freund“ des Menschen (I, S. 96f). Laut Tomberg sind die Menschen die „Enkel“, ja noch mehr die „Kinder“ der Schlange der Genesis, denn ihr (der Schlange der Genesis!) sei es zu verdanken, daß wir das „am weitesten entwickelte Gehirn“ haben (I, S. 319f)!
Tomberg schlägt eine esoterische Mariologie vor, wenn er schreibt, daß die Jungfrau „das Prinzip der heiligen Magie“ sei (I, S. 368), das von Protestanten, französischen Revolutionären und Kommunisten vergessen worden sei (I, S. 370). Nach Tomberg ist der Hermetismus (gnostische und magische Philosophie, die dem Hermes Trismegistos zugeschrieben wird) traditionalistisch und anti-aufklärerisch (I, S. 371). Tomberg glaubt, daß Yoga-Techniken eine große Hilfe für die christliche spirituelle Praxis sein können (I, S. 377–379).
Es bestürzt auch, daß der zweite Band von Tombergs Werk eine lobende „Einführung“ (II, S. 7–11) des katholischen Philosophen Robert Spaemann (1927–2018) enthält, laut dem Tomberg allen Esoterikern zeigen will, daß die Kirche ihre wahre „geistige Heimat“ ist (II, S. 9f). Ich muß wiederholen, daß die Esoterik Tombergs nicht katholisch ist, sondern eine esoterische coincidentia oder coniunctio oppositorum darstellt: Kirche und Gnosis/Magie! Tomberg sagt zum Beispiel, daß der heilige Franz von Assisi „der erste Eingeweihte der Tradition des christlichen Hermetismus“ gewesen sei und definiert ihn als „Stern erster Größe am Himmel der Mystik, Gnosis und Magie!“ (II, S. 149). Darüber hinaus sieht Tomberg in der Frau der Geheimen Offenbarung 12,1 die Lichtjungfrau der Gnosis, die von Salomo besungene Weisheit, die Schekina der jüdischen Kabbala und „die Mutter, die Jungfrau, die Himmelskönigin Maria“ des christlichen Hermetismus (II, S. 300). Tomberg ist kein Katholik, auch dann nicht, wenn er sagt, daß die Gottesmutter „ewige Mutter von allem ist, was lebt und atmet“ (II, S. 304).
Als letzten Pinselstrich auf diesem Bild der Esoterik oder christlichen Hermetik macht Tomberg deutlich, daß mit dem Jüngsten Gericht die Erlösung aller stattfinden werde, auch des Teufels. Das Weltgericht werde eine kosmische, universelle Absolution sein. Tomberg (der ausdrücklich Origenes zitiert) gibt zu verstehen, daß es keine Reuelosen geben wird, daß jeder die Möglichkeit zu Reue und Lossprechung haben werde, alle, auch Verdammte und Teufel (II, S. 345f). Laut Tomberg wird Gott, Christus der Richter, im Jüngsten Gericht niemanden anklagen, niemanden verurteilen und keine Strafen verhängen (II, S. 345f). Es ist bemerkenswert festzustellen, daß diese origenistische Barmherzigkeit sogar in klerikalen Kreisen anzutreffen ist. Ein Zeichen für die Infiltration durch die „katholische“ Esoterik?
*Pater Paolo Maria Siano gehört dem Orden der Franziskaner der Immakulata (FFI) an; der promovierte Kirchenhistoriker gilt als einer der besten katholischen Kenner der Freimaurerei, der er mehrere Standardwerke und zahlreiche Aufsätze gewidmet hat. Von Katholisches.info bisher veröffentlicht:
- Deismus, Esoterik und Gnosis in den freimaurerischen Konstitutionen von 1723
- Spuren von Esoterik und Gnosis in der Freimaurerei vor 1717
- „Luzifer“ für Österreichs Freimaurer
- Das Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff 33. und Oskar Posner und der Dialog zwischen Kirche und Freimaurerei 1974–1980
- Die freimaurerische Doktorarbeit von Msgr. Weninger
- Bruder.·. Peter Stiegnitz von der Großloge von Österreich (1936–2017)
- Der „Fall Weninger“ – Ex-Diplomat, Priester, Kurialer, Freimaurer
Die Freimaurerei erklärt von einem Großmeister - Den Anklopfenden erwarten beim Freimaurerbund Initiation und Gnosis
- Baron Yves Marsaudon – Ein Hochgradfreimaurer im Malteserorden
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- „Katholik, der Loge beitritt, ist exkommuniziert“ – Kirchenhistoriker Paolo M. Siano über Kirche und Freimaurerei
- Kurze Antwort an einen Großmeister der Freimaurerei
- War Karl Rahner Freimaurer?
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana/hiram.be/Wikicommons (Screenshot)