Roberto de Mattei über: Das Ende des Rechts

Löst sich in der Kirche das Legalitätsprinzip auf?


Warum werden nach den Enthüllungen von Erzbischof Viganò keine Ermittlungen gegen den neuen Substituten des Kardinalstaatssekretärs eingeleitet?
Warum werden nach den Enthüllungen von Erzbischof Viganò keine Ermittlungen gegen den neuen Substituten des Kardinalstaatssekretärs eingeleitet?

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Soll­te Papst Fran­zis­kus von irgend­ei­nem Rich­ter irgend­wo auf der Welt eines Ver­bre­chens ange­klagt wer­den, müß­te er sich sei­ner Wür­de als Ober­haupt der katho­li­schen Kir­che ent­blö­ßen und dem Urteil eines Gerichts unter­wer­fen. Das ist die logi­sche und not­wen­di­ge Kon­se­quenz der auf­se­hen­er­re­gen­den Ent­schei­dung, mit der der Hei­li­ge Stuhl dem Apo­sto­li­schen Nun­ti­us in Frank­reich, Msgr. Lui­gi Ven­tura, der sexu­el­ler Belä­sti­gun­gen beschul­digt wird, die diplo­ma­ti­sche Immu­ni­tät ent­zo­gen hat. 

Der Hei­li­ge Stuhl hät­te den Nun­ti­us sei­nes Amtes ent­he­ben und – in Erwar­tung, daß die fran­zö­si­sche Justiz ihren Lauf nimmt – eine kano­ni­sche Unter­su­chung gegen ihn, aber auch für ihn ein­lei­ten kön­nen, um sei­ne Rech­te zu garan­tie­ren. Die Ent­schei­dung, den päpst­li­chen Reprä­sen­tan­ten einem welt­li­chen Gericht aus­zu­lie­fern, sprengt das Rechts­in­sti­tut der diplo­ma­ti­schen Immu­ni­tät in die Luft, die Aus­druck par excel­lence der Sou­ve­rä­ni­tät der Kir­che und ihrer Frei­heit und Unab­hän­gig­keit ist. Es geht um die­sel­be diplo­ma­ti­sche Immu­ni­tät, um es noch deut­li­cher zu sagen, auf die man sich beru­fen hat, um Kar­di­nal Kon­rad Kra­jew­ski, den Almo­se­ni­er von Papst Fran­zis­kus vor einer Straf­ver­fol­gung in Ita­li­en wegen der von ihm began­ge­nen Straf­ta­ten zu schützen.

Instrumentalisierter Gebrauch des Kirchenrechts 

Was hier geschieht, fügt sich in das Bild einer besorg­nis­er­re­gen­den Auf­lö­sung rechts­staat­li­cher Prin­zi­pi­en inner­halb der Kir­che. Das Recht ist mit­we­sent­lich für die Kir­che, die eine cha­ris­ma­ti­sche Dimen­si­on und eine recht­li­che Dimen­si­on hat, die untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den sind wie See­le und Kör­per. Die recht­li­che Dimen­si­on der Kir­che ist jedoch auf ihr über­na­tür­li­ches Ziel aus­ge­rich­tet und steht im Dienst der Wahr­heit. Wenn die Kir­che ihren über­na­tür­li­chen Zweck aus dem Auge ver­liert, wird sie zu einer Macht­struk­tur und die Gewalt der kirch­li­chen Funk­ti­on über­wiegt gegen­über dem, was wahr und rich­tig ist. Die­ses „funk­tio­na­li­sti­sche“ Ver­ständ­nis der Kir­che wur­de von Kar­di­nal Ger­hard Mül­ler jüngst in einem Inter­view von Edward Pen­tin im Natio­nal Catho­lic Repor­ter beklagt. Kar­di­nal Mül­ler erklär­te, daß mit der soge­nann­te Kuri­en­re­form, wie sie seit Mona­ten dis­ku­tiert wird, die Gefahr besteht, die Römi­sche Kurie in eine Insti­tu­ti­on zu ver­wan­deln, in der die gan­ze Macht im Staats­se­kre­ta­ri­at kon­zen­triert ist und das Kar­di­nals­kol­le­gi­um und die zustän­di­gen Kon­gre­ga­tio­nen ent­mach­tet werden: 

„Sie sind dabei, die Insti­tu­ti­on der Kurie in eine rei­ne Büro­kra­tie umzu­wan­deln im Sin­ne des blo­ßen Funk­tio­na­lis­mus und nicht einer kirch­li­chen Institution.“

Ein Aus­druck die­ses Funk­tio­na­lis­mus ist der instru­men­ta­li­sier­te Gebrauch des Kir­chen­rechts, um reli­giö­se Orden und ein­zel­ne Prie­ster mit Sank­tio­nen zu bele­gen, die nicht bereit sind, sich dem neu­en Para­dig­ma von Papst Fran­zis­kus anzupassen. 

Im Fall der reli­giö­sen Gemein­schaf­ten erfolgt der repres­si­ve Ein­griff im all­ge­mei­nen, indem sie einer kom­mis­sa­ri­schen Ver­wal­tung unter­stellt wer­den, auf die ein Dekret zur Auf­lö­sung oder des völ­li­gen Umbaus des Insti­tuts folgt, ohne daß eine ange­mes­se­ne Begrün­dung genannt wird und meist in „for­ma spe­ci­fi­ca“, also mit päpst­li­cher Appro­ba­ti­on und somit ohne Rekurs­mög­lich­keit. Die­se Vor­ge­hens­wei­se, die immer öfter zur Anwen­dung kommt, trägt sicher nicht dazu bei, die Gemü­ter einer kirch­li­chen Situa­ti­on zu beru­hi­gen, die von star­ken Span­nun­gen erschüt­tert ist. Selbst wenn man davon aus­geht, daß es in eini­gen Ordens­ge­mein­schaf­ten mensch­li­che Män­gel gibt: Wäre es nicht bes­ser, sie zu kor­ri­gie­ren, anstatt sie zu zer­stö­ren? Was wird aus jun­gen Prie­stern und Semi­na­ri­sten, die sich dafür ent­schie­den haben, ihr Leben der Kir­che zu wid­men, denen aber das Cha­ris­ma, an dem sie sich ori­en­tie­ren, ent­zo­gen wird? Wel­che Barm­her­zig­keit wird ihnen gegen­über geübt?

Der Fall der Fran­zis­ka­ner der Imma­ku­la­ta macht lei­der in die­sem Sin­ne Schule.

Was die ein­zel­nen Prie­ster angeht, ent­spricht die Auf­lö­sung dem Aus­schluß aus dem Rechts­sta­tus des Kle­ri­kers, also die soge­nann­te Lai­sie­rung. Der Kle­ri­ker­stand, der sich auf den Rechts­sta­tus bezieht, ist nicht mit dem Wei­he­sa­kra­ment zu ver­wech­seln, das den sakra­men­ta­len Sta­tus anzeigt und der See­le des Prie­sters einen unaus­lösch­li­chen Cha­rak­ter einprägt. 

Der Ver­lust des Kle­ri­ker­sta­tus ist eine pro­ble­ma­ti­sche Maß­nah­me, vor allem was die Bischö­fe betrifft, die Nach­fol­ger der Apo­stel sind. Vie­le Bischö­fe sind im Lau­fe der Geschich­te in schwe­re Sün­den, Schis­men und Häre­si­en gefal­len. Die Kir­che hat sie oft exkom­mu­ni­ziert, aber nie in den Lai­en­stand zurück­ver­setzt, weil ihre Bischofs­wei­he unaus­lösch­lich ist. Heu­te hin­ge­gen wird die Lai­sie­rung mit gro­ßer Leich­tig­keit voll­zo­gen und oft nicht nach einem Gerichts­ver­fah­ren, son­dern durch Anwen­dung eines Ver­wal­tungs­ver­fah­rens, das 1983 in den neu­en Codex des Kir­chen­rechts ein­ge­führt wur­de. Im Ver­wal­tungs­ver­fah­ren gibt es kei­nen Instan­zen­weg. Es gibt nur einen Ent­schei­dungs­grad, der Ermes­senspiel­raum der Rich­ter ist sehr weit­rei­chend, und der Ange­klag­te, dem manch­mal nicht ein­mal ein Rechts­bei­stand zuge­stan­den wird, ist der Rech­te beraubt, die ihm ein ordent­li­ches Gerichts­ver­fah­ren garan­tiert. Der Prä­fekt der zustän­di­gen Kon­gre­ga­ti­on hat zudem die Mög­lich­keit, zum Bei­spiel bei der Auf­he­bung einer Ordens­ge­mein­schaft, um die päpst­li­che Appro­ba­ti­on in for­ma spe­ci­fi­ca anzu­su­chen, die den Betrof­fe­nen jede Mög­lich­keit nimmt, den Rechts­weg zu beschrei­ten und Ein­spruch dage­gen einzulegen.

Bedenkliche Praxis des kurzen Prozesses

Die Fol­ge ist eine Pra­xis des kur­zen Pro­zes­ses aus­ge­rech­net durch jene Insti­tu­ti­on, die sich in der Geschich­te am mei­sten um Rechts­ga­ran­tien ver­dient gemacht hat. Es wer­den die Wor­te von Pius XII. ver­ges­sen, die er an die Juri­sten richtete: 

„Die Funk­ti­on des Rechts, sei­ne Wür­de und das für den Men­schen natür­li­che Gefühl der Gerech­tig­keit erfor­dern, daß die Straf­maß­nah­men von Anfang bis Ende nicht auf Will­kür und Lei­den­schaft grün­den, son­dern auf kla­ren und festen Rechts­nor­men [… ]. Wenn es nicht mög­lich ist, eine Schuld mit mora­li­scher Gewiß­heit fest­zu­stel­len, muß der Grund­satz zur Anwen­dung kom­men: ‚In dubio stan­dum est pro reo‘“ (Rede vom 3. Okto­ber 1953 an die Teil­neh­mer der Inter­na­tio­na­len Tagung über das Straf­recht, in AAS 45 (1953), S. 735–737).

Im Unter­schied zur Exkom­mu­ni­ka­ti­on, die auf die Idee abso­lu­ter Wahr­hei­ten ver­weist, die der Kir­che anver­traut sind, wird die Zurück­ver­set­zung in den Lai­en­stand von der Welt leich­ter ver­stan­den, die die Kir­che als ein Unter­neh­men sieht, das sei­ne Ange­stell­ten auch ohne berech­tig­ten Grund „ent­las­sen“ kann. Die­ses funk­tio­na­li­sti­sche Ver­ständ­nis der Auto­ri­tät macht die Buß­di­men­si­on der Kir­che zunich­te. Indem sie den Schul­di­gen Gebet und Buße auf­er­legt, zeigt die Kir­che, daß ihr vor allem ihre See­len am Her­zen lie­gen. Um der Welt zu gefal­len, die nach exem­pla­ri­schen Stra­fen ver­langt, ist man an den See­len der Schul­di­gen des­in­ter­es­siert, die nach Hau­se geschickt wer­den, ohne daß die Kir­che sich wei­ter um sie kümmert. 

Der wirkliche Grund für den moralischen Kollaps der Kirche

In einem am 11. April 2019 vom Cor­rie­re del­la Sera ver­brei­te­ten Auf­satz hat Bene­dikt XVI. den Grund für den mora­li­schen Kol­laps der Kir­che dem „Garan­tis­mus“ zuge­schrie­ben, einer über­zo­ge­nen Ver­tei­di­gung der bür­ger­li­chen Rech­te und Garan­tien. Für die Zeit nach 1968 schreibt er:

„Dazu kam aber ein grund­sätz­li­ches Pro­blem in der Auf­fas­sung des Straf­rechts. Als ‚kon­zi­li­ar‘ galt nur noch der soge­nann­te Garan­tis­mus. Das heißt, es muß­ten vor allen Din­gen die Rech­te der Ange­klag­ten garan­tiert wer­den und dies bis zu einem Punkt hin, der fak­tisch über­haupt eine Ver­ur­tei­lung aus­schloß. Als Gegen­ge­wicht gegen die häu­fig unge­nü­gen­de Ver­tei­di­gungs­mög­lich­keit von ange­klag­ten Theo­lo­gen wur­de nun deren Recht auf Ver­tei­di­gung im Sinn des Garan­tis­mus so weit aus­ge­dehnt, daß Ver­ur­tei­lun­gen kaum noch mög­lich waren.“

Das Pro­blem war in Wirk­lich­keit aber nicht ein Über­maß an Rechts­ga­ran­tien für die Ange­klag­ten, son­dern eine über­zo­ge­ne Tole­ranz gegen­über ihren Ver­bre­chen. Eini­ge von ihnen wie die Homo­se­xua­li­tät wur­den seit den Jah­ren des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil, das der 68er-Revo­lu­ti­on vor­aus­ging, nicht mehr als sol­ches betrach­tet. In den Jah­ren des Kon­zils und der Nach­kon­zils­zeit drang in die katho­li­schen Semi­na­ri­en, Kol­le­gi­en und Uni­ver­si­tä­ten eine rela­ti­vi­sti­sche Kul­tur ein, in der die Homo­se­xua­li­tät als mora­lisch irrele­vant betrach­tet und anstands­los tole­riert wur­de. Bene­dikt XVI., der „Noll­to­le­ranz“ gegen die Pädo­phi­lie for­der­te, hat nie eine „Noll­to­le­ranz“ gegen die Homo­se­xua­li­tät gefor­dert und sich damit – wie auch sein Nach­fol­ger – den Geset­zen der Welt gebeugt.

Wovor hat die Kirche Angst?

In den ver­gan­ge­nen Wochen wur­den von Erz­bi­schof Car­lo Maria Viganò schwer­wie­gen­de Ver­bre­chen gegen die Moral ent­hüllt, die von Erz­bi­schof Edgar Peña Par­ra began­gen wur­den, den Papst Fran­zis­kus zum Sub­sti­tu­ten des Kar­di­nal­staats­se­kre­tärs gemacht hat. War­um haben die kirch­li­chen Auto­ri­tä­ten, die seit Jah­ren von die­sen Anschul­di­gun­gen unter­rich­tet waren, nie Unter­su­chun­gen ein­ge­lei­tet, so wie sie auch nie Ermitt­lun­gen zu den Ver­bre­chen auf­ge­nom­men haben, die im Prä­se­mi­nar Pio X began­gen wur­den, das die Mini­stran­ten für die päpst­li­chen Zere­mo­nien im Peters­dom aus­bil­det? Die Auto­ri­tä­ten haben die Pflicht eine Unter­su­chung ein­zu­lei­ten, eine unver­zicht­ba­re Pflicht, nach­dem die Wor­te des muti­gen Erz­bi­schofs in der gan­zen Welt zu hören waren.

Noch eine ande­re Fra­ge ver­langt nach einer Ant­wort: Kar­di­nal Geor­ge Pell ist seit ver­gan­ge­nem März in einem Hoch­si­cher­heits­ge­fäng­nis in Mel­bourne iso­liert, wo er auf das Beru­fungs­ur­teil war­tet, nach­dem er in erster Instanz ver­ur­teilt wur­de. War­um berau­ben ihn die kirch­li­chen Auto­ri­tä­ten eines kano­ni­schen Pro­zes­ses, der sei­ne Schuld oder Unschuld nicht vor der Welt, son­dern vor der Kir­che fest­stellt? Es ist ein Skan­dal, daß Kar­di­nal Pell im Gefäng­nis sitzt und die Kir­che schweigt, indem sie das Urteil der Welt abwar­tet und sich wei­gert, ein eige­nes Urteil zu fäl­len, das mög­li­cher­wei­se im Wider­spruch zu dem der Welt sein könnte.

Wovor hat die Kir­che Angst? Ist Jesus nicht gekom­men, um die Welt zu besie­gen? Das Recht, das ein Instru­ment der Wahr­heit sein soll­te, ist zu einem Instru­ment der Macht jener gewor­den, die heu­te die Kir­che regieren. 

Eine Kir­che, in der sich das Lega­li­täts­prin­zip auf­löst, ist eine Kir­che ohne Wahr­heit, und eine Kir­che ohne Wahr­heit hört auf, Kir­che zu sein.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017.

Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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