Die NATO und die „strategische Autonomie Europas“

Die EU-Wahlen


Die NATO und was auch das Ergebnis der EU-Wahlen nicht ändern wird
Die NATO und was auch das Ergebnis der EU-Wahlen nicht ändern wird

Das The­ma sprengt etwas den Rah­men von Katho​li​sches​.info, soll jedoch wegen sei­ner Bedeu­tung zur Ein­ord­nung und dem bes­se­ren Ver­ständ­nis aktu­el­ler Ereig­nis­se bei­tra­gen. Hier die Mei­nung von Andre­as Becker, der den Lesern noch bekannt sein dürf­te. Wir freu­en uns, daß er nach einer län­ge­ren Pau­se wie­der zu uns gesto­ßen ist:

Die „strategische Autonomie Europas“ in der NATO

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Von Andre­as Becker

In der EU – nicht in Euro­pa – herrscht Wahl­kampf. Am Sonn­tag wird in den 27 Mit­glieds­staa­ten das neue EU-Par­la­ment gewählt. Da hört man aller­lei selt­sa­me Din­ge, denn was tun Poli­ti­ker nicht alles, um gewählt zu wer­den, und erst recht die Mäch­ti­gen, um an der Macht zu blei­ben. Aus deren Rei­hen ist gera­de ver­stärkt von einer „stra­te­gi­schen Auto­no­mie Euro­pas in der NATO“ die Rede. Macron sagt es, von der Ley­en sagt es, und wo die­se Rich­tung nicht regiert, wie in Ita­li­en, sagen es deren Oppo­si­ti­ons­füh­rer, unter ande­rem Elly Sch­lein, die über­for­der­te Vor­sit­zen­de der ita­lie­ni­schen Links­de­mo­kra­ten (PD). Sch­lein träumt gera­de in Anleh­nung an den Wahl­sieg der glo­ba­li­stisch ver­netz­ten Links­na­tio­na­li­stin Clau­dia Shein­baum in Mexi­ko – nach dem Mot­to: links, woke und (nicht prak­ti­zie­rend) jüdisch – von ihrem eige­nen Auf­stieg zu den Schalt­he­beln der Macht. Doch Unsinn bleibt den­noch Unsinn.

Rol­len wir die Fra­ge nach der NATO und der euro­päi­schen Sicher­heits­kon­stel­la­ti­on aus der Per­spek­ti­ve von Elly Sch­lein auf, da die­se nörd­lich der Alpen weni­ger bekannt ist als ihre Genos­sen Macron und von der Ley­en. In ihrer „treff­si­che­ren“ Aus­drucks­wei­se hat die lin­ke ita­lie­ni­sche Oppo­si­ti­ons­füh­re­rin übri­gens eine ver­blüf­fen­de Über­ein­stim­mung mit Anna­le­na Baer­bock von den Grü­nen. Aus­sa­gen wie „Wir lie­ben hei­ßes Eis am Stiel“, oder „Ich möch­te der beste Tor­hü­ter der A‑Liga wer­den und auch der beste Tor­schüt­ze“, oder „Er hat­te ein ruhi­ges Leben vol­ler Pro­ble­me“, haben schon fast, wenn auch wenig schmei­chel­haf­ten Kult­sta­tus. Kei­ne die­ser wider­sprüch­li­chen und unsin­ni­gen Phra­sen über­trifft jedoch die jüng­ste Erklä­rung aus der Pre­mi­um­klas­se für hoch­mü­ti­gen Schwach­sinn: „Wir wol­len die stra­te­gi­sche Auto­no­mie der Euro­päi­schen Uni­on in der NATO“.

In einem Wahl­kampf, und noch dazu in der Oppo­si­ti­on zur aktu­el­len Regie­rung der treu­en Atlan­ti­ke­rin Gior­gia Melo­ni, scheint es in unse­rer par­la­men­ta­risch-reprä­sen­ta­ti­ven Par­tei­en­herr­schaft nor­mal gewor­den, Dem­ago­gie zu betrei­ben und unmög­li­che Din­ge zu for­dern, wie etwa die Erhö­hung der öffent­li­chen Gesund­heits­aus­ga­ben per Gesetz auf 7,5 Pro­zent des BIP. Das ent­spricht dem Aus­ga­ben­ni­veau in den Staa­ten des deut­schen Sprach­raums, wo es unter dem Coro­na-Vor­wand hin­auf­ge­schraubt, aber wenig nach­hal­tig ein­ge­setzt wur­de. Der Groß­teil der Mehr­aus­ga­ben floß in sinn­lo­se Ad-hoc-Maß­nah­men ohne nach­hal­ti­ge Wir­kung. Eini­ge haben damit aller­dings ein Bom­ben­ge­schäft gemacht, nicht aber die All­ge­mein­heit. Woher aber die Mil­li­ar­den für die Erhö­hung in Ita­li­en kom­men sol­len, schert Sch­lein offen­bar nicht. Sch­lein redet, dar­auf ange­spro­chen, von „mehr Res­sour­cen“, die durch ein „Wirt­schafts­wachs­tum“ zur Ver­fü­gung stün­den, doch nie­mand weiß, wo die­ses Wachs­tum gera­de steckt und ob und wann es ein­tre­ten wird. Also bleibt nur der Rück­griff auf das ewig glei­che Mit­tel, die „Bekämp­fung der Steu­er­hin­ter­zie­hung“, was kon­kret eine immer stren­ge­re und repres­si­ve­re Über­wa­chung des Zah­lungs­ver­kehrs und der Geld­mit­tel jener bedeu­tet, die ihre Steu­ern ohne­hin bezah­len, und die Anzap­fung der EU, sprich eine EU-inter­ne Umver­tei­lung, das Lieb­lings­in­stru­ment lin­ker Welt­ver­bes­se­rung. Damit wirk­lich­keits­frem­de Poli­ti­ker wie Elly Sch­lein immer genug Geld für zwei­fel­haf­te Pro­jek­te ver­tei­len können.

Der Zweck der NATO

Die stra­te­gi­sche Auto­no­mie der EU in der NATO ist so ein unrea­li­sti­sches „Pro­jekt“. Ein Mili­tär­bünd­nis zwi­schen Staa­ten beruht auf einer stra­te­gi­schen Opti­on. Blei­ben wir beim Bei­spiel Ita­li­en, das sich auch für den deut­schen Sprach­raum gut eig­net, da man sich meist in den­sel­ben Bünd­nis­sen wie­der­fand. Die Schweiz hielt sich klu­ger­wei­se bis­her davon fern, wenn­gleich die der­zei­ti­ge Staats­füh­rung gefähr­lich ver­sucht scheint, in das „west­li­che Lager“ zu wech­seln. Noch gibt es jedoch Gegen­kräf­te: So ver­hin­der­te der Stän­de­rat, die zwei­te Kam­mer des eid­ge­nös­si­schen Par­la­ments, soeben eine wenig neu­tra­le Mil­li­ar­den­hil­fe für die Ukrai­ne. In Öster­reich hin­dern nur noch for­ma­le Bar­rie­ren vor der Auf­ga­be der Neu­tra­li­tät. Dabei ste­hen die poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger in bei­den Fäl­len, sowohl in Öster­reich wie in der Schweiz, gegen den erklär­ten Mehr­heits­wil­len des Vol­kes. Doch wen scheint es zu küm­mern. Das poli­ti­sche System wirkt abfe­dernd und schützt die System­par­tei­en vor zu mas­si­ven Reak­tio­nen, sprich, tat­säch­li­chen Richtungswechseln.

Wer­fen wir einen Blick auf die Bünd­nis­ge­schich­te der ver­gan­ge­nen 150 Jahre:

  • Die Ver­trä­ge des Drei­bun­des zwi­schen dem Deut­schen Reich, dem König­reich Ita­li­en und der Dop­pel­mon­ar­chie Öster­reich-Ungarn (1882 unter­zeich­net und alle fünf Jah­re erneu­ert, zuletzt 1912) ziel­ten dar­auf ab, Frank­reich ein­zu­he­gen, um es wegen des Ver­lusts der von Deut­schen bewohn­ten links­rhei­ni­schen Län­der Elsaß und Deutsch-Loth­rin­gen (Metz war aller­dings fran­zö­sisch) von einem Rache­feld­zug abzu­hal­ten. Ita­li­en wech­sel­te dann aller­dings 1915 die Sei­ten, da die West­al­li­ier­ten Eng­land und Frank­reich im Ersten Welt­krieg grö­ße­re Beu­te versprachen.
  • Der Drei­mäch­te­pakt zwi­schen dem natio­nal­so­zia­li­sti­schen Deut­schen Reich, dem faschi­sti­schen Ita­li­en und dem kai­ser­li­chen Japan vom Sep­tem­ber 1940 streb­te nicht, wie oft behaup­tet, die „Welt­herr­schaft“ an, son­dern war ein Pro­dukt des bereits aus­ge­bro­che­nen Welt­krie­ges, um die jewei­li­gen Ein­fluß­sphä­ren der drei Mäch­te in Euro­pa und in Fern­ost fest­zu­le­gen. Die drei Mäch­te unter­la­gen im Krieg und die Sie­ger­mäch­te taten ihrer­seits das, was sie selbst nicht mehr tun konn­ten, indem sie Ein­fluß­sphä­ren fest­leg­ten und Euro­pa und Tei­le Asi­ens unter sich aufteilten.
  • Schließ­lich die NATO: Sie wur­de 1949 von den USA gegrün­det, um die sowje­ti­sche Bedro­hung in der US-Ein­fluß­sphä­re West­eu­ro­pa einzudämmen.

Dabei waren es die USA, die der Sowjet­uni­on gegen Hit­ler das Über­le­ben gesi­chert hat­ten. Die Sowjet­uni­on stell­te im Gegen­zug Mil­lio­nen von Sol­da­ten, die auch für die Inter­es­sen der USA an der Front kämpf­ten. Das nennt sich Stell­ver­tre­ter­krieg, wor­in es die USA zur Mei­ster­schaft gebracht haben. Dahin­ter stand die Ziel­set­zung Washing­tons, sowohl den Natio­nal­so­zia­lis­mus als auch den Kom­mu­nis­mus bekämp­fen zu wol­len, aber nur nach­ein­an­der han­deln zu kön­nen, um die eige­nen Kräf­te nicht zu über­for­dern. Die Fra­ge war also, mit wel­chem Geg­ner man sich zuerst ver­bün­det, um mit des­sen Hil­fe den ande­ren Geg­ner zu besie­gen, um dann im näch­sten Schritt den bis­her ver­bün­de­ten Geg­ner zu erle­di­gen. Die­se wenig mora­li­sche, aber stra­te­gi­sche Denk­wei­se war auf allen drei damals betei­lig­ten Sei­ten vor­han­den, auch in Mos­kau und in Berlin.

Trotz der Auf­lö­sung der Sowjet­uni­on und des War­schau­er Pakts im Jahr 1991 besteht die NATO heu­te als poli­tisch-mili­tä­ri­sches Bünd­nis fort, das dar­auf abzielt, den Ein­fluß­be­reich Ruß­lands in Euro­pa abzu­bau­en und mög­li­che Gegen­maß­nah­men zu kon­tern. Die erste Pha­se fand zwi­schen 1994 (Beschluß zur NATO-Ost­erwei­te­rung um mit­tel-ost­eu­ro­päi­sche Län­der, die zuvor dem War­schau­er Pakt ange­hört hat­ten) und 2020 (Bei­tritt Nord­ma­ze­do­ni­ens) statt, die zwei­te seit 2014 (Beginn der rus­si­schen Mili­tär­ope­ra­tio­nen im Don­baß und Beset­zung der Krim) und heu­te (rus­si­scher Ein­marsch in der Ukrai­ne). Die Fra­ge, inwie­fern und wie weit die NATO an der Eska­la­ti­on, die zur zwei­ten Pha­se führ­te, betei­ligt war, soll an die­ser Stel­le aus­ge­klam­mert wer­den. Auch das höchst unge­schick­te Ver­hal­ten, mit dem in der Ukrai­ne das west­li­che Abschreckungs­po­ten­ti­al ver­spielt wird und schließ­lich auch die von eini­gen über­eif­ri­gen NATO-Krei­sen betrie­be­ne und wenig ver­ant­wor­tungs­vol­le Kriegstreiberei.

Papst Fran­zis­kus sprach vom „zu lau­ten Bel­len“ der NATO vor der rus­si­schen Haustür. 

Es darf Putin geglaubt wer­den, wenn er gegen­über Tucker Carl­son davon sprach, in der Früh­pha­se sei­ner Prä­si­dent­schaft gegen­über zwei US-Prä­si­den­ten Ruß­lands Inter­es­se an einer NATO-Mit­glied­schaft bekun­det zu haben. Die Grün­de, war­um Washing­ton einen so epo­cha­len Schritt ablehn­te, lie­gen auf der Hand: Die US-Hege­mo­nie über die NATO wäre mit einem Mit­glied Ruß­land und der damit ver­bun­de­nen Stär­kung Euro­pas nur mehr schwer auf­recht­zu­er­hal­ten gewe­sen. Wer gibt schon gern ein Macht­in­stru­ment aus der Hand. Die Fol­gen für die US-Wirt­schaft und den Dol­lar als Welt­leit­wäh­rung wären nicht absehbar.

Wesent­lich an der NATO seit ihrer Grün­dung ist, daß die betei­lig­ten Staa­ten zumin­dest for­mell (letz­te­res gilt der­zeit für Ungarn und die Slo­wa­kei) die stra­te­gi­schen Zie­le (der USA) und deren Vor­rang vor ande­ren teilen.

Der Mehrheitsaktionär der NATO

Die USA sind der Grün­der und der unum­strit­te­ne Mehr­heits­eig­ner der NATO. Wür­de einer der 31 wei­te­ren NATO-Mit­glieds­staa­ten sei­ne „stra­te­gi­sche Auto­no­mie“ bean­spru­chen, d. h. die Frei­heit, sei­ne eige­nen stra­te­gi­schen Prio­ri­tä­ten gegen US-Inter­es­sen zu defi­nie­ren, wür­de er damit ein Span­nungs­ver­hält­nis zur NATO als Gan­zes schaf­fen. Dies gilt erst recht, wenn die EU dies tun wür­de. Davon haben man­che über­zeug­te Euro­pä­er wie Otto von Habs­burg geträumt, indem sie eine bevor­zug­te Part­ner­schaft mit den USA bei­be­hal­ten, aber die EU zu einem eigen­stän­di­gen Akteur neben den USA machen woll­ten, auch mili­tä­risch. Nichts der­glei­chen ließ sich ver­wirk­li­chen, und das hat mit dem Mehr­heits­eig­ner zu tun, der dies bis­her zu ver­hin­dern wußte.

Die USA sind nicht nur die Paten, son­dern mit 68 Pro­zent aller Mili­tär­aus­ga­ben des Bünd­nis­ses auch der Haupt­zah­ler. Sie sind also Haupt­an­teils­eig­ner und Haupt­ent­schei­dungs­trä­ger der stra­te­gi­schen Ent­schei­dun­gen der NATO. Die Mit­glied­schaft der ande­ren Staa­ten war, wie bei allen Bünd­nis­sen die­ser Art, nur bedingt eine freie Ent­schei­dung. Von den ein­sti­gen west­li­chen Ver­bün­de­ten in Euro­pa wur­de sie als sicher­heits­po­li­ti­sche Not­wen­dig­keit erkannt, wäh­rend die besieg­ten Staa­ten, Deutsch­land und Ita­li­en, kei­ne wirk­li­che Wahl­mög­lich­keit hatten.

Die stra­te­gi­sche Aus­rich­tung der NATO ent­spricht also seit 1949 ganz offen­sicht­lich den Inter­es­sen der USA.

Die USA kön­nen übri­gens ein Ungarn oder eine Slo­wa­kei tole­rie­ren, die von der US-Linie abwei­chen, zwei rela­tiv klei­ne Staa­ten, um ihr Ter­ri­to­ri­um nicht zu ver­lie­ren und vor allem, um zu ver­hin­dern, daß sie viel­leicht „die Sei­te wech­seln“. Sie wer­den aber kein Ita­li­en und erst recht kei­ne Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land tole­rie­ren, die von der offi­zi­el­len stra­te­gi­schen Linie abwei­chen. Bei­de Län­der wur­den von den USA besiegt und mili­tä­risch besetzt. In der all­ge­mein gebräuch­li­chen freund­li­che­ren Fas­sung heißt es, die­se Län­der wur­den von den USA „befreit“, um dar­in Regie­run­gen zu instal­lie­ren, die es genau so sehen, bei denen also eine glei­che Sicht­wei­se herrscht (den Vor­rang der USA nicht in Fra­ge zu stel­len). Und es gab gute Grün­de für die genann­ten Län­der, dies nach dem Krieg so zu sehen und danach zu handeln.

Völ­lig aus­ge­klam­mert blei­ben bei die­sem Hol­ly­wood-Blick auf die Geschich­te die immer als wesent­lich wich­ti­ger (als die ideo­lo­gi­schen Gegen­sät­ze) erach­te­ten Wirt­schafts­in­ter­es­sen, die das Deut­sche Reich durch sei­nen Aus­stieg aus dem Welt­han­dels­sy­stem zu einem Alter­na­tiv­mo­dell für ande­re Staa­ten mach­te und damit nicht nur zum öko­no­mi­schen Kon­kur­ren­ten, son­dern indi­rekt auch zu einer Bedro­hung der US-Inter­es­sen in Latein­ame­ri­ka, das von den USA seit dem 19. Jahr­hun­dert als „Haus­ko­lo­nie“ betrach­tet wird. Und wo man damals, da devi­sen­schwach, einen Aus­weg aus der erdrücken­den Umklam­me­rung durch den „Gro­ßen Bru­der“ such­te. Die­ses Kon­flikt­po­ten­ti­al, für das die USA bereit waren, Krieg zu füh­ren, bestand, und das ist wesent­lich, unab­hän­gig vom Natio­nal­so­zia­lis­mus auch dann, wenn die­ser Weg von einer ande­ren Reichs­re­gie­rung gegan­gen wor­den wäre.

In die­sem Kon­text ist auch die völ­lig künst­li­che, aber viel­schich­ti­ge Krah-Affä­re zu sehen, obwohl sie mit dem tra­di­tio­na­li­sti­schen Katho­li­ken Krah und sei­ner gegen­über einer ita­lie­ni­schen Zei­tung getä­tig­ten Äuße­rung herz­lich wenig zu tun hat. Es geht dar­um, die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein­ge­hegt zu hal­ten und die AfD in das trans­at­lan­ti­sche Boot zu zwin­gen oder sie wei­ter aus­zu­gren­zen (und bei Wah­len mög­lichst niederzuhalten).

Ent­schei­dend für das heu­ti­ge Ver­ständ­nis ist jedoch, daß die USA ein Aus­sche­ren der EU als sol­cher schon gar nicht dul­den wür­den. Im Klar­text: Es ist undenk­bar, daß die USA eine EU tole­rie­ren wer­den, die in einer für die US-Füh­rung wich­ti­gen außen­po­li­ti­schen Fra­ge (Ukrai­ne, Isra­el, Chi­na) die NATO-Linie im Namen einer eige­nen „stra­te­gi­schen Auto­no­mie“ ver­las­sen würde.

Die Präzedenzfälle Macron, Michel, Von der Leyen

Es war nicht Sch­lein, die den Begriff von der „stra­te­gi­schen Auto­no­mie Euro­pas“ (gemeint ist natür­lich die EU) ins Spiel brach­te: Emma­nu­el Macron, Ursu­la von der Ley­en und Charles Michel haben ihn in den ver­gan­ge­nen Jah­ren schon in den Mund genom­men. Jeder von ihnen aus sei­nem Blick­win­kel: Michel ist Bel­gi­er, und klei­ne Län­der wie Bel­gi­en sehen die EU als Mul­ti­pli­ka­tor ihrer Bedeu­tung auf der inter­na­tio­na­len Büh­ne, sodaß jeder Slo­gan, der nach einer Beto­nung des EU-Pro­jekts klingt, egal wie rea­li­täts­fremd er ist, es ver­dient, geför­dert zu wer­den. Von der Ley­ens BRD hat unter der Kanz­ler­schaft von Schrö­der, aber auch Mer­kel eini­ge Jah­re ver­sucht, die Opti­on einer euro­päi­schen stra­te­gi­schen Auto­no­mie als Schutz­schild zu benut­zen, um beson­de­re Bezie­hun­gen zu Ruß­land (bil­li­ge Ener­gie­quel­len) und zur Volks­re­pu­blik Chi­na (bil­li­ge Waren und Finanz­strö­me) zu schüt­zen. Seit die US-Wirt­schaft schwä­chelt, wird dem kon­se­quent ein Ende gesetzt. Der Leicht­fuß Macron ver­wen­det den Begriff nicht nur auf­fal­lend locker, son­dern auch unge­dul­dig. Er hat mit erheb­li­chen innen­po­li­ti­schen Pro­ble­men zu kämp­fen und benützt das außen­po­li­ti­sche Par­kett, um davon abzu­len­ken. Vor allem aber steht hin­ter ihm die fran­zö­si­sche Rüstungs­in­du­strie, die in einer „stra­te­gi­schen Auto­no­mie Euro­pas“ den Tür­öff­ner sieht, um in der EU eine hege­mo­nia­le Stel­lung zu errin­gen. Der Kom­men­tar der Finan­cial Times nach Macrons Rede an der Sor­bon­ne am 25. April bringt es zum Ausdruck:

„Ins­ge­samt hat Macron den Ein­druck nicht zer­streut, daß sei­ne Initia­ti­ven in erster Linie dar­auf abzie­len, die mili­tä­risch-indu­stri­el­len Inter­es­sen Frank­reichs zu stär­ken und den schwin­den­den Ein­fluß einer zer­fal­len­den Mit­tel­macht zu untermauern.“

Die gegensätzlichen Interessen der europäischen Staaten

Die­se Anmer­kung läßt ein wei­te­res wesent­li­ches und unlös­ba­res Pro­blem erken­nen: Die „stra­te­gi­sche Auto­no­mie“ der EU impli­ziert, daß es ein star­kes gemein­sa­mes stra­te­gi­sches Inter­es­se aller 27 EU-Mit­glieds­staa­ten gibt. Auch das ist weit von der Rea­li­tät ent­fernt. Oft hört man: „In einer Welt der Gro­ßen, Chi­na, USA, Ruß­land, kön­nen die ein­zel­nen euro­päi­schen Län­der nicht kon­kur­rie­ren; sie müs­sen sich zusam­men­schlie­ßen.“ Die­ser Dis­kurs hat zwar etwas mit neu­en Macht­am­bi­tio­nen zu tun und auch dem Wunsch nach mehr Eigen­stän­dig­keit, aber noch wenig mit einem gemein­sa­men stra­te­gi­schen Interesse.

Was es hin­ge­gen gibt, sind gegen­sätz­li­che Inter­es­sen. Man erin­ne­re sich an die Hal­tung Frank­reichs in Liby­en und in der Sahel­zo­ne, um Ita­li­en und die Tür­kei zu schwä­chen, die als Riva­len um die Vor­herr­schaft im Mit­tel­meer­raum gel­ten. Paris hat des­halb lan­ge Zeit Haft­ar und die Kräf­te in Ben­ga­si gegen die Regie­rung in Tri­po­lis unter­stützt, die schließ­lich von allen EU-Län­dern und der inter­na­tio­na­len Staa­ten­ge­mein­schaft aner­kannt wurde.

In der Sahel­zo­ne haben die Fran­zo­sen wie­der­holt eine Betei­li­gung der EU oder ein­zel­ner EU-Mit­glied­staa­ten an ihren Mili­tär­ope­ra­tio­nen gefor­dert. Als Vor­wand zur Durch­set­zung der fran­zö­si­schen Inter­es­sen in sei­nen ehe­ma­li­gen Kolo­nien dien­te der Kampf gegen den Dschi­ha­dis­mus und die Sta­bi­li­sie­rung ört­li­cher Regie­run­gen. Die zu lei­sten­de Hil­fe soll­te jedoch immer nur als Ergän­zung der fran­zö­si­schen Armee erfol­gen, kurz­um Hilfs­trup­pen für Frank­reichs Inter­es­sen, über die Paris mit Argus­au­gen wach­te. Frank­reich sieht die Auf­recht­erhal­tung sei­nes Ein­flus­ses in der Sahel­zo­ne als Bedin­gung, um sei­ne Stel­lung als Mit­tel­macht zu behaup­ten. Heu­te, da der rus­si­sche Ein­fluß in der Zone immer stär­ker wird, bejam­mert Paris sei­ne began­ge­nen Fehler.

Und wenn die NATO scheitern sollte?

Die NATO wird, ob man das in Euro­pa will oder nicht, der stra­te­gi­sche Bezugs­rah­men für die EU-Län­der blei­ben, solan­ge die USA die Kraft haben, ihr hege­mo­nia­les Spiel auf der Welt­büh­ne zu spie­len. Und soll­te die­se Kraft ein­mal nicht mehr vor­han­den sein (durch mas­si­ve welt­po­li­ti­sche Ver­än­de­run­gen oder eine nicht mehr aus­zu­schlie­ßen­de System­kri­se in den USA), wird nach heu­ti­gem Ermes­sen an ihre Stel­le die stra­te­gi­sche Auto­no­mie ein­zel­ner euro­päi­scher Staa­ten oder Kon­stel­la­tio­nen euro­päi­scher Staa­ten (z. B. die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und öko­no­misch und men­ta­li­täts­mä­ßig nahe­ste­hen­de Län­der) tre­ten, aber sicher­lich nicht das Phan­tom einer „stra­te­gi­schen Auto­no­mie Euro­pas“, sprich, der heu­ti­gen EU.

Viel­leicht des­halb lei­sten es sich Par­tei­en wie Ita­li­ens Links­de­mo­kra­ten, um noch ein­mal auf das Aus­gangs­bei­spiel zurück­zu­kom­men, für die EU-Wah­len sowohl NATO-Befür­wor­ter (Mer­ce­des Bres­so und Eli­sa­bet­ta Gual­mi­ni) als auch NATO-Geg­ner (Ceci­lia Stra­da und Mar­co Tar­qui­nio) und dazu noch eine Par­tei­vor­sit­zen­de Elly Sch­lein auf­zu­stel­len, die sich dazwi­schen mit ihrer Paro­le nach einer „stra­te­gi­schen Auto­no­mie Euro­pas in der NATO“ wie Ali­ce im Wun­der­land verhält.

*Andre­as Becker, poli­ti­scher Ana­lyst, stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaf­ten und Ver­glei­chen­des Verfassungsrecht.

Bild: Wiki­com­mons

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