Zum hundertsten Todestag von Lenin (1924–2024)

Lenins einbalsamierte Mumie ist nach wie vor ein Pilgerziel auf dem Roten Platz in Moskau


Gedanken zum hundertsten Todestag von Wladimir Uljanow genannt Lenin und der fehlenden Distanzierung durch die heutige russische Regierung
Gedanken zum hundertsten Todestag von Wladimir Uljanow genannt Lenin und der fehlenden Distanzierung durch die heutige russische Regierung

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Der hun­dert­ste Todes­tag von Wla­di­mir Iljitsch Ulja­now, bekannt unter dem Kampf­na­men Lenin, einer der ver­bre­che­risch­sten Per­sön­lich­kei­ten der Geschich­te, wur­de von einer düste­ren Atmo­sphä­re umhüllt. Er starb am 21. Janu­ar 1924 in Mos­kau an den Fol­gen eines Schlag­an­falls, nach­dem er 54 Jah­re zuvor in Sim­birsk am West­ufer der Wol­ga gebo­ren wor­den war. Als Sohn eines Schul­in­spek­tors war Wla­di­mir Ulja­now ein typi­sches Pro­dukt jenes Ruß­lands der Jahr­hun­dert­wen­de, in dem, wie Cur­zio Mala­par­te schrieb, „der klein­bür­ger­li­che Fana­tis­mus vom mar­xi­sti­schen Libe­ra­lis­mus bis zum ver­rot­te­ten Chri­sten­tum Tol­stois reich­te“.1

Sei­ne Jugend war geprägt von der Affä­re um sei­nen älte­ren Bru­der Alex­an­der, der im Mai 1887 wegen der Vor­be­rei­tung eines Atten­tats auf Zar Alex­an­der III. gehängt wur­de. Wla­di­mir Ulja­nov, der bereits anfing, revo­lu­tio­nä­re Wer­ke zu lesen, war vom Irr­tum der volks­schwär­me­ri­schen Bewe­gung über­zeugt, die die Bau­ern durch exem­pla­ri­sche Ter­ror­ak­tio­nen zum Auf­stand füh­ren woll­ten. Ent­schei­dend war des wei­te­ren sei­ne Begeg­nung mit dem Vater des rus­si­schen Mar­xis­mus Geor­gi Ple­cha­now (1856–1918), der in der Schweiz im Exil leb­te. Als Schü­ler von Karl Marx, aber auch des preu­ßi­schen Stra­te­gen Carl von Clau­se­witz (1780–1831) ent­wickel­te Lenin eine Theo­rie, die die Revo­lu­ti­on zu einer Wis­sen­schaft mach­te. Im Herbst 1895 grün­de­te er in St. Peters­burg einen Zir­kel der Osvo­bož­de­nie tru­da („Befrei­ung der Arbeit“) zur Ver­ei­ni­gung der revo­lu­tio­nä­ren Grup­pen, wur­de jedoch im Dezem­ber ver­haf­tet und ver­büß­te vier­zehn Mona­te Gefäng­nis und drei Jah­re Ver­ban­nung in Sibi­ri­en. Im Jahr 1900 ging er ins Exil nach Mün­chen und schließ­lich nach Zürich, wo er zusam­men mit Ple­cha­now und Juli­us Mar­tow (1873–1923) die Zeit­schrift Iskra („Fun­ke“) grün­de­te, um die kom­mu­ni­sti­sche Ideo­lo­gie in Ruß­land zu ver­brei­ten. In sei­nem Buch „Was tun?“ (1902) plan­te er eine stark zen­tra­li­sier­te kom­mu­ni­sti­sche Par­tei, die von „Män­nern geführt wer­den soll­te, deren Beruf die revo­lu­tio­nä­re Akti­on ist“.2

Der Erste Welt­krieg brach aus, und Lenin leb­te in einem beschei­de­nen Zim­mer an der Spie­gel­gas­se in Zürich, als im Febru­ar 1917 die Revo­lu­ti­on von Alex­an­der Ker­en­ski (1881–1970) die Zaren­herr­schaft stürz­te. Der deut­sche Gene­ral­stab beschloß, „die Bak­te­ri­en der roten Pest“ nach Ruß­land zu schicken, damit die Hei­mat­front der feind­li­chen Armee zusam­men­bre­chen wür­de. Am 17. April 1917 ver­lie­ßen zwei­und­drei­ßig Revo­lu­ti­ons­füh­rer, dar­un­ter Wla­di­mir Ulja­now, Zürich mit einem plom­bier­ten Zug­wag­gon in Rich­tung Petro­grad [wie St. Peters­burg kurz­zei­tig von 1914 bis 1924 hieß].

Nach sei­ner Ankunft in Ruß­land dräng­te Lenin die bol­sche­wi­sti­sche Par­tei zur Macht­über­nah­me und theo­re­ti­sier­te in „Staat und Revo­lu­ti­on“ (1917) die gewalt­sa­me Macht­über­nah­me und die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats, auf die der „Zer­fall“ des Staa­tes fol­gen wür­de, d. h. der spon­ta­ne Über­gang von der unte­ren zur obe­ren Pha­se der klas­sen­lo­sen kom­mu­ni­sti­schen Gesellschaft.

Als es der bol­sche­wi­sti­schen Par­tei unter Füh­rung von Lenin im Okto­ber 1917 gelang, durch einen Staats­streich die Macht zu ergrei­fen, schien die „elf­te The­se“ von Marx über Feu­er­bach (1845), wonach die Auf­ga­be der Phi­lo­so­phen nicht dar­in besteht, die Welt zu erken­nen, son­dern sie zu ver­än­dern, in sei­ner Per­son histo­risch ver­wirk­licht zu sein. Gewalt war die Metho­de, um die Macht zu erlan­gen und zu erhal­ten. Am 20. Dezem­ber 1917 schuf Lenin die Tsche­ka, die poli­ti­sche Poli­zei, der er die Auf­ga­be über­trug, das Bür­ger­tum zu ver­nich­ten. Geor­ge Leg­gett bezif­fert allein die Zahl der von der Tsche­ka zwi­schen 1917 und 1922 durch­ge­führ­ten Hin­rich­tun­gen auf 140.000.3 Die Tsche­ka war die erste in einer Rei­he von Orga­ni­sa­tio­nen, der GPU, dem NKWD, dem KGB, bis hin zum heu­ti­gen FSB, die ihre Metho­den ver­fei­ner­ten, aber im wesent­li­chen nicht ver­än­der­ten. Ein wei­te­res von Lenin geschaf­fe­nes Repres­si­ons­in­stru­ment waren die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger für Oppo­si­tio­nel­le, die berüch­tig­ten Gulags. Im Okto­ber 1923 gab es bereits 315 von ihnen mit 70.000 Gefan­ge­nen, wäh­rend gleich­zei­tig spek­ta­ku­lä­re poli­ti­sche Pro­zes­se statt­fan­den, die zur Besei­ti­gung der rus­si­schen Füh­rungs­schicht, der Offi­zie­re, der Ari­sto­kra­ten, der Bür­ger­li­chen und der Prie­ster führ­ten. Etwa 100 Bischö­fe und 10.000 ortho­do­xe Prie­ster wur­den inhaf­tiert, 28 Bischö­fe und 1215 Prie­ster erschos­sen.4 Aus leni­ni­sti­scher Sicht soll­ten die Reli­gi­on, das Pri­vat­ei­gen­tum und die Fami­lie an der Wur­zel aus­ge­rot­tet wer­den. Am 17. Dezem­ber 1917, weni­ge Wochen nach der Macht­er­grei­fung, wur­de die Ehe­schei­dung ein­ge­führt; 1920 wur­de die Abtrei­bung lega­li­siert. Es war das erste Mal in der Welt, daß dies ohne jeg­li­che Ein­schrän­kun­gen geschah.

Die Aus­ru­fung der Uni­on der Sozia­li­sti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken am 30. Dezem­ber 1922 war der Tri­umph Lenins. Als der Grün­der der UdSSR zwei Jah­re spä­ter von sei­nem Haß zer­fres­sen starb, wur­de die gesam­te Macht in den Hän­den von Sta­lin gebün­delt, der in Anleh­nung an sei­nen Genos­sen und Mei­ster einen erbit­ter­ten Kampf gegen zwei Fron­ten führ­te: die „Rechts­ab­weich­ler“ von Bucha­rin und die „Links­ab­weich­ler“ von Trotz­ki. Bei­de wur­den schließ­lich von Sta­lin zusam­men mit vie­len ihrer Anhän­ger ermordet.

Der Mar­xis­mus-Leni­nis­mus war die Dok­trin der Sowjet­uni­on bis zu ihrer Auf­lö­sung im Jahr 1991. Selbst in der letz­ten Pha­se des Regimes erklär­te Micha­el Gor­bat­schow (1931–2022), daß die ideo­lo­gi­sche Quel­le der Pere­stroi­ka Lenin sei, und bestand auf der Not­wen­dig­keit, zum „schöp­fe­ri­schen Geist des Leni­nis­mus“ zurück­zu­keh­ren und die Wer­ke Lenins „neu zu lesen“, um die leni­ni­sti­sche Metho­de tief zu ver­ste­hen.5

In jenen Jah­ren pil­ger­ten die „Befrei­ungs­theo­lo­gen“ in die Sowjet­uni­on, um die Mumie des „hei­li­gen“ Lenin zu ver­eh­ren, die auf Geheiß Sta­lins in einem Mau­so­le­um auf dem Roten Platz aus­ge­stellt ist. 1987 beschrieb Pater Clo­do­vis Boff die lan­ge Schlan­ge, die dar­auf war­te­te, „den ein­bal­sa­mier­ten Leich­nam des gro­ßen Revo­lu­tio­närs“ zu sehen, als „einen Akt wah­rer Andacht, ech­ter Ver­eh­rung, den ein Theo­lo­ge ohne Schwie­rig­kei­ten erklä­ren kann“. Nach der Betrach­tung der Mumie „füh­len sich alle in der Pro­zes­si­on, die Augen auf den Hel­den gerich­tet, gezwun­gen, mit dem Kopf nach hin­ten zu gehen, um kei­nen ein­zi­gen Trop­fen die­ses Augen­blicks der Gna­de zu ver­pas­sen“.6

Nach der Selbst­auf­lö­sung der Sowjet­uni­on wur­de der Mythos Lenin in den Hin­ter­grund gedrängt und Tau­sen­de von Sta­tu­en des Grün­ders der UdSSR wur­den im gesam­ten post­so­wje­ti­schen Raum demon­tiert. In der Ukrai­ne hat die­ses Phä­no­men so gro­ße Aus­ma­ße ange­nom­men, daß es dafür die Bezeich­nung Leni­no­pad gibt, die viel­leicht größ­te Bewe­gung des poli­ti­schen Bil­der­sturms des 20. Jahr­hun­derts. Anto­nella Salo­mo­ni, Histo­ri­ke­rin an der Uni­ver­si­tät Bolo­gna, hat den Auf­stieg und Nie­der­gang des Lenin-Kults anhand der Geschich­te sei­nes Kör­pers und sei­ner Bil­der nach­ge­zeich­net.7

Der neue Zar, Wla­di­mir Putin, betrach­tet Sta­lin und nicht Lenin als sei­nen Mei­ster, hat aber Wla­di­mir Ulja­now nicht aus dem rus­si­schen Pan­the­on ver­bannt. Die ein­bal­sa­mier­te Mumie Lenins ist nach wie vor ein Pil­ger­ziel im Her­zen des Roten Plat­zes, wäh­rend dem Grün­der der UdSSR 35 Kilo­me­ter von Mos­kau ent­fernt ein staat­li­ches Geschichts­mu­se­um gewid­met ist. Was hät­te man wohl gesagt, wenn nach 1945 Mus­so­li­ni oder Hit­ler im Zen­trum von Rom oder Ber­lin ein öffent­li­cher Platz gewid­met wor­den wäre? Aber heu­te hat sich der Anti­kom­mu­nis­mus auf­ge­löst, und Putins Kri­ti­ker im Westen nen­nen ihn „Faschi­sten“ und nicht „Kom­mu­ni­sten“. Der Kom­mu­nis­mus ver­brei­tet also wei­ter­hin sei­ne Irr­tü­mer in der Welt, wäh­rend am 18. März 2024 der Geist Lenins die Rede Putins auf dem Roten Platz zur Fei­er sei­ner Wie­der­wahl beglei­te­te. Wla­di­mir Lenin erklär­te auf dem Ster­be­bett gegen­über Vik­tor Bede, einem unga­ri­schen Ex-Prie­ster, der sein Jour­na­li­sten­kol­le­ge in Paris war: „Du weißt, daß mei­ne Krank­heit mich bald in den Tod füh­ren wird, und ich füh­le mich ver­las­sen im Meer des Blu­tes end­lo­ser Opfer. Es war not­wen­dig, unser Ruß­land zu ret­ten, aber es ist zu spät, um jetzt noch etwas zu ändern: Wir bräuch­ten zehn Franz von Assi­si“.8 Lenins Wor­te, viel­leicht die ein­zig rich­ti­gen, die er je geäu­ßert hat, behal­ten auch in der Ära Putin ihre tra­gi­sche Aktualität.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana


1 Cur­zio Mala­par­te: Il buo­nuo­mo Lenin, Adel­phi, 2018, S. 22f

2 Lenin: Aus­ge­wähl­te Wer­ke, Pro­gress, 947, Bd. I, S. 331

3 Geor­ge Leg­gett: The Che­ka. Lenin’s poli­ti­cal Poli­ce, Cla­ren­don Press, 1981, S. 467

4 Mar­co Mes­se­ri: Uto­pia e ter­rore. La sto­ria non rac­con­ta­ta del comu­nis­mo, Piem­me, 2003

5 Micha­el Gor­bat­schow: Das gemein­sa­me Haus Euro­pa und die Zukunft der Pere­stroi­ka, Econ 1990, hier zitiert nach der ital. Aus­ga­be: La casa comu­ne euro­pea, Mond­ado­ri, 1989, S. 267

6 Clo­do­vis Boff/​J. Perei­ra Ramalho/​P. Ribei­ro de Oliveira/​Leonardo Boff/​Frei Betto: Fede e pere­stroi­ka. Teo­lo­gi del­la libe­ra­zio­ne in URSS, Cit­ta­del­la, 1988, S. 39

7 Anto­nella Salo­mo­ni: Lenin a pez­zi. Dis­trug­ge­re e trasfor­ma­re il pas­sa­to, Il Muli­no, 2024

8 L’Os­ser­va­to­re Roma­no, 23. August 1924

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