Von Roberto de Mattei*
Der hundertste Todestag von Wladimir Iljitsch Uljanow, bekannt unter dem Kampfnamen Lenin, einer der verbrecherischsten Persönlichkeiten der Geschichte, wurde von einer düsteren Atmosphäre umhüllt. Er starb am 21. Januar 1924 in Moskau an den Folgen eines Schlaganfalls, nachdem er 54 Jahre zuvor in Simbirsk am Westufer der Wolga geboren worden war. Als Sohn eines Schulinspektors war Wladimir Uljanow ein typisches Produkt jenes Rußlands der Jahrhundertwende, in dem, wie Curzio Malaparte schrieb, „der kleinbürgerliche Fanatismus vom marxistischen Liberalismus bis zum verrotteten Christentum Tolstois reichte“.1
Seine Jugend war geprägt von der Affäre um seinen älteren Bruder Alexander, der im Mai 1887 wegen der Vorbereitung eines Attentats auf Zar Alexander III. gehängt wurde. Wladimir Uljanov, der bereits anfing, revolutionäre Werke zu lesen, war vom Irrtum der volksschwärmerischen Bewegung überzeugt, die die Bauern durch exemplarische Terroraktionen zum Aufstand führen wollten. Entscheidend war des weiteren seine Begegnung mit dem Vater des russischen Marxismus Georgi Plechanow (1856–1918), der in der Schweiz im Exil lebte. Als Schüler von Karl Marx, aber auch des preußischen Strategen Carl von Clausewitz (1780–1831) entwickelte Lenin eine Theorie, die die Revolution zu einer Wissenschaft machte. Im Herbst 1895 gründete er in St. Petersburg einen Zirkel der Osvoboždenie truda („Befreiung der Arbeit“) zur Vereinigung der revolutionären Gruppen, wurde jedoch im Dezember verhaftet und verbüßte vierzehn Monate Gefängnis und drei Jahre Verbannung in Sibirien. Im Jahr 1900 ging er ins Exil nach München und schließlich nach Zürich, wo er zusammen mit Plechanow und Julius Martow (1873–1923) die Zeitschrift Iskra („Funke“) gründete, um die kommunistische Ideologie in Rußland zu verbreiten. In seinem Buch „Was tun?“ (1902) plante er eine stark zentralisierte kommunistische Partei, die von „Männern geführt werden sollte, deren Beruf die revolutionäre Aktion ist“.2
Der Erste Weltkrieg brach aus, und Lenin lebte in einem bescheidenen Zimmer an der Spiegelgasse in Zürich, als im Februar 1917 die Revolution von Alexander Kerenski (1881–1970) die Zarenherrschaft stürzte. Der deutsche Generalstab beschloß, „die Bakterien der roten Pest“ nach Rußland zu schicken, damit die Heimatfront der feindlichen Armee zusammenbrechen würde. Am 17. April 1917 verließen zweiunddreißig Revolutionsführer, darunter Wladimir Uljanow, Zürich mit einem plombierten Zugwaggon in Richtung Petrograd [wie St. Petersburg kurzzeitig von 1914 bis 1924 hieß].
Nach seiner Ankunft in Rußland drängte Lenin die bolschewistische Partei zur Machtübernahme und theoretisierte in „Staat und Revolution“ (1917) die gewaltsame Machtübernahme und die Diktatur des Proletariats, auf die der „Zerfall“ des Staates folgen würde, d. h. der spontane Übergang von der unteren zur oberen Phase der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft.
Als es der bolschewistischen Partei unter Führung von Lenin im Oktober 1917 gelang, durch einen Staatsstreich die Macht zu ergreifen, schien die „elfte These“ von Marx über Feuerbach (1845), wonach die Aufgabe der Philosophen nicht darin besteht, die Welt zu erkennen, sondern sie zu verändern, in seiner Person historisch verwirklicht zu sein. Gewalt war die Methode, um die Macht zu erlangen und zu erhalten. Am 20. Dezember 1917 schuf Lenin die Tscheka, die politische Polizei, der er die Aufgabe übertrug, das Bürgertum zu vernichten. George Leggett beziffert allein die Zahl der von der Tscheka zwischen 1917 und 1922 durchgeführten Hinrichtungen auf 140.000.3 Die Tscheka war die erste in einer Reihe von Organisationen, der GPU, dem NKWD, dem KGB, bis hin zum heutigen FSB, die ihre Methoden verfeinerten, aber im wesentlichen nicht veränderten. Ein weiteres von Lenin geschaffenes Repressionsinstrument waren die Konzentrationslager für Oppositionelle, die berüchtigten Gulags. Im Oktober 1923 gab es bereits 315 von ihnen mit 70.000 Gefangenen, während gleichzeitig spektakuläre politische Prozesse stattfanden, die zur Beseitigung der russischen Führungsschicht, der Offiziere, der Aristokraten, der Bürgerlichen und der Priester führten. Etwa 100 Bischöfe und 10.000 orthodoxe Priester wurden inhaftiert, 28 Bischöfe und 1215 Priester erschossen.4 Aus leninistischer Sicht sollten die Religion, das Privateigentum und die Familie an der Wurzel ausgerottet werden. Am 17. Dezember 1917, wenige Wochen nach der Machtergreifung, wurde die Ehescheidung eingeführt; 1920 wurde die Abtreibung legalisiert. Es war das erste Mal in der Welt, daß dies ohne jegliche Einschränkungen geschah.
Die Ausrufung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 war der Triumph Lenins. Als der Gründer der UdSSR zwei Jahre später von seinem Haß zerfressen starb, wurde die gesamte Macht in den Händen von Stalin gebündelt, der in Anlehnung an seinen Genossen und Meister einen erbitterten Kampf gegen zwei Fronten führte: die „Rechtsabweichler“ von Bucharin und die „Linksabweichler“ von Trotzki. Beide wurden schließlich von Stalin zusammen mit vielen ihrer Anhänger ermordet.
Der Marxismus-Leninismus war die Doktrin der Sowjetunion bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1991. Selbst in der letzten Phase des Regimes erklärte Michael Gorbatschow (1931–2022), daß die ideologische Quelle der Perestroika Lenin sei, und bestand auf der Notwendigkeit, zum „schöpferischen Geist des Leninismus“ zurückzukehren und die Werke Lenins „neu zu lesen“, um die leninistische Methode tief zu verstehen.5
In jenen Jahren pilgerten die „Befreiungstheologen“ in die Sowjetunion, um die Mumie des „heiligen“ Lenin zu verehren, die auf Geheiß Stalins in einem Mausoleum auf dem Roten Platz ausgestellt ist. 1987 beschrieb Pater Clodovis Boff die lange Schlange, die darauf wartete, „den einbalsamierten Leichnam des großen Revolutionärs“ zu sehen, als „einen Akt wahrer Andacht, echter Verehrung, den ein Theologe ohne Schwierigkeiten erklären kann“. Nach der Betrachtung der Mumie „fühlen sich alle in der Prozession, die Augen auf den Helden gerichtet, gezwungen, mit dem Kopf nach hinten zu gehen, um keinen einzigen Tropfen dieses Augenblicks der Gnade zu verpassen“.6
Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion wurde der Mythos Lenin in den Hintergrund gedrängt und Tausende von Statuen des Gründers der UdSSR wurden im gesamten postsowjetischen Raum demontiert. In der Ukraine hat dieses Phänomen so große Ausmaße angenommen, daß es dafür die Bezeichnung Leninopad gibt, die vielleicht größte Bewegung des politischen Bildersturms des 20. Jahrhunderts. Antonella Salomoni, Historikerin an der Universität Bologna, hat den Aufstieg und Niedergang des Lenin-Kults anhand der Geschichte seines Körpers und seiner Bilder nachgezeichnet.7
Der neue Zar, Wladimir Putin, betrachtet Stalin und nicht Lenin als seinen Meister, hat aber Wladimir Uljanow nicht aus dem russischen Pantheon verbannt. Die einbalsamierte Mumie Lenins ist nach wie vor ein Pilgerziel im Herzen des Roten Platzes, während dem Gründer der UdSSR 35 Kilometer von Moskau entfernt ein staatliches Geschichtsmuseum gewidmet ist. Was hätte man wohl gesagt, wenn nach 1945 Mussolini oder Hitler im Zentrum von Rom oder Berlin ein öffentlicher Platz gewidmet worden wäre? Aber heute hat sich der Antikommunismus aufgelöst, und Putins Kritiker im Westen nennen ihn „Faschisten“ und nicht „Kommunisten“. Der Kommunismus verbreitet also weiterhin seine Irrtümer in der Welt, während am 18. März 2024 der Geist Lenins die Rede Putins auf dem Roten Platz zur Feier seiner Wiederwahl begleitete. Wladimir Lenin erklärte auf dem Sterbebett gegenüber Viktor Bede, einem ungarischen Ex-Priester, der sein Journalistenkollege in Paris war: „Du weißt, daß meine Krankheit mich bald in den Tod führen wird, und ich fühle mich verlassen im Meer des Blutes endloser Opfer. Es war notwendig, unser Rußland zu retten, aber es ist zu spät, um jetzt noch etwas zu ändern: Wir bräuchten zehn Franz von Assisi“.8 Lenins Worte, vielleicht die einzig richtigen, die er je geäußert hat, behalten auch in der Ära Putin ihre tragische Aktualität.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
1 Curzio Malaparte: Il buonuomo Lenin, Adelphi, 2018, S. 22f
2 Lenin: Ausgewählte Werke, Progress, 947, Bd. I, S. 331
3 George Leggett: The Cheka. Lenin’s political Police, Clarendon Press, 1981, S. 467
4 Marco Messeri: Utopia e terrore. La storia non raccontata del comunismo, Piemme, 2003
5 Michael Gorbatschow: Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der Perestroika, Econ 1990, hier zitiert nach der ital. Ausgabe: La casa comune europea, Mondadori, 1989, S. 267
6 Clodovis Boff/J. Pereira Ramalho/P. Ribeiro de Oliveira/Leonardo Boff/Frei Betto: Fede e perestroika. Teologi della liberazione in URSS, Cittadella, 1988, S. 39
7 Antonella Salomoni: Lenin a pezzi. Distruggere e trasformare il passato, Il Mulino, 2024
8 L’Osservatore Romano, 23. August 1924
Die historischen Ausführungen sind interessant und zeigen die Grausamkeit der Gottlosigkeit auf. Der Brückenschlag zu Putin wirkt aber ziemlich erzwungen. Putin muss dzt. angepatzt werden, das scheint nicht anders zu gehen. Die Behauptung, Putin sei gar ein Stalin-Verehrer, sollte jedoch zumindest ein klein wenig begründet und nicht einfach nur behauptet werden.
Die Lenin-Verehrung und die weitere Verwendung sowjetischer Symbole stellt ein Problem dar. Das heutige Rußland weiß noch nicht, wie es zwischen der eigenen Geschichte, die nicht geändert werden kann, und der kommunistischen Ideologie säuberlich unterscheiden soll. Das Problem haben jedoch andere Staaten auch.
So denke ich auch.
Was Putin alles gegen Abtreibung getan hat und tut, wird konsequent verschwiegen, oder gar, ganz in der Manier der Linken, als „völkisch“ bzw. „den Krieg gegen den Westen vorbereitend“ bezeichnet. Ob von de Mattei oder Jean Simmons oder einem Kolumnist auf Life Site News weiss ich nicht.
Ja, auch Putin muss jetzt seinen Weg finden, muss viele sehr unterschiedliche Strömungen auf sich vereinen, muss mit der Last des Sowjeterbes umgehen, muss versuchen sich selbst und sein Volk von diesem Erbe zu lösen und zum Christentum zu führen um gegen den Westen bestehen zu können.
Aber viel guter Wille und Vernunft ist da, wir sollten beten, dass er es schafft diesen Weg weiter in die richtige Richtung zu gehen.
Ein paar Beispiele nur, wovon der Westen Lichtjahre entfernt ist:
https://katholisches.info/2014/02/01/abtreibungsverwuestung-putin-errichtet-an-allen-krankenhaeusern-schwangerenhilfsstellen/
https://russian-faith.com/vladimir-putin-signed-decree-establishing-status-large-families-federal-level-and-defining-measures
https://www.epochtimes.de/politik/ausland/schutz-unserer-buerger-und-kinder-putin-verbietet-geschlechtsumwandlungen-und-hormontherapien-a4351307.html