Von Don Alfredo Morselli*
Es ist bekannt, daß fünf Kardinäle1, besorgt über „die Aussagen einiger Bischöfe, die weder korrigiert noch widerrufen wurden“ 2, dem Papst am 21. August 2023 fünf Dubia, d. h. fünf Fragen zu Glaubensfragen, vorgelegt haben.3
Eine erste Fassung derselben Fragen war bereits am 10. Juli 2023 eingereicht worden.
Die Antwort des Papstes auf die ersten Dubia erfolgte umgehend (11. Juli 2023)4. Da diese Antwort jedoch weder der Art und Weise entsprach, wie man Dubia beantwortet (mit Ja oder Nein), noch erschöpfend war (in der Praxis war es eine Nicht-Antwort), formulierten die Kardinäle die Fragen neu und legten sie erneut vor, in der Hoffnung, endlich angemessene und zufriedenstellende Antworten zu erhalten.
Auf dieses neue Ersuchen hin erbat Kardinal Victor Manuel Fernández vom Papst die Erlaubnis, antworten zu dürfen, indem er die vorangegangene Antwort zugrunde legt: Auch diese Antwort war also keine Klarstellung, sondern vielmehr eine eher unelegante Kopie der ersten.
Der neuernannte Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre berücksichtigte die Neuformulierung der Fragen überhaupt nicht.
Sicherlich wäre eine vollständige und gründliche Analyse aller Dubia und ihrer Antworten angebracht.5
Ohne eine umfassendere Studie in naher Zukunft ausschließen zu wollen, schlage ich aber vor, zunächst den Text des ersten Dubiums sowie die entsprechende Antwort zu analysieren. Und das nicht nur, um die Diskussion in mehrere Teile zu gliedern und so für den Leser leichter verdaulich zu machen. Der Hauptgrund ist vielmehr, daß das erste Dubium einerseits einen Irrtum aufzeigt, der all jenen Aussagen zugrunde liegt, die „weder korrigiert noch widerrufen“ wurden und den Glauben der einfachen Menschen gefährden; und daß andererseits die von Kardinal Fernández angebotene Antwort nicht nur das dargestellte Problem nicht löst, sondern in gewisser Weise die weit verbreiteten Irrtümer rechtfertigt und damit die Befürchtungen der Kardinäle bestätigt. Dieses Dubium betrifft „die Forderung, die göttliche Offenbarung auf der Grundlage der aktuellen kulturellen und anthropologischen Veränderungen neu zu interpretieren“, mit der Gefahr, einen häretischen Widerspruch gegen die Glaubenslehre mit der richtigen homogenen Dogmenentwicklung zu verwechseln. Ausgehend von der oben erwähnten Problematik werde ich meine Ausführungen in vier Teile gliedern:
I. Das erste Dubium und die Nicht-Antwort
II. Die homogene Entwicklung des Dogmas
III. Die homogene Dogmenentwicklung kann nicht widersprüchlich sein
IV. Eine Aussage, aus der notwendigerweise Irrlehren folgen, kann nicht als homogene Entwicklung betrachtet werden
I. Das erste Dubium und die Nicht-Antwort
1. Das erste Dubium
Das erste Dubium, das die Kardinäle dem Papst vorgelegt haben, betrifft „die Behauptung, daß die göttliche Offenbarung entsprechend den aktuellen kulturellen und anthropologischen Veränderungen neu interpretiert werden müsse“. Sehen wir uns die beiden Formulierungen der Frage an.
10. Juli 2023 | 21. August 2023 |
1. Zweifel an der Behauptung, die göttliche Offenbarung müsse entsprechend den kulturellen und anthropologischen Veränderungen neu interpretiert werden. Nach den Behauptungen einiger Bischöfe, die weder korrigiert noch widerrufen wurden, stellt sich die Frage, ob die göttliche Offenbarung in der Kirche gemäß den kulturellen Veränderungen unserer Zeit und gemäß der neuen anthropologischen Sichtweise, die diese Veränderungen fördern, umgedeutet werden sollte; oder ob die göttliche Offenbarung für immer verbindlich, unveränderlich und [ihr] daher nicht zu widersprechen ist, gemäß der Vorgabe des Zweiten Vatikanischen Konzils, daß Gott, der offenbart, „der Gehorsam des Glaubens“ gebührt (Dei Verbum 5); daß das, was zum Heil aller geoffenbart wird, „für immer unversehrt“ und lebendig bleiben und „an alle Generationen weitergegeben“ werden muß (7), und daß der Fortschritt des Verstehens keine Veränderung der Wahrheit der Dinge und Worte mit sich bringt, weil der Glaube „ein für allemal weitergegeben“ worden ist (8), und das Lehramt dem Wort Gottes nicht überlegen ist, sondern nur das lehrt, was weitergegeben worden ist (10). | 1. Eure Heiligkeit besteht darauf, daß die Kirche ihr Verständnis des Glaubensgutes vertiefen kann. Das ist in der Tat das, was Dei Verbum 8 lehrt und zur katholischen Lehre gehört. Ihre Antwort greift jedoch nicht unser Anliegen auf. Viele Christen, darunter auch Hirten und Theologen, vertreten heute die Auffassung, daß die kulturellen und anthropologischen Veränderungen unserer Zeit die Kirche dazu bringen sollten, das Gegenteil von dem zu lehren, was sie immer gelehrt hat. Dies betrifft Fragen, die für unser Heil wesentlich und nicht zweitrangig sind, wie das Glaubensbekenntnis, die subjektiven Bedingungen für den Sakramentenzugang und die Einhaltung des Moralgesetzes. Wir wollen daher unseren Zweifel neu formulieren: Ist es der Kirche heute möglich, Lehren zu verbreiten, die im Widerspruch zu dem stehen, was sie früher in Fragen des Glaubens und der Moral gelehrt hat, sei es durch den Papst ex cathedra, sei es durch die Definitionen eines ökumenischen Konzils oder durch das gewöhnliche universale Lehramt der über die ganze Welt verstreuten Bischöfe (vgl. Lumen Gentium 25)? |
2. Antwort auf das erste Dubium
Sehen wir uns nun die Antwort auf dieses erste Dubium an:
„a) Die Antwort hängt von der Bedeutung ab, die man dem Wort ’neu interpretieren‘ gibt. Wenn man ‚besser auslegen‘ meint, ist der Ausdruck gültig. In diesem Sinne hat das Zweite Vatikanische Konzil erklärt, daß es notwendig ist, daß durch die Arbeit der Exegeten – ich würde hinzufügen: der Theologen – „das Urteil der Kirche reift“ (Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil, Dogmatische Konstitution Dei Verbum, 12).
b) Wenn es also stimmt, daß die göttliche Offenbarung unveränderlich und immer verbindlich ist, muß die Kirche demütig sein und erkennen, daß sie ihren unergründlichen Reichtum nie erschöpft und in ihrem Verständnis wachsen muß.
c) Sie reift daher auch im Verständnis dessen, was sie selbst in ihrem Lehramt bekräftigt hat.
d) Die kulturellen Veränderungen und die neuen Herausforderungen der Geschichte verändern die Offenbarung nicht, sondern können uns anregen, bestimmte Aspekte ihres überbordenden Reichtums deutlicher herauszustellen.
e) Es ist unvermeidlich, daß dies zu einem besseren Ausdruck einiger früherer Aussagen des Lehramtes führen kann, und das ist in der Tat im Laufe der Geschichte der Fall gewesen.
f) Andererseits ist es wahr, daß das Lehramt dem Wort Gottes nicht überlegen ist, aber es ist auch wahr, daß sowohl die Texte der Schrift als auch die Zeugnisse der Tradition einer Interpretation bedürfen, die es erlaubt, ihre immerwährende Substanz von kulturellen Prägungen zu unterscheiden. Dies zeigt sich zum Beispiel in biblischen Texten (wie Ex 21,20–21) und in einigen lehramtlichen Interventionen, die die Sklaverei tolerierten (vgl. Nikolaus V., Bulle Dum Diversas, 1452). Dies ist kein zweitrangiges Thema, da es in engem Zusammenhang mit der immerwährenden Wahrheit der unveräußerlichen Würde der menschlichen Person steht. Diese Texte sind auslegungsbedürftig. Das gleiche gilt für einige neutestamentliche Erwägungen über die Frau (1 Kor 11, 3–1076; 1 Tim 2, 11–14) und andere Texte der Schrift und Zeugnisse der Tradition, die heute nicht wesentlich wiederholt werden können“.7
3. Bemerkungen zur Antwort
Wie bereits erwähnt, handelt es sich um eine Nicht-Antwort: Die Kardinäle haben nämlich nicht gefragt, ob es eine Neuinterpretation oder eine Weiterentwicklung der Lehre geben kann (was notwendig ist und von allen katholischen Theologen anerkannt wird), sondern die Frage betrifft die Qualität der Weiterentwicklung.
Das Problem ist also: Auf welchen Wegen soll der lehrmäßige Fortschritt – der für das Leben der Kirche bis zur Parusie natürlich und notwendig ist – voranschreiten?
Die Kardinäle fragen, ob diese Entwicklung widersprüchliche Aussagen beinhalten kann: Tatsächlich finden wir im Text des Dubiums die Fragen: „ob [der] göttlichen Offenbarung … nicht zu widersprechen ist“ (10.07.2023), ob der Fortschritt eine „Veränderung der Wahrheit“ impliziert (10.07.2023), ob „Lehren, die im Widerspruch stehen“, gelehrt werden können (21.08.2023).
Die Antwort auf das Dubium breitet sich in vielen Überlegungen aus, beantwortet aber nicht das Wesentliche der Frage: Der Verfasser der Antwort umgeht das Problem, ohne es tatsächlich ad rem oder präzise zu beantworten. Er behauptet nämlich, daß die Offenbarung besser interpretiert werden kann (Punkt [a] der Antwort – von nun an werden die Punkte durch den jeweiligen Buchstaben gekennzeichnet), daß man in ihrem Verständnis wachsen kann (b), daß dieses Verständnis reift ©, daß kulturelle Veränderungen bestimmte Aspekte deutlicher machen (d), daß Ausdrücke verbessert werden können (e), daß eine Interpretation notwendig ist, um ihren immerwährenden Gehalt von kultureller Prägung zu unterscheiden (f).
Die Aussagen in der Antwort mögen zwar außerhalb des Frage-Kontextes wahr sein, beantworten aber nicht das Dubium.
Die Frage bleibt: Kann es in dieser verbesserten Interpretation (a), in diesem Wachstum des Verständnisses (b), in dieser Reifung ©, in dieser Explikation (d), in dieser Verbesserung der Begriffe (e), in diesem Herausarbeiten der Offenbarung aus der kulturellen Prägung (f), kann es in all dem einen Widerspruch, eine Veränderung der Wahrheit, den Ausdruck einer Lehre im Widerspruch zu dem geben, was die Kirche bisher unfehlbar zu glauben vorgegeben hat?
Das ist der Kern des Dubiums, und es ist klar, daß das Dubium nicht beantwortet wurde.
Außerdem besteht die Gefahr, daß diese Antwort die Voraussetzung für die Rechtfertigung von Änderungen ist, die im Widerspruch zu dem stehen, was im Glauben steht, d. h. für falsche Schlußfolgerungen, die – logisch-formal betrachtet – weit über die Voraussetzungen hinausgehen. Im nächsten Kapitel werden wir sehen: Unter welchen Bedingungen ist eine bessere Auslegung usw. wirklich eine solche und nicht ein Deckmantel für die Korruption des Glaubens?
II. Die homogene Entwicklung des Dogmas
Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, wie die Kardinäle den Heiligen Vater gefragt haben, ob „es möglich ist, daß die Kirche heute Lehren vertritt, die im Widerspruch zu den Lehren stehen, die sie früher gelehrt hat, sei es durch den Papst ex cathedra, sei es in den Definitionen eines ökumenischen Konzils oder des allgemeinen ordentlichen Lehramtes der über die ganze Welt verstreuten Bischöfe“. Kardinal Víctor Manuel Fernández antwortete mit einer Reihe von ausweichenden Umschreibungen, die dem Thema auswichen: Er sprach von besserer Interpretation, Wachstum des Verständnisses, in der Reifung, in der Erläuterung, Verbesserung der Begriffe, usw. Das sind alles Ausdrücke, hinter denen sich auch eine wesentliche Änderung der Lehre verbergen könnte. Wir müssen uns also fragen: Unter welchen Bedingungen ist eine bessere Auslegung usw. wirklich eine solche und nicht eine Verschleierung für die Korruption des Glaubens?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir präzisieren, was gute katholische Theologie
unter einer homogenen Entwicklung des Dogmas versteht, wobei der Inhalt der übernatürlichen Offenbarung, an dem die Empfänger durch den Glauben festhalten, im Laufe der Jahrhunderte zwar entfaltet wird, aber im wesentlichen gleich bleibt.
1. Die Notwendigkeit und die Qualität der Entwicklung des Dogmas
Um die gedankliche Wendung, die hinter der Nicht-Antwort auf das erste Dubium steht, vollständig zu verstehen – und wie stattdessen eine Antwort sein sollte, die wirklich eine sein will –, halten wir es für sinnvoll, zusammenzufassen, was uns die gute Theologie über die wahre Möglichkeit, Notwendigkeit und Qualität der Weiterentwicklung von Dogmen sagt.8
Fokussieren wir das Problem: Abraham ist unser Vater im Glauben, und wir haben heute seinen Glauben: Aber seither ist viel Wasser unter den Brücken hindurchgeflossen… Wie können wir also, nach Nizäa, Chalcedon, Trient, bis hin zu den neuesten Definitionen, sagen, daß wir denselben Glauben haben wie Abraham, wenn er vielleicht manche Glaubenswahrheiten kaum wahrnehmen konnte, jedenfalls mit Sicherheit weder die Definitionssammlungen noch den Katechismus der katholischen Kirche kannte?
Die Antwort liegt in der Tatsache, daß von Abraham bis zu uns die Erklärung des Impliziten zugenommen hat, aber kein Wachstum in der Substanz stattfand. In der Tat waren alle nachfolgenden Entwicklungen bereits implizit in den vorangegangenen enthalten; und da der Unterschied zwischen implizit und explizit nicht ausreicht, um die objektive oder substantielle Einheit des Glaubens zu zerreißen, folgt daraus, daß das Wissen der Engel im Himmel, der Glaube unserer ersten Väter, der Patriarchen und Propheten, des Alten Testamentes, der Apostel und von uns im Neuen Testament, objektiv und substantiell ein einziges Wissen und der eine Glaube ist.
All das ist eine Folge der Tatsache, daß, wie groß auch immer die lehrmäßigen Entwicklungen gewesen sein mögen, sie alle Schritte vom Impliziten zum Expliziten sind. Die Alten glaubten implizit dasselbe, was wir explizit glauben.
Ich zitiere drei Texte des heiligen Thomas von Aquin, die so angeordnet sind, daß sie das bisher Gesagte verdeutlichen:
„Wenn der Gegenstand des Glaubens etwas ist, das in der Gestalt einer Äußerung verfaßt ist … der Akt des Gläubigen hört nicht bei der Äußerung auf, sondern geht zur Wirklichkeit: denn wir bilden Äußerungen nur, um die Dinge zu erkennen, sowohl in der Wissenschaft als auch im Glauben“.9
„Ist der Glaube der Neueren und der Alten derselbe? .…
Und so muß man sagen: das Objekt des Glaubens kann auf doppelte Weise betrachtet werden: entweder an sich, sofern es außerhalb der Seele ist; und so entspricht es in eigentlichem Sinn der Idee des Objekts, und von ihm empfängt der Habitus Vielheit oder Einheit; oder sofern der Erkennende daran Anteil hat (secundum quod est participatum in cognoscente). Man muß also sagen: Nimmt man das, was Objekt des Glaubens ist, nämlich die Sache, an die man glaubt, sofern sie außerhalb der Seele ist, so ist es eine, die auf uns und auf die Alten Bezug hat (refertur): Und so empfängt der Glaube Einheit von der Einheit der Sache. Wird es aber betrachtet, sofern es von uns aufgenommen wird, so vervielfältigt es sich in verschiedenen Aussagen; aber durch diese Spaltung wird der Glaube nicht gespalten. So ist der Glaube offenbar in jedem Sinn einer.“ 10
„Ob die Glaubensartikel im Laufe der Zeit gewachsen sind …
Soweit es also die Substanz oder den Inhalt der Artikel angeht, ist keine Zunahme im Verlaufe der Zeit anzuerkennen; denn was die Späteren ausdrücklich bekannten, war enthalten bereits in dem Glauben der Väter. Aber mit Rücksicht auf die ausdrückliche Erklärung des zu Glaubenden wuchs die Zahl der Artikel; denn was von den Späteren mit ausdrücklichen Worten geglaubt wurde, ward nicht von den Vätern mit ausdrücklichen Worten vorgestellt.“ 11
Zusammengefaßt:
- Wir glauben nicht an Äußerungen, sondern an die geoffenbarte Wahrheit (wenn auch notwendigerweise durch Äußerungen).
- Die geoffenbarte Wahrheit, der Gegenstand des Glaubens, ändert sich nicht, aber die Äußerungen ändern sich, und zwar weder um neue Dinge hinzuzufügen, noch um die geoffenbarten Daten an eine bestimmte historische Situation anzupassen, sondern um Wahrheiten explizit zu machen, die implizit schon immer in der Offenbarung selbst enthalten waren.
- Deshalb bewahrt die Kirche, obwohl sie immer präzisere und deutlichere Äußerungen erwirbt, in ihrem Herzen durch die Jahrhunderte hindurch ein und denselben Glauben, die Teilhabe an der Erkenntnis, die Gott von sich selbst hat und die seligen Geister von ihm haben.
2. Zwei Arten von Erklärungen
Die Entwicklung der Explikation des einen Glaubens hat sich geschichtlich auf zwei verschiedene Arten vollzogen: die erste, bis zu Jesus Christus, durch die Hinzufügung von Wahrheiten, die der menschliche Verstand allein niemals hätte ausdrücken können; die zweite, nach Jesus Christus bis zur Parusie, d. h. nach dem Abschluß der Offenbarung.
Auf dem ersten Weg, d. h. beim kognitiven Fortschritt der Offenbarung im Alten Testament, gibt es eine objektive und wahre Implikation, aber eine, die so tiefgreifend ist, daß sie für unsere Intelligenz so ist, als gäbe es sie nicht, weil sie von unserer Intelligenz allein nicht erklärt oder entwickelt werden kann, sondern einen neuen Offenbarungsakt von seiten Gottes erfordert.
Wenn Jesus die Emmaus-Jünger wohlwollend zurechtweist und zu ihnen sagt: „Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Mußte nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ 12, macht er lediglich die gesamte heilige Geschichte deutlich und zeigt, wie sehr das Geheimnis seines Leidens und Sterbens in ihr enthalten ist. Aber nur Jesus kann die Schrift auf diese Weise öffnen, und erst nach seiner Erklärung können wir erkennen, wie die Schlußfolgerungen in den Prämissen enthalten sind. Der heilige Thomas sagt:
„Diese Erklärung wurde von Christus vollendet, sodaß es weder zulässig ist, etwas von seiner Lehre wegzunehmen, noch etwas hinzuzufügen, was das Wesentliche des Glaubens [= die Artikel] betrifft, wie es im letzten Kapitel der Offenbarung geschrieben steht. Vor dem Kommen Christi war sie hingegen nicht vollständig, sodaß sie selbst im gebildeten Menschen je nach den verschiedenen Epochen wuchs“.13
Die zweite Art, den Glauben zu erläutern, erfolgt nach dem Tod des letzten Apostels.
Nachdem er erklärt hat, wie die dogmatische Entwicklung von einigen Artikeln zu anderen durch neue Offenbarungen und abschließend durch Jesus Christus erfolgte, beschreibt der heilige Thomas die Entwicklung des Dogmas nach den Aposteln nicht mehr durch eine göttliche Erklärung, sondern durch das, was irgendwie aus dem Geoffenbarten folgt. Nach Christus ist der Fortschritt niemals ein neuer Artikel:
„(…) sondern etwas, das den Artikel begleitet (articulum concomitans): und in bezug darauf kann der Glauben jeden Tag erklärt werden, und ist durch das Studium der Heiligen [= theologische Orte] immer deutlicher geworden“.14
Nun müssen wir uns aber fragen, was dieses „Etwas, das den Artikel begleitet“, ist, von dem der Aquinat spricht?
„Der Artikel … ist teilbar (= erklärbar oder entfaltbar) in bezug auf die Dinge, die in der Potenz des Artikels enthalten sind, insofern, als derjenige, der eine Sache sagt, in gewissem Sinne viele Dinge sagt. Und dies sind die Dinge, die dem Artikel vorausgehen und die ihm nun folgen.“ 15
Dieses „Etwas, das den Artikel begleitet“, besteht also nicht aus neuen Wahrheiten, sondern aus etwas, das sich aus dem Erfassen der Bedingungen, die eine bestimmte Wahrheit begründen, und aus allem, was diese Wahrheit impliziert, ableiten läßt.
Und es ist wirklich wunderbar zu sehen, daß es der von der Liebe geprägte Glaube ist, der die Seele zum theologischen Denken und zu immer neuen Schlußfolgerungen antreibt: Der Glaube, was man erhofft16, die wahre Vorwegnahme der seligen Schau, ist auf dem Weg zu ihr und neigt dazu, soweit diese in diesem Leben möglich ist, sie vorwegzunehmen.
„(…) denn der Glaube, soweit er von sich aus ist, neigt sich hinreichend allem zu, was ihn begleitet oder ihm folgt oder vorausgeht.“ 17
3. Schlußfolgerungen
Warum dieser Exkurs? Weil es klar ist: Wenn jeder dogmatische Fortschritt notwendigerweise „etwas ist, das den Artikel begleitet“, und nicht eine neue Offenbarung, dann kann das gleiche „Etwas, das den Artikel begleitet“, weder im Gegensatz noch im Widerspruch zur Wahrheit des Glaubens stehen. Außerdem müssen durch einen angeblichen dogmatischen Fortschritt nicht zwangsläufig Häresien hervorgerufen werden.
Der heilige Thomas erklärt diesen Punkt wie folgt:
„Eine Sache kann auf zweierlei Weise zum Glauben gehören. Erstens, direkt… Indirekt jedoch gehören jene Dinge zum Glauben, aus deren Leugnung eine dem Glauben widersprechende Konsequenz gezogen wird“.18
„Wir sprechen hier von der Häresie, weil sie eine Verderbnis des christlichen Glaubens bedeutet… Und eine Sache kann auf zweierlei Weise zum Glauben gehören, wie oben gesagt wurde: erstens direkt und prinzipiell, als Artikel des Glaubens; zweitens auf indirekte und sekundäre Weise, als jene Behauptungen, aus denen eine Verneinung irgendeines Artikels folgt. Nun, in beiden Fällen kann etwas Gegenstand der Häresie sein, ebenso wie es Gegenstand des Glaubens sein kann.“ 19
„Aus diesem Grund sind viele Sätze, die früher nicht als häretisch galten, jetzt häretisch, weil man jetzt die Folgen, die sie haben, deutlicher sieht.“ 20
„Deshalb macht die Hartnäckigkeit, mit der jemand das Urteil der Kirche in Glaubensfragen ablehnt, sei es direkt [formell offenbart] oder indirekt [virtuell offenbart], einen Menschen zum Häretiker.“ 21
Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, wie bestimmte Aussagen, die sich unter den Gläubigen verbreiten, einerseits im Widerspruch zu dem stehen, was förmlich geoffenbart oder definitiv zu glauben vorgeschlagen ist; zum anderen, wie sich aus denselben Behauptungen wahre Häresien ergeben.
Folglich können diese Behauptungen keineswegs ein dogmatischer Fortschritt sein und sind tatsächlich nicht durch das gerechtfertigt, was der Verfasser der Antworten auf die Dubia in der ausweichenden Antwort, die wir wiederholt zitiert haben, ihnen zuschreibt.
III. Die homogene Entwicklung des Dogmas kann nicht widersprüchlich sein
1. Ein bißchen Logik.
Um zu zeigen, daß die homogene Entwicklung des Dogmas nicht widersprüchlich sein kann, ist eine kurze Erklärung der kontradiktorischen Gegensätze nützlich, d. h. einer Art und Weise, in der zwei Sätze einander widersprechen.
In der Logik spricht man von der Kontradiktion von Urteilen, d. h. von der Beziehung zwischen Sätzen, die sich bei gleichem Subjekt und gleichem Prädikat entweder qualitativ (bejahend oder verneinend) und/oder quantitativ (allgemein oder partikulär) unterscheiden. Die klassische Definition der Kontradiktion von Sätzen lautet:
„Bejahung und Verneinung desselben Sachverhalts unter demselben Gesichtspunkt“ (oppositio affirmationis et negationis quae est eiusdem de eodem).22
Kontradiktorische Gegensätze können untereinander konträr, subkonträr, subaltern und
superaltern sein:
Für den Zweck unserer Arbeit reicht es aus, nur kontradiktorische Sätze zu untersuchen, die sich sowohl quantitativ (der eine ist allgemein, der andere partikulär) als auch qualitativ (der eine ist bejahend, der andere ist verneinend) unterscheiden.
Aristoteles erklärt den kontradiktorischen Gegensatz folgendermaßen:
„Ich sage, daß eine Behauptung auf kontradiktorische Weise (ἀντιφατικῶς), wenn das Subjekt dasselbe bleibt, einer Verneinung entgegensteht, wenn die Behauptung von allgemeinem Charakter ist und die Verneinung nicht: Die Bejahung ‚jeder Mensch ist weiß‘ ist das Gegenteil der Verneinung ‚nicht jeder Mensch ist weiß‘, oder: der Satz ‚kein Mensch ist weiß‘ ist das Gegenteil des Satzes ‚einige Menschen sind weiß‘ “.23
Wir versuchen, dies anhand des Beispiels von Aristoteles weiter zu verdeutlichen:
Der Satz „Jeder Mensch ist weiß“ ist:
allgemein: Das Subjekt umfaßt alle Menschen, alle Subjekte einer Art;
bejahend: Er ist weiß, ist eine Behauptung.
Die Behauptung „Einige Menschen sind nicht weiß“ ist:
partikulär: Das Subjekt umfaßt nicht die Gesamtheit der Gattung Mensch;
verneinend: Er ist nicht weiß, ist eine Verneinung.
Es ist leicht zu erkennen, daß zwischen zwei widersprüchlichen Sätzen, wenn einer wahr ist, der andere notwendigerweise falsch ist. Um das Beispiel von Aristoteles zu nehmen: Wenn es wahr ist, daß jeder Mensch weiß ist, kann es unmöglich wahr sein, daß ein Mensch nicht weiß ist (= nicht jeder Mensch ist weiß).
Wie der heilige Thomas sagt, „reicht eine einzige bestimmte Negation aus, um einen
allgemeinen affirmativen Satz zu entkräften“ 24, und umgekehrt.
2. Der Widerspruch zwischen dem Dogma und einigen neuen Hypothesen
Betrachten wir einige Sätze, die zum Glaubensgut gehören, d. h. zu dem, was Gott geoffenbart hat und was die Kirche uns zu glauben vorlegt, und ihre Widersprüche:
(a) Ehebruch ist immer eine Todsünde – allgemeine Bejahung.
Widerspruch:
(a‘) Manchmal ist der Ehebruch keine Todsünde – partikuläre Verneinung.
Und Kardinal Walter Kasper spricht genau diese partikuläre Verneinung aus: „Manchmal
könnte vielleicht der Fall sein … einer wiederverheirateten geschiedenen Mutter, die aber ihre Tochter auf die heilige Kommunion ‚viel besser‘ vorbereitet hat“ als andere. „Eine Frau, die in der Kirche sehr aktiv war und die in der Caritas“. Der Priester hat dieser Mutter am Tag der Erstkommunion ihrer Tochter den Zugang zur Eucharistie nicht verboten. „Dieser Priester hatte recht“, so Kasper, „und ich habe das Papst Franziskus gesagt, der meine Haltung bestätigt hat.“ „Es ist der Priester, der eine Entscheidung treffen muß. Andererseits gibt es keine Lösung“.25
Oder der von den Bischöfen der argentinischen Kirchenprovinz Buenos Aires vorgebrachte Fall, in dem es heißt:
„Wenn die konkreten Umstände eines Paares es ermöglichen, insbesondere wenn beide Christen auf einem Glaubensweg sind, kann die Verpflichtung zu einem Leben in Enthaltsamkeit vorgeschlagen werden. Amoris Laetitia ignoriert die Schwierigkeiten dieser Entscheidung nicht (vgl. Fußnote 329) und läßt die Möglichkeit des Zugangs zum Sakrament der Versöhnung offen, wenn man nicht in der Lage ist, diese Absicht aufrechtzuerhalten“.26
Sehen wir nun den Widerspruch:
Wenn man sagt, daß Ehebruch manchmal keine Todsünde ist (wie in den oben genannten Fällen) – eine partikuläre verneinende Aussage –, dann erklärt man nolens volens die vom Katechismus der Katholischen Kirche de fide vorgelegte Lehre für falsch:
„Es gibt Handlungen, die wegen ihres Objekts in schwerwiegender Weise, unabhängig von den Umständen und den Absichten, aus sich und in sich schlecht sind, z. B. Gotteslästerung und Meineid, Mord und Ehebruch. Es ist nicht erlaubt, etwas Schlechtes zu tun, damit etwas Gutes daraus entsteht“.27
Diese Aussage läßt sich in den allgemeinen, bejahenden Satz fassen: Es gibt Handlungen (einschließlich des Ehebruchs), die immer unerlaubt sind.
Wenn wir einerseits die Behauptungen von Kardinal Kasper und der argentinischen Bischöfe betrachten und andererseits mit dem vergleichen, was der Katechismus sagt, ist entweder das eine oder das andere wahr. Aber da wir wissen, daß das, was de fide ist, wahr ist, ist das Zugeständnis an den besonderen Fall falsch; das heißt, dieses Zugeständnis kann weder als nicht im Widerspruch zum bisherigen Lehramt noch als besseres Verständnis desselben dargestellt werden. Wir haben nämlich gesehen, daß die wahre Entwicklung des katholischen Dogmas eine Verdeutlichung der Gewißheit ist, und eine Verdeutlichung, das Feststellen der Konsequenzen in den Prämissen kann kein Widerspruch sein.
Was oben gesagt wurde, kann auf andere partikuläre Fälle angewandt werden, die absolut unvereinbar mit dem Dogma sind:
b) Man kann niemals die Heilige Kommunion im Stand der Todsünde empfangen (allgemein verneinend).
b‘) In bestimmten Fällen kann man die Heilige Kommunion im Zustand der Todsünde empfangen (partikulär bejahend).
c) Alle, die die Absolution wünschen, müssen unbedingt die Absicht haben, nicht mehr zu sündigen (allgemein bejahend).
c‘) Jemand, der die Absolution erhalten möchte, muß nicht unbedingt die Absicht haben, nicht mehr zu sündigen (partikulär verneinend).
Bei diesen Paaren kontradiktorischer Sätze ist entweder der eine oder der andere wahr, aber nicht beide.
Betrachten wir noch einmal eine Aussage, diesmal von Kardinal Agostino Vallini von vor ein paar Jahren:
„Wenn aber die konkreten Umstände eines Paares es möglich machen, das heißt, wenn ihr Glaubensweg lang, aufrichtig und fortschreitend war, schlage man vor, in Enthaltsamkeit zu leben. Wenn diese Entscheidung aufgrund der Stabilität des Paares schwierig zu verwirklichen ist, schließt Amoris laetitia die Möglichkeit des Zugangs zur Buße und zur Eucharistie nicht aus“.28
Diese Aussage widerspricht notwendigerweise (und kann daher nicht ein besseres
Verständnis sein) dem Glaubensdogma, wie es von Johannes Paul II. zu Recht vorgelegt wurde:
„Unter den Handlungen des Büßers nimmt die Reue den ersten Platz ein. Sie ist ‚der Schmerz der Seele und der Vorwurf der begangenen Sünde, begleitet von dem Vorsatz, in Zukunft nicht mehr zu sündigen“ (Konzil von Trient: Denz.-Schönm., 1676; KKK 1451). Außerdem ist ‚der wesentliche Akt der Reue auf Seiten des Büßers, d. h. eine klare und entschiedene Ablehnung der begangenen Sünde, verbunden mit dem Vorsatz, sie nicht mehr zu begehen, aufgrund der Liebe, die man Gott entgegenbringt und die mit der Reue neu geboren wird. So verstanden ist die Zerknirschung also das Prinzip und die Seele der Bekehrung“.29
„…wenn diese Disposition der Seele fehlen würde, gäbe es in der Tat keine Reue: Dies bezieht sich nämlich auf das sittliche Übel als solches, und daher sich nicht gegen ein mögliches sittliches Übel zu wehren, hieße, das Böse nicht zu verabscheuen, keine Reue zu haben.“ 30
„Ich möchte daher bekräftigen, daß die Regel, mit der das Konzil von Trient die strenge Ermahnung des Apostels Paulus konkretisiert hat, indem es bekräftigt, daß für einen würdigen Empfang der Eucharistie „vorher die Beichte der Sünden erfolgen muß, wenn man sich einer Todsünde bewußt ist‘.“ 31
„Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht.“ 32
Wie man sieht, ist es leicht, die soeben zitierten päpstlichen Texte auf allgemeingültige Sätze zu reduzieren, und man findet den Gegensatz des Widerspruchs, vereinfacht in den oben dargestellten Schemata der Sätze a), a‘), b), b‘), c), c‘).
3. Schlußfolgerung
Nach den vorangegangenen Überlegungen kann man verstehen, warum die Kardinäle bei der Formulierung des ersten Dubiums darauf bestanden haben, „…ob die göttliche Offenbarung für immer verbindlich, unveränderlich und [ihr] nicht zu widersprechen“ ist und ob „…es möglich ist, daß die Kirche heute Lehren lehrt, die im Widerspruch zu denen stehen, die sie früher in Glaubensangelegenheiten gelehrt hat“.
Alle Umschreibungen, die Kardinal Fernández ausgeklügelt hat, um ein klares und eindeutiges Nein zu vermeiden, die einzige wirksame Barriere gegen Häresie, kollidieren und scheitern an der Lehre von der homogenen Entwicklung des Dogmas und der natürlichen Logik.
Kardinal Carlo Caffarra sagte:
„Selbst wenn man wollte, kann man nicht gegen den Grundsatz des Nicht-Widerspruchs denken. In diesem Fall würde man nämlich nicht denken. Bertrand Russel sagte: Viele haben versucht, die Logik zu brechen, aber die Logik hat alle gebrochen. Der moralischen Notwendigkeit kann man widersprechen, in dem Sinne, daß man gegen sie handeln kann. Auch dann handelt man. Aber ist die Notwendigkeit dann schwächer, weniger zwingend? Im Gegenteil: Sie zwingt mit solcher Kraft, daß, wenn man ihr nicht gehorcht, nicht einfach ein Mensch ist, der schlecht denkt, oder ein Mensch, der krank ist. Man ist eine Person, die als Person versagt hat. Das heißt, sie betrifft den Menschen in seinem Menschsein“.33
IV. Eine Aussage kann nicht als homogene Evolution betrachtet werden, aus der notwendigerweise Irrlehren folgen
Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, daß der wahre dogmatische Fortschritt eine Art Mäeutik ist, welche die in den Prämissen implizit enthaltenen Schlußfolgerungen erläutert. Daraus folgt, daß sie nicht wahr sein kann, wenn die Schlußfolgerung im Widerspruch zu den Prämissen steht.
Darüber hinaus ist es kein echter dogmatischer Fortschritt, eine Aussage zu machen, aus der sich Irrtümer ergeben, obwohl die Aussage selbst nicht in direktem Widerspruch zum Glauben steht – oder zu stehen scheint.
Mit anderen Worten: Die Häresie wird nicht nur dann offenbar, wenn sie offen dem widerspricht, was Teil des geoffenbarten Depositum ist, sondern auch, wenn aus ihr, als notwendige Schlußfolgerungen, andere Irrtümer hervorgehen.
Sehen wir nun, wie die Möglichkeit, die standesamtlich wiederverheirateten Geschiedenen zum Empfang der Eucharistie zuzulassen, notwendigerweise einen Widerspruch in bezug auf viele Glaubenswahrheiten mit sich bringt.
1. Wenn man in einem Punkt nachgibt, fällt alles in sich zusammen.
Kardinal Caffarra bekräftigte, anläßlich einer wichtigen Konferenz in Rom im November 201534, auf eine Frage nach der Möglichkeit, die standesamtlich wiederverheirateten Geschiedenen zum Empfang der Eucharistie zuzulassen, daß dies „nicht möglich ist“: und dies, weil „ein solches Zulassen bedeuten würde, die Lehre von der Ehe, der Eucharistie und der Beichte, der Kirche über die menschliche Sexualität zu ändern, und fünftens hätte es eine verheerende pädagogische Bedeutung, weil mit einer solchen Entscheidung konfrontiert vor allem junge Menschen berechtigterweise zu dem Schluß kommen könnten, daß es wirklich wahr ist: Es gibt keine unauflösliche Ehe“.35
Wir werden nun versuchen zu erklären, inwiefern Kardinal Caffarra vollkommen recht hat und wie die Praxis und/oder die Hypothese, standesamtlich wiederverheiratete Geschiedene zur Heiligen Kommunion zuzulassen in der Tat zu jenem lehrmäßigen Debakel führt, das er so klar vorausgesehen hat.
2. Die Glaubensartikel sind keine Sätze, die nichts miteinander zu tun haben
Die Sätze des Glaubensbekenntnisses werden Artikel genannt, weil sie miteinander verbunden sind, wie die Glieder des menschlichen Körpers verbunden sind: Leugnet man eine einzige Wahrheit des Glaubens, führt das dazu, daß man – als logische Konsequenz – viele andere leugnet, wenn nicht sogar alle.
Das Lehramt hat über diesen Zusammenhang zwischen den Glaubensaussagen nicht geschwiegen: Das Vaticanum I spricht von nexus mysteriorum inter se36, das Vaticanum II von einer Hierarchie der Wahrheiten37, der Katechismus hat beide Aussagen aufgegriffen und spricht von gegenseitiger Verbindung und Kohärenz der Dogmen.38
Kardinal Christoph Schönborn führte dann aus, daß mit Hierarchie der Wahrheiten nicht eine (nicht spezifizierte) Gruppe von bestimmten Wahrheiten gemeint seien – die für den Glauben verbindlich sind – und andere (wiederum nicht spezifizierte) fakultative Glaubenswahrheiten:
„Hierarchie der Wahrheiten bedeutet […] ein ‚organisches Strukturprinzip‘, nicht zu verwechseln mit den ‚Graden der Gewißheit‘. Dieses Prinzip besagt außerdem, daß die verschiedenen Glaubenswahrheiten zur/in Funktion eines Zentrums, einem zentralen Kern, angeordnet sind, nicht aber, daß Wahrheiten, die nicht im Zentrum stehen, gerade deshalb weniger wahr sind“.39
Dieser zentrale Kern, der im Katechismus des heiligen Pius X. als die beiden Hauptgeheimnisse des Glaubens bezeichnet wird (Einheit und Dreifaltigkeit Gottes und Menschwerdung, Leiden und Tod Unseres Herrn Jesus Christus), da die „organische Mitte“, schließen alle anderen Geheimnisse gewissermaßen in sich ein.
Nennen wir ein Beispiel, um dieses Konzept zu erklären: „Die Auferstehung der Toten“ hängt ab von „am dritten Tage auferstanden“: Nicht von ungefähr sagt der heilige Paulus, daß man, wenn man die Auferstehung der Toten leugnet, auch die Auferstehung Christi leugnet:
„Wenn aber verkündigt wird, daß Christus von den Toten auferweckt worden ist, wie können dann einige von euch sagen: Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht? Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferweckt worden!“ 40
So hängt das „ewige Leben“ also vom „Brot des Lebens“ ab:
„Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot ißt, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt“.41
Man versteht also, daß an einigen Orten, seit der Antike42, die Rezitation des Glaubensbekenntnisses in der Liturgie von einem Kreuzzeichen begleitet wurde (das bis heute nach der Rezitation des Glaubensbekenntnisse, in der ältesten Form des römischen Ritus, vorgeschrieben ist).
Das Kreuzzeichen – „ein bewundernswertes Zeichen, das auf großartige Weise den christologischen und erlösenden Ausdruck des Glaubens mit seinem trinitarischen Ausdruck verbindet“ 43 – das am Ende des Credo steht, zeigt an, daß die beiden
Hauptgeheimnisse alle soeben verkündeten Glaubensartikel in sich enthalten.
Diese enge Verbindung bedeutet aber auch, daß ein einziger nicht geglaubter Artikel auch die beiden Hauptgeheimnisse – oder den zentralen Kern – des Glaubens beschädigt.
3. Die Dominosteine.
Was bedeutet es also, standesamtlich wiederverheiratete Geschiedene, die weiter zusammenleben, zum Empfang der Heiligen Eucharistie zuzulassen?
Ich werde die zahlreichen Irrtümer aufzählen, die daraus folgen, von denen viele, wenn sie hartnäckig aufrechterhalten werden, wahre Häresien sind; insbesondere wenn man, ausgehend von Amoris laetitia, die 1994 von der Glaubenskongregation geforderten Bedingungen umgehen will, damit wiederverheiratete Geschiedene Zugang zur Eucharistie haben können:
„Das heißt konkret, daß, wenn die beiden Partner aus ernsthaften Gründen – zum Beispiel wegen der Erziehung der Kinder – der Verpflichtung zur Trennung nicht nachkommen können, ’sie sich verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, das heißt, sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten sind‘ “ [hl. Johannes Paul II.: Homilie zum Abschluß der Sechsten Bischofssynode, 25.10.1980, § 7].44
In diesem Sinn sprach sich in der Vergangenheit auch schon Kardinal Walter Brandmüller aus:
„Wer meint, daß beharrlicher Ehebruch und der Empfang der Heiligen Kommunion miteinander vereinbar sind, ist ein Häretiker und fördert das Schisma“.45
Sehen wir nun, wie ein Versuch, Ehebruch und Eucharistie miteinander vereinbar zu machen, fast das gesamte Gebäude unseres heiligen katholischen Glaubens zum Einsturz bringen würde.
1. Häresie: Es ist erlaubt, die Eucharistie nicht im Stand der Gnade Gottes zu empfangen.
Daß diese Aussage häretisch ist, ergibt sich aus der Tatsache, daß sie den Wahrheiten widerspricht, die von der Kirche auf der Grundlage der Heiligen Schrift beständig gelehrt wurden. So lehrt der hl. Johannes Paul II.:
„Ich wünsche daher, daß in der Kirche immer die Norm in Kraft ist und in Kraft bleiben wird, mit der das Konzil von Trient die ernste Mahnung des Apostels Paulus (vgl. 1 Kor 11,28) konkretisiert, indem es festhält, daß ‚dem würdigen Empfang der Eucharistie die Beichte vorausgehen muß, wenn einer sich einer Todsünde bewußt ist‘“.46
„Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht.“ 47
Um standesamtlich wiederverheiratete Geschiedene, die mit anderen zusammenleben, zum Empfang der heiligsten Eucharistie zuzulassen – im vergeblichen Versuch, der jahrhundertealten Tradition der Kirche nicht zu widersprechen –, muß man betonen, daß in manchen Fällen der Ehebruch keine Todsünde ist; doch damit fällt man in die folgenden zwei Irrlehren (die 2. und 3.):
2. Häresie: Es gibt keine an sich bösen Handlungen (d. h. Handlungen, die, wenn sie mit vollem Bewußtsein und mit bedachter Zustimmung begangen werden, immer schwere Sünden sind).
Der heilige Johannes Paul II. lehrt im Gegenteil:
„Im Licht der Offenbarung und der beständigen Lehre der Kirche und insbesondere des II. Vatikanischen Konzils… Jeder von uns weiß um die Bedeutung der Lehre, die den Kern dieser Enzyklika darstellt und an die heute mit der Autorität des Nachfolgers Petri erinnert wird. Jeder von uns kann den Ernst dessen spüren, worum es mit der erneuten Bekräftigung der Universalität und Unveränderlichkeit der sittlichen Gebote und insbesondere derjenigen, die immer und ohne Ausnahme in sich schlechte Akte verbieten, nicht nur für die einzelnen Personen, sondern für die ganze Gesellschaft geht.
In Anerkenntnis dieser Gebote vernehmen das Herz des Christen und unsere pastorale Liebe den Anruf dessen, der »uns zuerst geliebt hat« (1 Joh 4,19). Gott verlangt von uns, heilig zu sein, wie er heilig ist (vgl. Lev19,2), vollkommen zu sein – in Christus –, wie er vollkommen ist (vgl. Mt5,48): Die anspruchsvolle Festigkeit des Gebotes beruht auf der unerschöpflichen barmherzigen Liebe Gottes (vgl. Lk 6,36), und das Ziel des Gebotes ist es, uns mit der Gnade Christi auf den Weg der Fülle des Lebens der Kinder Gottes zu führen“.48
Und der Katechismus bekräftigt:
„Es gibt Handlungen, die wegen ihres Objekts in schwerwiegender Weise, unabhängig von den Umständen und den Absichten, aus sich und in sich schlecht sind, z. B. Gotteslästerung und Meineid, Mord und Ehebruch. Es ist nicht erlaubt, etwas Schlechtes zu tun, damit etwas Gutes daraus entsteht“.49
3. Häresie: Unzucht und Ehebruch sind nicht immer Todsünden.
Daß auch diese Aussage häretisch ist, zeigt sich daran, daß sie im Widerspruch zu dem steht, was zum Beispiel die Kongregation für die Glaubenslehre erklärt hat:
„Nach der christlichen Überlieferung und der Lehre der Kirche wie auch nach dem Zeugnis der gesunden Vernunft beinhaltet die sittliche Ordnung der Sexualität Werte von so großer Bedeutung für das menschliche Leben, daß jede direkte Verletzung dieser Ordnung objektiv schwerwiegend ist“.50
Um zu behaupten, daß Unzucht und Ehebruch nicht immer Todsünden sind, stößt man auf:
a) eine absurde Anwendung von Gaudium et spes, mit der argumentiert wird, daß in manchen Fällen die Sünde gut für die Liebe ist, indem man auf eine ehebrecherische Beziehung den Grundsatz anwendet, daß, wenn durch einige Ausdrücke der Intimität „nicht selten die Treue und das Wohl der Kinder gefährdet werden“ (Ökumenisches Konzil. Vat. II, Pastoralkonst. Gaudium et spes, 51; vgl. Amoris laetitia, Fußnote 329);
b) die 4. Häresie: Umstände können an sich schlechte Handlungen gutmachen.
Doch der KKK erklärt, stattdessen:
„Die Umstände können an sich die sittliche Beschaffenheit der Handlungen selbst nicht ändern; sie können eine in sich schlechte Handlung nicht zu etwas Gutem und Gerechtem machen“.51
Um zu behaupten, daß die Umstände das Übel der Unzucht und des Ehebruchs mildern können, verfällt man in zwei weitere Irrlehren:
5. Häresie: Manchmal kann es an der Hilfe Gottes fehlen, nicht zu sündigen.
6. Häresie: Es könnte Situationen geben, in denen es keine andere Möglichkeit gibt, als zu sündigen.
Doch der heilige Paulus sagt hingegen:
„Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, daß ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch in der Versuchung einen Ausweg schaffen, sodaß ihr sie bestehen könnt“.52
Und das Konzil von Trient definiert:
„Niemand aber, wie sehr er auch gerechtfertigt sein mag, darf meinen, er sei frei von der Beachtung der Gebote [can. 20], niemand jenes leichtfertige und von den Vätern unter Anathema verbotene Wort benützen, die Vorschriften Gottes seien für einen gerechtfertigten Menschen unmöglich zu beobachten [Kan. 18 und 22; vgl. DH 397]. ‚Denn Gott befiehlt nichts Unmögliches, sondern wenn er befiehlt, dann mahnt er, zu tun, was man kann, und zu erbitten, was man nicht kann‘, und er hilft, daß man kann; ‚seine Gebote sind nicht schwer‘ [Joh 5,3], sein Joch ist sanft und (seine) Last leicht’ [Mt 11,30]. Die nämlich Söhne Gottes sind, lieben Christus: Die aber ihn lieben, bewahren (wie er selbst bezeugt) seine Worte [vgl. Joh 14,23], was sie zumal mit göttlicher Hilfe leisten können“.53
Da man also, um zur heiligen Kommunion zu gehen, zur Beichte gehen muß, fällt das Bußsakrament auseinander, indem zugegeben werden muß:
7. Häresie: Es ist möglich, diejenigen freizusprechen, die nicht die Absicht haben, nicht mehr zu sündigen.
Wo doch der Katechismus lehrt:
„Unter den Akten des Pönitenten steht die Reue an erster Stelle. Sie ist „der Seelenschmerz und der Abscheu über die begangene Sünde, verbunden mit dem Vorsatz, fortan nicht zu sündigen“ (K. v. Trient: DS 1676)“.54
Und der heilige Johannes Paul II. erklärt:
„Der für den Beichtenden wesentliche Bußakt aber ist die Reue, die klare und entschiedene Verwerfung der begangenen Sünde zusammen mit dem Vorsatz, sie nicht mehr zu begehen(185) aufgrund der Liebe zu Gott, die mit der Reue wiedererwacht. Die so verstandene Reue ist also Anfang und Mitte der Bekehrung“.55
Derselbe heilige Pontifex bekräftigt:
„Wenn diese Disposition der Seele fehlen würde, gäbe es in Wirklichkeit keine Reue: Sie betrifft nämlich das sittliche Übel als solches, und deshalb hieße, sich nicht gegen ein mögliches sittliches Übel zu stellen, es nicht zu verabscheuen. Ein mögliches moralisches Übel nicht zu verabscheuen hieße, das Böse nicht zu verabscheuen, keine Reue zu haben“.56
Die Zulassung eines Menschen zur Heiligen Kommunion, der im Stand der Sünde lebt, impliziert eine weitere Häresie:
8. Irrlehre: Wer sich im Stand der Todsünde befindet, lebt in der Gnade Gottes.
Doch der Katechismus der Katholischen Kirche sagt:
„Die Todsünde ist wie auch die Liebe eine radikale Möglichkeit, die der Mensch in Freiheit wählen kann. Sie zieht den Verlust der göttlichen Tugend der Liebe und der heiligmachenden Gnade, das heißt des Standes der Gnade, nach sich“.57
Außerdem müssen wir uns fragen, was mit der früheren Ehe von standesamtlich wiederverheirateten Geschiedenen ist. Was geschieht mit ihr? Löst sie sich in Luft auf, bleibt sie bestehen, oder was? Wenn sie gescheitert ist, ist die Ehe dann nicht mehr vorhanden oder besteht sie fort?
Es wird schwierig, die folgende Aussage des Katechismus zu bewahren:
„Dieses nachdrückliche Bestehen auf der Unauflöslichkeit des Ehebandes hat Ratlosigkeit hervorgerufen und ist als eine unerfüllbare Forderung erschienen. Jesus hat jedoch den Gatten keine untragbare Last aufgebürdet [Vgl. Mt 11,29–30], die noch drückender wäre als das Gesetz des Mose“.58
Nach dieser Menge an Irrtümern erkennen wir nun ein großes Mißverständnis, das sich dahinter verbirgt: Es betrifft das Rechtsverständnis.
4. Die voluntaristische Auffassung des Gesetzes und die Häresie der Barmherzigkeit
Das Gesetz ist in der Geschichte des Denkens nach zwei Hauptparadigmen verstanden worden:
a) eine Auffassung, die wir als voluntaristisch bezeichnen können und die sich in dem Vers von Juvenal zusammenfassen läßt: „hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas“.59
Diesem Grundsatz zufolge hat ein Gesetz seine Daseinsberechtigung nur in dem Willen dessen, der es verkündet, sei er göttlich oder menschlich;
b) eine zweite Auffassung, die wir als intellektualistisch bezeichnen können und die auf dem Grundsatz beruht: „bonum est secundum rationem esse“. Das heißt, es gibt ein Sein, das dem Willen des Gesetzgebers vorausgeht, dem der Gesetzgeber selbst entsprechen muß. Aus diesem Grund konnte Johannes Paul II. feststellen: „In Anerkenntnis dieser Gebote vernehmen das Herz des Christen und unsere pastorale Liebe den Anruf dessen, der ‚uns zuerst geliebt hat‘ (1 Joh 4, 19). (…) Die anspruchsvolle Festigkeit des Gebotes beruht auf der unerschöpflichen barmherzigen Liebe Gottes (vgl. Lk 6, 36)“.60
Wenn man das Verbot für standesamtlich wiederverheiratete Geschiedene, sich der Eucharistie zu nähern, als unbarmherzige Handlung oder als grausames Werfen eines Steins betrachtet, läuft man Gefahr, sich auf die erste Auffassung des Gesetzes zu stützen: Nach dieser Auffassung beschließen die Menschen (die neuen pelagianischen Pharisäer), eine bestimmte Last oder ein bestimmtes Gewicht aufzuerlegen; wenn diese Gewichte nur vom Willen des Gesetzgebers abhingen, könnten sie tatsächlich unerträglich sein.
Wenn aber das Gesetz in das Herz eines jeden Menschen eingeschrieben ist und von einem weisen Plan Gottes abhängt…, wenn der Vater bei der Erschaffung des Menschen auf diesen Plan geschaut hat, der eine Person ist, das Wort („Als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm“, Spr 8,30), nach dem und im Hinblick auf den alle Dinge geschaffen wurden…, dann kann es keine Barmherzigkeit sein, den Menschen nicht das sein zu lassen, was er ist.
Das Gesetz leitet den Menschen dazu an, gemäß seiner eigenen Natur zu leben, das heißt, wie der hl. Thomas von Aquin sagt, in sich selbst das Bild Gottes zu verwirklichen.61
Mit falscher Barmherzigkeit eine schlechte Tat zu dulden, bedeutet, dem Menschen zu sagen: „Da ich barmherzig bin, erlaube ich dir, das göttliche Bild in dir nicht zu verwirklichen“. Die Alternative ist nicht nur das Fehlen des Vortrefflichen, sondern der Tod, der Lohn der Sünde, ein tödlicher Ausgang, den der Teufel zu verbergen versucht: „Nein, ihr werdet nicht sterben“.62
Es kann keine Barmherzigkeit sein, den Menschen glauben zu machen, es sei gut, was stattdessen sein Übel ist, und zwei Menschen, die nicht Mann und Frau sind, zu ermutigen, so zu leben, als ob sie es wären.
Es kann auch keine Barmherzigkeit sein, die Menschen dazu zu bringen, ein Sakrament anzunehmen, das die vollkommene Vereinigung mit Christus durch den Glauben und die Liebe bedeutet, wenn diese Vereinigung nicht vollkommen ist, sondern unvollkommen ist, was den Glauben betrifft, und unvollkommen in der Kraft, was die Liebe betrifft. Die so angenommenen konsekrierten Gestalten sind auf diese Weise in einem Körper gefangen, ohne daß sie in irgendeiner Weise demjenigen zugute kommen können, der sie – ohne die entsprechenden Voraussetzungen – empfängt.
Die voluntaristische Auffassung des Gesetzes ist eine Art von transversaler Häresie, die die heutige kirchliche Atmosphäre durchdringt, der Humus, in dem sich da die eine, dort die andere der oben beschriebenen Irrlehren ausbreiten.
Schlußfolgerung
Es ist tatsächlich wahr, daß der Teufel, indem er einerseits durch die Förderung der Häresie die Menschen dazu bringt, das Prinzip des Nicht-Widerspruchs zu verletzen, in anderer Hinsicht, wie Dante sagt, löico63, äußerst logisch, ist, und, nachdem er ein falsches Prinzip aufgestellt hat, daraus mit vollkommener Konsequenz eine lange Reihe von Häresien ableitet.
Aber wenn der Teufel logisch ist, so ist die Gottesmutter weise, und mit ihrer Weisheit, die sie ihren Anhängern einflößt, zertritt sie den Kopf der häretischen Schlange. Möge das Warten auf den sicheren Sieg abgekürzt werden.
*Don Alfredo Morselli, Priester der Erzdiözese Bologna, promovierter Fundamentaltheologe, zelebriert seit seiner Priesterweihe 1986 ausschließlich im überlieferten Römischen Ritus, De-facto-Pfarrer einer Bergpfarrei, offiziell nur Offiziant (Zelebrant). Er betreibt den Blog Il Pensiero cattolico (Das katholische Denken). Für einen ausführlicheren Lebenslauf siehe hier.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
1 Walter Brandmüller, Raymond Burke, Juan Sandoval Íñiguez, Robert Sarah und Joseph Zen.
2 Siehe nachstehende Erstformulierung des ersten Dubiums.
3 Die Erstformulierung der Dubia (10.07.2023), die Antwort von Papst Franziskus (11.07.2023) (siehe hier).
4 Es wird davon ausgegangen, daß der eigentliche Autor der Antworten Kardinal Fernández ist.
5 Kardinal Zen hat auf seiner persönlichen Internetseite eine erste Gesamtkritik an allen Antworten formuliert (siehe hier).
6 1 Kor 11,3–10: Ihr sollt aber wissen, daß Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi. Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt. Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahl scheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen. Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann. Deswegen soll die Frau mit Rücksicht auf die Engel das Zeichen ihrer Vollmacht auf dem Kopf tragen. (CEI 2008, hier zitiert nach der EÜ).
1 Tim 2,11–14: Eine Frau soll sich still und in aller Unterordnung belehren lassen; daß eine Frau lehrt, erlaube ich nicht, auch nicht, daß sie über ihren Mann herrscht; sie soll sich still verhalten. Denn zuerst wurde Adam erschaffen, danach Eva. Und nicht Adam wurde verführt, sondern die Frau ließ sich verführen und übertrat das Gebot. (CEI 2008, hier zitiert nach der EÜ).
7 Papst antwortet auf „Zweifel“ von fünf Kardinälen, VaticanNews, 02.10.2023.
8 Zur Entfaltung dieses Arguments beziehe ich mich auf F. Marin-Sola O.P.: La evolucion omogenea del dogma catolico, Madrid-Valencia: BAC, 1958/2, insbesondere die S. 573–578.
9 Summa Theologiae, IIª-IIae q. 1 a. 2 ad 2: “Actus autem credentis non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem, non enim formamus enuntiabilia nisi ut per ea de rebus cognitionem habeamus, sicut in scientia, ita et in fide“.
10 De veritate, q. 14 a. 12 co. [Duodecimo quaeritur utrum una sit fides modernorum et antiquorum]: “Et ideo dicendum est, quod obiectum fidei dupliciter potest considerari. Vel secundum se, prout est extra animam; et sic proprie habet rationem obiecti, et ab eo accipit habitus multitudinem vel unitatem. Vel secundum quod est participatum in cognoscente. Dicendum est igitur, quod si accipiatur id quod est obiectum fidei, scilicet res credita, prout est extra animam, sic est una quae refertur ad nos et antiquos: et ideo ex eius unitate fides unitatem recipit. Si autem consideretur secundum quod est in acceptione nostra, sic plurificatur per diversa enuntiabilia; sed ab hac diversitate non diversificatur fides. Unde patet quod fides omnibus modis est una“.
11 Summa Theologiae, IIª-IIae q. 1 a. 7 co.: “Sic igitur dicendum est quod, quantum ad substantiam articulorum fidei, non est factum eorum augmentum per temporum successionem, quia quaecumque posteriores crediderunt continebantur in fide praecedentium patrum, licet implicite. Sed quantum ad explicationem, crevit numerus articulorum, quia quaedam explicite cognita sunt a posterioribus quae a prioribus non cognoscebantur explicite”.
12 Lk 24,25–27.
13 Super Sent., lib. 3 d. 25 q. 2 a. 2 qc. 1 ad 5: “…et haec explicatio completa est per Christum: unde eius doctrinae quantum ad essentialia fidei nec addere nec diminuere licet, ut dicitur Apocal. ult. Sed ante Christi adventum non erat completa; unde etiam quantum ad majores crescebat secundum diversa tempora”.
14 Ibidem: “Alio modo id quod in articulo continetur, non est articulus, sed aliquid concomitans articulum; et quantum ad hoc potest fides quotidie explicari, et per studium sanctorum magis et magis explicata fuit”.
15 Super Sent., lib. 3 d. 25 q. 2 a. 2 qc. 1 ad 4.: “Ad quartum dicendum, quod articulus dicitur indivisibilis veritas quantum ad id quod actu explicatur in articulo; sed est divisibilis quantum ad ea quae potentia continentur in articulo, secundum quod qui dicit unum, quodammodo dicit multa: et haec sunt ea quae praecedunt ad articulum, et consequuntur ad ipsum: et quantum ad hoc potest explicari et dividi articulus fide”.
16 Hebr 11,1.
17 Super Sent., lib. 3 d. 24 q. 1 a. 2 qc. 2 co.: “quia fides, quantum in se est, ad omnia quae fidem concomitantur vel sequuntur vel praecedunt sufficienter inclinat”.
18 Summa Theologiae, Iª q. 32 a. 4 co.: “Respondeo dicendum quod ad fidem pertinet aliquid dupliciter. Uno modo, directe; sicut ea quae nobis sunt principaliter divinitus tradita, ut Deum esse trinum et unum, filium Dei esse incarnatum, et huiusmodi. Et circa haec opinari falsum, hoc ipso inducit haeresim, maxime si pertinacia adiungatur. Indirecte vero ad fidem pertinent ea ex quibus consequitur aliquid contrarium fidei”.
19 Summa Theologiae, IIª-IIae q. 11 a. 2 co.: “Respondeo dicendum quod de haeresi nunc loquimur secundum quod importat corruptionem fidei Christianae… Ad quam aliquid pertinet dupliciter, sicut supra dictum est, uno modo, directe et principaliter, sicut articuli fidei; alio modo, indirecte et secundario, sicut ea ex quibus sequitur corruptio alicuius articuli. Et circa utraque potest esse haeresis, eo modo quo et fides”.
20 Summa Theologiae Iª q. 32 a. 4 co.: “Et propter hoc, multa nunc reputantur haeretica, quae prius non reputabantur, propter hoc quod nunc est magis manifestum quid ex eis sequatur”.
21 Super I Cor. [reportatio vulgata], cap. 11 l. 4: “Sic igitur pertinacia qua aliquis contemnit in his quae sunt fidei directe vel indirecte subire iudicium Ecclesiae, facit hominem haereticum”.
22 Hl. Thomas von Aquin: Expositio Peryermeneias, lib. 1 l. 10 n. 1: “Quia philosophus dixerat oppositionem affirmationis et negationis esse contradictionem, quae est eiusdem de eodem…”.
23 Περί ἑρμηνείας 7, 17b 16–19: “Ἀντικεῖσθαι μὲν οὖν κατάφασιν ἀποφάσει λέγω ἀντιφατικῶς τὴν τὸ καθόλου σημαίνουσαν τῷ αὐτῷ ὅτι οὐ καθόλου, οἷον πᾶς ἄνθρωπος λευκός—οὐ πᾶς ἄνθρωπος λευκός, οὐδεὶς ἄνθρωπος λευκός—ἔστι τις ἄνθρωπος λευκός”.
24 Expositio Peryermeneias, lib. 1 l. 11 n. 4: “universalis autem affirmativa removetur per solam negationem particularis”.
25 Lorenzo Bertocchi: Kasper: Divorziati risposati, il Papa ha aperto la porta, La Nuova Bussola Quotidiana, 26.04.2016.
26 Criterios básicos para la aplicación del capítulo VIII de Amoris laetitia, InfoCatolica. Der Papst hat Msgr. Sergío Alfredo Fenoy, dem Delegierten der Pastoralregion Buenos Aires, geschrieben, daß dieses Dokument die einzig mögliche Interpretation von Amoris laetitia ist: “El escrito es muy bueno y explícita cabalmente el sentido del capítulo VIII de Amoris laetitia. No hay otras interpretaciones“.
27 KKK § 1756.
28 Zitiert nach Andrea Tornielli: „Dubia“ sui sacramenti ai risposati, la via di Vallini, La Stampa, 07.01.2017.
29 Hl. Johannes Paul II.: Brief an Kard. William W. Baum aus Anlaß des Kurses über das Forum internum, organisiert von der Apostolischen Pönitentiarie, 22.03.1996, § 5.
30 Ibid. § 5.
31 Hl. Johannes Paul II.: Enzyklika Ecclesia de Eucharistia, 17.04.2003, § 36.
32 Hl. Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 22.11.1981, § 84.
33 Kard. Carlo Caffarra: Fondamenti dogmatici, Ars, Oktober 1993.
34 “Permanere nella verità di Cristo”, Internationale Tagung mit Blick auf die Familiensynode, Rom, 30.09.2015. Für eine umfassende Zusammenfassung s. Giuseppe Rusconi: Convegno all’Angelicum: fedeli alla dottrina sociale.
35 Das Video mit dem Interview.
36 Conc. Ecum. Vat. I, Dei Filius: “Ac ratio quidem, fide illustrata, cum sedulo pie et sobrie quaerit, aliquam Deo dante mysteriorum intelligentiam eamque fructuosissimam assequitur tum ex eorum, quae naturaliter cognoscit, analogia, tum e mysteriorum ipsorum nexu inter se et cum fine hominis ultimo”, Denz.-Schönm./26, 3016.
37 Conc. Ecum. Vat. II, Unitatis redintegratio, 11: “(…) es eine Rangordnung oder „Hierarchie“ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens”.
38 KKK § 90: „Die wechselseitigen Verbindungen zwischen den Dogmen und ihr innerer Zusammenhang sind in der Offenbarung des Mysteriums Christi als ganze zu finden [Vgl. 1. Vatikanisches K.: „nexus mysteriorum“: DS 3016; LG 25]“.
39 Joseph Ratzinger/Christoph Schönborn: Breve introduzione al catechismo della Chiesa cattolica, Roma 1994, S. 41.
40 1 Kor 15,12–13.
41 Joh 6,51.
42 Vgl. z. B. Reden des hl. Petrus Chrysologus 57, 59 und 60 (PL XXXII, 360 D, 365 B, 368 C).
43 “Signe admirable, qui joint magnifiquement l’expression christologie et rédemptrice de la foi à son expression trinitaire”; H. de Lubac: La foi chrétienne. Essai sur la structure du Symbole des Apôtres, Paris:Aubier-Montaigne, 1970/2, S. 91.
44 Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über den Kommunionempfang von wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen, 14.09.1994, § 4.
45 “Wer fortgesetzten Ehebruch und den Empfang der Heiligen Kommunion für vereinbar hält, ist Häretiker und treibt das Schisma voran”, Der Spiegel, 23.12.2016.
46 Enzyklika Ecclesia de Eucharistia, 17.04.2003, § 36.
47 Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, 22.11.1981, § 84.
48 Enzyklika Veritatis splendor, 06.08.1993, § 115 (Hervorhebung durch den Autor).
49 KKK § 1756.
50 Kongregation für die Glaubenslehre: Persona humana. Erklärung zu einigen Fragen der Sexualethik, 29.12.1975.
51 KKK § 1754.
52 1 Kor 10,13.
53 Dekret über die Rechtfertigung, 13.01.1547, Sessio VI, cap. 11, Denz.-Schönm./40, 1536.
54 KKK § 1451.
55 Apostolisches Schreiben Reconciliatio et paenitentia, 02.12.1984, § 31, III.
56 Brief an Kard. William W. Baum aus Anlaß des Kurses über das Forum internum organisiert von der Apostolischen Pönitentiarie, 22.03.1996, § 5.
57 KKK § 1861.
58 KKK § 1615.
59 Satura VI, 223.
60 Enzyklika Veritatis splendor, 06.08.1994, § 115.
61 Summa Theologiae, Iª-IIae pr.: “…restat ut consideremus de eius imagine, id est de homine, secundum quod et ipse est suorum operum principium, quasi liberum arbitrium habens et suorum operum potestatem”.
62 Gen 3,4.
63 Hölle, XXVII, 123.