
(Rom) Papst Franziskus suchte gestern überraschend den Palazzo Madama auf, um dem dort aufgebahrten Leichnam des ehemaligen italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano (laizistisch) die letzte Ehre zu erweisen. Napolitano war am vergangenen Freitag im Alter von 98 Jahren verstorben.
Franziskus ließ sich mit einem Auto zum Sitz des italienischen Senats bringen, wo er der anwesenden Witwe sein Beileid ausdrückte und dann einige Augenblicke schweigend vor dem Sarg verharrte. Kein Kreuzzeichen, kein erkennbares Gebet… Ein laizistischer Abschied? Begründet wurde der Besuch mit dem Hinweis, daß Napolitano 2013, als Franziskus gewählt wurde, Italiens Staatsoberhaupt war.

Es handelte sich zugleich um den ersten Besuch eines Papstes im Palazzo Madama, der seit 1871 Amtssitz des italienischen Senats (bis 1947 des Königreichs, seither der Republik Italien) ist. Benannt ist der römische Renaissance-Palast mit Barockfassade nach Margarethe von Österreich, einer Tochter von Kaiser Karl V. Bevor der Palast nach der Eroberung Roms durch italienische Truppen beschlagnahmt wurde, befanden sich darin das Finanzministerium des Kirchenstaates und die päpstliche Postverwaltung.
Der Besuch war vom Heiligen Stuhl nicht öffentlich angekündigt worden. Begrüßt wurde Franziskus von Ignazio La Russa (Fratelli d’Italia), dem amtierenden Senatspräsidenten.
Nach dem Bekanntwerden von Napolitanos Ableben hatte Franziskus bereits ein Beileidstelegramm an die Familie geschickt, in dem er den Verstorbenen als „Staatsmann“ mit „großen intellektuellen Fähigkeiten“ und „beseelt von der Suche nach dem Gemeinwohl“ bezeichnete.
Das hatte man vor Franziskus schon einmal anders gesehen.
Vom Stalinisten zum Atlantiker
Der am 29. Juni 1925 geborene Giorgio Napolitano entstammte einer bürgerlichen Familie Neapels. Sein Vater Giovanni Napolitano war ein bekannter Rechtsanwalt, Liberaler und führender Freimaurer in der einstigen Hauptstadt des Königreichs Beider Sizilien. Die Mutter entstammte piemontesischem Adel.
Kriegsbedingt wurden Napolitano zwei Schuljahre nachgelassen, sodaß er bereits im Herbst 1942 an der Universität seiner Heimatstadt immatrikulieren konnte, wo er Mitglied der faschistischen Studentenorganisation GUF wurde, für die es nur eine freiwillige Mitgliedschaft gab, da Benito Mussolini daraus „die zukünftige faschistische Führungsschicht“ formen wollte. 1944, Neapel war bereits von den Alliierten kontrolliert, in Norditalien, wo es eine starke Partisanentätigkeit gab, wurde aber noch gekämpft, knüpfte Napolitano, wie viele gleichaltrige Intellektuelle, Kontakte zu kommunistischen Kreisen. 1945 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens (KPI).
1947 schloß er sein Jurastudium ab. Doch anstatt wie sein Vater Rechtsanwalt zu werden, wurde er im Alter von 22 Jahren unter dem unumstritten kommunistischen Anführer Palmiro Togliatti hauptamtlicher Parteifunktionär. Togliatti, der seit 1927 (mit kurzer Unterbrechung) Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens war und sich zum Erben Antonio Gramscis, seines Vorgängers als KP-Vorsitzenden, erklärt hatte, war 1944 aus dem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrt. Der 27jährige Napolitano wird 1953 von der KP in die Abgeordnetenkammer des Italienischen Parlaments entsandt, der er bis 1996, ganze 43 Jahre lang, angehören sollte.
Napolitano ist bedingungslos auf Parteilinie und daher auch überzeugter Stalinist. 1956 wird er vom Parteikongreß mit Unterstützung Togliattis in das Zentralkomitee der KPI gewählt. Kurz darauf verurteilt er den Ungarischen Volksaufstand. Während andere Intellektuelle, die mit dem Kommunismus sympathisiert hatten, sich entsetzt abwenden, als die Rote Armee den Aufstand brutal niederschlägt, verteidigt Napolitano das sowjetische Vorgehen öffentlich und energisch. Er bejubelt die Sowjetpanzer als „Freiheitsbringer“, wofür er sich später, viel später – als man ihn nach der Wende, als er sich auf dem Weg in die höchsten Staatsämter befindet, damit konfrontiert – entschuldigt. Doch 1968 unterstützte er auch die Sowjetpanzer, die den „Prager Frühling“ niederwalzten, wofür sich Napolitano nie entschuldigte. Doch Kommunisten werden solche „Kleinigkeiten“ großzügig nachgesehen. Vielleicht deshalb, weil die Medienmacher in der großen Mehrzahl auch links sind?

Noch in den 60er Jahren wurde ihm, wie anderen kommunistischen Funktionären, die Einreise in die USA verweigert, doch das ändert sich dann. Napolitano wird „Schattenaußenminister“ der oppositionellen KPI. Er wird unter US-Präsident Jimmy Carter mitten im Kalten Krieg als erster kommunistischer Funktionär zu einer Vortragsreise in die USA eingeladen, um an den renommiertesten Universitäten zu sprechen. Das geschieht just zu der Zeit, als in Italien der damalige Vorsitzende der regierenden Christdemokraten und ehemalige Ministerpräsident Aldo Moro von den Roten Brigaden entführt und ermordet wird – ein Mord, der die italienische Öffentlichkeit zutiefst erschütterte und dessen Hintergründe bis heute nicht restlos aufgeklärt sind. Es folgen weitere Reisen Napolitanos nach Washington, die belegen, daß er von den „Atlantikern“ als verläßlich eingestuft wurde.
Es gilt in Rom als offenes Geheimnis, daß sein Vater dem Sohn nicht nur die Liebe zu den Paragraphen, sondern auch zur großen „Bruderschaft“ vermittelt habe, der die Familie seit der Zeit der Parthenopäischen Republik von 1799 verbunden ist. Eine (angelsächsische) Logenmitgliedschaft Napolitanos wird auch von Giuliano Di Bernardo, ehemaliger Großmeister des freimaurerischen Großorients von Italien, angedeutet. Belege dafür gibt es, im Gegensatz zur Logenmitgliedschaft des Vaters und Großvaters und… aber keine. Als am 13. Juni 2010 Gustavo Raffi, der damalige Großmeister des freimaurerischen Großorients von Italien, in einer Fernsehsendung überraschend gefragt wurde, ob Staatspräsident Napolitano, aus dem Blickwinkel der „Werte“ betrachtet, ein Freimaurer sein könnte, antwortete dieser: „Meiner Meinung nach ja, für die Menschlichkeit, die Gelassenheit, die Intelligenz, dafür, daß er den Stein bearbeitet hat, dafür, daß er ihn geglättet hat, ich sage das in der Sprache der Freimaurer, in diesem Sinne ja.“
Noch bezeichnender dürfte es sein, daß der Großorient von Italien an seinem Hauptsitz derzeit zu Ehren Napolitanos Trauerbeflaggung zeigt.

Für andere zählen mehr Napolitanos Verbindungen zur CIA. Doch auch diese können nicht direkt nachgewiesen werden, nicht für Napolitano, sehr wohl aber für seinen politischen Mentor in der Kommunistischen Partei, den ebenfalls aus Neapel stammenden Giorgio Amendola (1907–1980).
Die Familien Amendola und Napolitano waren in den Reihen der parthenopäischen Freimaurerei miteinander verbunden. Amendolas Vater war ein beschürzter Bruder, sozialistischer Abgeordneter, einige Zeit Theosoph der Blavatsky-Schule mit besonderem Interesse für Esoterik. Seine Mutter Eva Kühn war eine deutschsprachige litauische Jüdin, die dem Futurismus anhing. Das Paar lernte sich in theosophischen Zirkeln kennen und heiratete in einer Waldenserkirche, obwohl es dieser nicht verbunden war.
Napolitano blieb Mitglied der Kommunistischen Partei bis zu deren Selbstauflösung im Jahr 1991, um genau zu sein, bis zu deren Umbenennung in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), dann in Linksdemokraten, seit 2007 nach US-amerikanischem Vorbild nur mehr Demokratische Partei (PD). Nur letzterer Nachfolgepartei gehörte er formal nicht mehr an, weil er inzwischen zum Staatspräsidenten gewählt worden war. Die Kommunisten – Italien hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die größte kommunistische Partei des Westens – vollziehen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende der Sowjetunion eine Häutung. Nur einige Ideologen halten als sogenannte „Altkommunisten“ an Hammer und Sichel fest. Der wendigere Teil erklärt sich selbst für „sozialdemokratisiert“ und sucht sich mit der „einzigen verbliebenen Weltmacht“ für neue linksliberale Mehrheiten zu arrangieren. Seiner Autobiographie gab Napolitano den ehrlicheren Untertitel: „Von der KPI zum europäischen Sozialismus“.
Der Lohn der neuen Allianz
Napolitano wird 1992 Präsident der italienischen Abgeordnetenkammer, 1996 Innenminister, 1999 wechselt er ins EU-Parlament, dem er bereits 1989 bis 1992 angehört hatte. 2005 erhält er einen Sitz im italienischen Senat und wird schließlich 2006 von der Nationalversammlung als erster Ex-Kommunist zum elften Präsidenten der Italienischen Republik gewählt. Als 2015 sein Mandat ausläuft, wird er automatisch zum Senator auf Lebenszeit. Als Staatspräsident war er ein Garant für die Mächtigen. Als er 1996 auf dem Viminal sein Amt als Innenminister antrat, tat er dies mit den Worten: „Ich bin nicht gekommen, um die Schränke des Viminals zu öffnen“. Ein eindeutiges Signal, daß sich bestimmte Personen keine Sorgen machen mußten, nicht in Italien, nicht in Washington, nicht in…
Napolitano verbrachte ein Leben im Kreis der Macht und wußte sich unter den Mächtigen zu bewegen. Obwohl er in der Öffentlichkeit kategorisch parteilinientreu war, pflegte er zugleich atlantische Kontakte. Henry Kissinger begrüßte ihn 2001 herzlich mit den Worten: „Mein Lieblingskommunist“.
Als dunkler Schatten auf Napolitanos Amtszeit als Staatspräsident liegt seine Weigerung vom 6. Februar 2009, eine Notverordnung der italienischen Regierung – damals war Silvio Berlusconi Ministerpräsident – zu unterzeichnen, mit der die Euthanasierung der Wachkomapatientin Eluana Englaro verhindert werden sollte. Die junge Frau ließ man in einem Krankenhaus elend verhungern und verdursten, als die Regierung Berlusconi in extremis mit einer Notverordnung sie zu retten versuchte. Um den Fall Englaro war eine heftige Diskussion über die Euthanasie entbrannt, bei dem sich katholische und antiklerikale Kräfte erbittert gegenüberstanden. Napolitano schlug sich mit seiner Entscheidung auf die Seite der Euthanasie-Befürworter und besiegelte damit Englaros Tod.
In atlantischer Treue sorgte Napolitano dafür, daß Italien die Pläne zum Sturz von Muammar al-Gaddafi in Libyen unterstützte, mit allen verheerenden Folgen, die sich bis heute daraus ergeben. Libyen existiert seither als Staat nur mehr auf dem Papier und macht seither die berüchtige Mittelmeerroute, Symbol der illegalen Masseneinwanderung nach Europa, möglich.
In einem autokratischen Akt erzwang Napolitano 2011 innerhalb von vier Tagen den Rücktritt Berlusconis als Ministerpräsident, ernannte er den ehemaligen EU-Kommissar, internationalen Beirat von Goldman Sachs und Mitbegründer der Spinelli-Gruppe Mario Monti zum Senator auf Lebenszeit und setzte dessen Ernennung zum neuen Ministerpräsidenten durch, dem selbst Berlusconi und seine Partei zustimmen mußten.
Berlusconi hatte Verhandlungen über einen Austritt Italiens aus dem Euro beginnen wollen, was sofort durch eine Strafaktion unterbunden wurde. Der „Staatsstreich“ zur Beseitigung einer rechtmäßig gewählten Regierung eines souveränen Staates erfolgte im Sinne der EU und der Europäischen Zentralbank. Und Napolitano war ihr ausführendes Organ. Der Sturz eines italienischen Ministerpräsidenten ohne Zustimmung oder zumindest Duldung Washingtons, wo damals Barack Obama regierte, wäre natürlich nicht möglich gewesen. Um in Italien ausreichend Kräfte für den Putsch zu gewinnen oder andere zu einem Stillhalten zu bewegen, wurden dem Land vom Weltwährungsfonds 135 Milliarden Euro zugeschoben. Auch Berlusconi selbst, der den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte, schwieg dazu. Außerhalb Italiens erfuhr die breite Öffentlichkeit kaum etwas über die Hintergründe. Eine der zahlreichen medialen „Bunga Bunga“-Kampagnen über Berlusconi sorgte für die nötige Ablenkung.
Die „laizistische Staatstrauerfeier“
Am 22. September verstarb Giorgio Napolitano in der römischen Klinik mit dem Namen „Salvator Mundi“.
Giorgio Napolitano, der erste Kommunist, der zwischen 2006 und 2015 das höchste Staatsamt innehatte, starb am Freitagnachmittag im Alter von 98 Jahren in der Klinik „Salvator Mundi“ in Rom. Am morgigen Dienstag wird erstmals für einen ehemaligen Staatspräsidenten auf seinen Wunsch hin ein laizistisches Staatsbegräbnis stattfinden. Der Staatsakt wird vom italienischen Fernsehen direkt übertragen werden. Bereits andere ehemalige kommunistische Parteiführer, die höchste Ämter im Staat bekleideten, hatten einen solchen areligiösen Akt verlangt, so die beiden ehemaligen Parlamentspräsidenten Pietro Ingrao (1976–1979) und Nilde Iotti (1979–1992), Togliattis Lebensgefährtin, die heute auf der Website der Europäischen Union als „EU-Pionierin“ gefeiert wird. Bei ihrer „laizistischen Trauerfeier“ hielt Napolitano eine Rede.
Die italienische Öffentlichkeit wird derzeit darüber aufgeklärt, was eine „laizistische Staatstrauerfeier“ ist. „Die Alternative zum Gottesdienst, die für diejenigen vorgesehen ist, die keinem Glaubensbekenntnis angehören, hat kein vorher festgelegtes Ritual“, so die Presseagentur ADN Kronos heute.
Was aber veranlaßte Papst Franziskus gestern zum Besuch im Palazzo Madama, da Napolitano auch im Tod bekannte, weder Katholik noch Christ zu sein und keine religiöse Verabschiedung zu wollen? Nur taktisches Kalkül?
2021 schrieb der Historiker und katholische Intellektuelle Roberto de Mattei zum hundersten Gründungstag der Kommunistischen Partei Italiens:
„Für Papst Franziskus wie für [Enrico] Berlinguer [KPI/PCI-Vorsitzender von 1972 bis 1984] zählt die Praxis mehr als die Lehre, das Handeln mehr als das Denken, das Ergebnis mehr als die Mittel, um es zu erreichen. In einem Aufsatz über ‚Lenin und unsere Partei‘, der im Mai 1960 in der Rinascita erschien, faßte Palmiro Togliatti das Wesen des Marxismus-Leninismus in einem Zitat von Marx und Engels zusammen:
‚Unsere Theorie ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln.‘
Der Kommunismus ist keine Theorie, er ist eine revolutionäre Praxis, und die Revolution schafft nicht, sondern zerstört. Was zählt, ist der Sturz des Feindes, der immer derselbe bleibt: die Familie, das Privateigentum, der Staat und die Kirche. Jede Metamorphose und jede Allianz ist legitim. Alle, die in diesem Unternehmen mitarbeiten, sind willkommen, unabhängig von den Mitteln, die sie einsetzen, um diesen Zweck zu erreichen. Die genealogische Forschung zum PCI hilft uns, die Kontinuität zu verstehen, die noch heute zwischen den geistigen Vorläufern und ihren Erben besteht.“
Giorgio Napolitano wandelte sich vom Kommunisten zum Sozialdemokraten, vom Stalinisten zum Atlantiker. Was sich nicht wandelte, war seine atheistische Überzeugung.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Youtube/Wikicommons (Screenshot)