(Rom) Erst mit der Veröffentlichung des Tagesbulletins vom vergangenen Samstag bestätigte der Heilige Stuhl den Besuch des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj. Papst Franziskus empfing ihn nicht in Privataudienz, wie zuvor spekuliert worden war, sondern in offizieller Funktion als Staatsoberhaupt. Eine Zusammenschau.
Der Besuch des ukrainischen Staatsoberhauptes wurde dem Vatikan nach bisher vorliegenden Informationen „aufgedrängt“. Selenskyj besuchte am 13. Mai die italienische Staatsführung, die ihrerseits beim Heiligen Stuhl intervenierte, ihn auch im Vatikan zu empfangen. Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) begab sich dafür eigens am Freitag überraschend nach Santa Marta, um mit Papst Franziskus in Privataudienz zu sprechen.
Im Tagesbulletin ist Selenskyj an letzter Stelle gereiht, weil seine Audienz als einzige am Nachmittag stattfand. Der ukrainische Präsident war in Rom mit großem Gefolge unterwegs. Seine Autokolonne umfaßte 30 Fahrzeuge. US-Präsident Joe Biden kam bei seinem Rom-Besuch im Oktober 2021 mit 18 Fahrzeugen aus.
Selenskyj trat auch beim Besuch von Papst Franziskus in militärgrüner Adjustierung auf, begleitet von Männern in ähnlicher Aufmachung, was in sozialen Netzwerken in Italien für einigen Unmut sorgte. Die Rede ist von mangelndem Respekt und einer übertriebenen Selbstinszenierung.
Papst Franziskus hingegen hatte während der Begegnung sein Brustkreuz hinter sein Zingulum gesteckt. Weil Selenskyj Jude ist? Ein solches Verbergen des Brustkreuzes wurde von Franziskus in der Vergangenheit als bewußte Geste bei Begegnungen mit Angehörigen anderer Religionen (Juden und Muslime) eingesetzt.
Um 15:54 Uhr veröffentlichte das Presseamt des Heiligen Stuhls folgende Mitteilung:
„Das Treffen zwischen dem Papst und dem Präsidenten dauerte etwa 40 Minuten.
Die Themen des Gesprächs betrafen die humanitäre und politische Situation in der Ukraine, die durch den anhaltenden Krieg verursacht wird.
Der Papst versicherte, daß er seit Februar letzten Jahres unablässig für den Frieden bete, was sich in seinen zahlreichen öffentlichen Appellen und seiner ständigen Anrufung des Herrn zeige.
Beide waren sich einig, daß die humanitären Bemühungen zur Unterstützung der Bevölkerung fortgesetzt werden müssen. Der Papst betonte insbesondere die dringende Notwendigkeit von ‚Gesten der Menschlichkeit‘ gegenüber den schwächsten Menschen, den unschuldigen Opfern des Konflikts.“
Um 16:17 Uhr schrieb Selenskyj auf seinem Telegram-Kanal folgende Nachricht:
„Treffen mit Papst Franziskus.
Ich bin dankbar für seine persönliche Aufmerksamkeit für die Tragödie von Millionen von Ukrainern. Er betonte auch die Zehntausenden von deportierten Kindern. Wir müssen alles tun, um sie wieder nach Hause zu holen.
Außerdem rief er zur Verurteilung der russischen Verbrechen in der Ukraine auf. Denn es kann keine Gleichheit zwischen Opfer und Aggressor geben.
Er sprach auch von unserer Friedensformel als dem einzig wirksamen Algorithmus, um einen gerechten Frieden zu erreichen. Er bot an, sich an ihrer Umsetzung zu beteiligen.“
Mit „unserer Friedensformel“ ist ein Zehn-Punkte-Plan gemeint, den die ukrainische Staatsführung zur conditio sine qua non für Gespräche mit Rußland erklärte und damit zu verstehen gibt, keine Friedensgespräche zu wünschen.
Wenige Minuten später folgte um 16:35 Uhr ein zweites Kommuniqué des vatikanischen Presseamtes. Es bezieht sich hauptsächlich auf das anschließende Treffen des ukrainischen Präsidenten mit Erzbischof Paul Richard Gallagher, dem Sekretär für die Beziehungen zu den Staaten im vatikanischen Staatssekretariat, weshalb Msgr. Gallagher besser als „Außenminister“ des Heiligen Stuhls bekannt ist. Eigentlich hätte eine Begegnung zwischen Selenskyj und Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin stattfinden sollen. Dieser hielt sich am Samstag jedoch in Fatima auf, was eine kurzfristige Änderung nicht möglich machte. Diese zweite vatikanische Erklärung besagt:
„Heute, am Samstag, dem 13. Mai 2023, empfing der Heilige Vater Franziskus in Audienz S.E. Herrn Volodymyr Zelenskyy [sic], Präsident der Ukraine, der anschließend Seine Exzellenz Monsignore Paul Richard Gallagher, Sekretär des Staatssekretariats für Beziehungen zu Staaten und internationalen Organisationen, traf.
In den herzlichen Gesprächen mit S.E. Monsignore Gallagher ging es vor allem um den aktuellen Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Dringlichkeiten, insbesondere humanitärer Art, sowie um die Notwendigkeit, die Bemühungen um Frieden fortzusetzen.
Bei dieser Gelegenheit wurden auch einige bilaterale Themen erörtert, insbesondere solche, die mit dem Leben der katholischen Kirche in der Ukraine zusammenhängen.“
Um 19:15 Uhr nahm Selenskyj an einer Sonderausgabe der Fernsehsendung „Porta a Porta“ des italienischen Staatssenders RAI 1 teil. Diese Sendung fand, ganz außergewöhnlich, im Vaterlandsaltar statt, der zentralen Kultstätte des italienischen Staates an der Piazza Venezia nahe dem Kapitol. Dieser wurde zwischen 1878 und 1927 zum Gedenken an die 1870 vollzogene italienische Einigung errichtet und ist die Gedenkstätte für die italienischen Gefallenen mit einem „ewigen Feuer“ und einer Ehrenwache des Militärs.
Medien inszenieren die Wahrnehmung für die Massen, und diese Sendung war der Hauptvermittler des Selenskyj-Besuches in Italien. Ein weiterer Schritt, um die EU auf den Krieg einzustimmen? Es geht um Waffenlieferungen, Militärausbildung und Geldzahlungen. Maßnahmen, die in der italienischen Bevölkerung wegen der Teuerungskrise und aus Sorge, in den Krieg hineingezogen zu werden, auf erhebliche Ablehnung stoßen. In dieser Sendung sagte Selenskyj, auf die Audienz mit Franziskus angesprochen:
„Bei allem Respekt für Seine Heiligkeit, wir brauchen keine Vermittler, wir brauchen einen gerechten Frieden. Wir laden den Papst, wie auch andere Führer, ein, sich für einen gerechten Frieden einzusetzen, aber zuerst müssen wir alles andere tun. Mit Putin kann man nicht vermitteln, kein Land der Welt kann das tun. Ich habe Papst Franziskus eingeladen, die Ukraine zu besuchen, um alle Ukrainer im Gebet zu unterstützen, die unter dem russischen Terror leiden und gegen das Böse kämpfen, das auf ukrainischen Boden gekommen ist.“
Diese zweite Darstellung läßt die einseitige Wiedergabe der Begegnung in Selenskyjs Telegram-Erklärung erkennen. In dieser gab der ukrainische Präsident unilateral die Position Kiews wieder, ohne seinen Gesprächspartner zu berücksichtigen, kurzum, ein offensichtlicher Vereinnahmungsversuch. Dem wollte der Heilige Stuhl offenbar präventiv durch eigene Erklärungen vorbeugen. Bei anderen Gelegenheiten hatte der Vatikan darauf verzichtet. Man denke an die bereits erwähnte berüchtigte Begegnung mit US-Präsident Joe Biden am 29. Oktober 2021. Der Verzicht auf eigene Erklärungen des Heiligen Stuhls hatte in der Vergangenheit den jeweiligen Besuchern des Papstes ein Informations- und Deutungsmonopol überlassen. Was das am Samstag bedeutet hätte, zeigt die Aneinanderreihung der Stellungnahmen.
Rußland äußerte sich bisher nicht zu dem Treffen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.Media/Youtube (Screenshots)