Von Pater Serafino M. Lanzetta*
In diesen Jahren des Pontifikats von Papst Franziskus hat sich eine anthropologische Revolution mit unbestimmten Konturen vollzogen. Sie ist flüssig, wie ja auch der Glaubensabfall flüssig ist, der die Kirche und den Glauben der Kleinen geißelt. Der radikale Wandel oder Reformismus beginnt mit einer moralischen Wende von nicht geringer Tragweite, mit Amoris laetitia, das die Ärmel der Liebe auszuweiten versucht. Indem alles als Liebe bezeichnet wird (mehr ein Wort als eine Realität), wurde eine Neuausrichtung provoziert, die zum „Paradigmenwechsel“ erklärt wurde: Nicht mehr das Moralgesetz als sicherer Weg zum Ziel, zum Guten, steht im Zentrum des moralischen Handelns, sondern die Liebe als Ausdruck der Barmherzigkeit. Wenn es die Wahrheit des Sittengesetzes aber nicht mehr gibt, die die Wahrheit der menschlichen Person vor jeglichem Mißbrauch bewahrt, endet man in der moralischen Gleichgültigkeit und in der Rechtfertigung der Pluralität der „Liebe“ als „Lieben“.
Eine der eklatantesten Auswirkungen dieser kopernikanischen Revolution ist die Angleichung an Luthers These von der Sünde als Kern des menschlichen Wesens, die in der Tat zu einem äußerst rüpelhaften Klerikalismus geführt hat. Die Sünde als unvermeidlich zu akzeptieren, sich mit ihr abzufinden und dann die Morallehre aus den Angeln zu heben, ist in der Tat der schlimmste Klerikalismus. Er verlangt nicht mehr die Bekehrung, sondern die Selbstannahme, die Akzeptanz der eigenen Sünde. So macht man sein Dasein von der Sünde abhängig. Wenn wir von der Sünde nicht losgekauft sind, sind wir in Wahrheit auch nicht loskaufbar. Christus ist nur ein unnützes Beiwerk. Er ist jener vor zweitausend Jahren ans Kreuz Geschlagene, mit dem Nietzsche auch seine Moral sterben lassen wollte.
Aber es ist genau dieser Klerikalismus, gegen den Nietzsche zu Recht wettert, indem er ihn „die Moral der Priester“ nennt, d. h. einen moralistischen Vorwand, um die Seelen der Einfachen im Griff zu halten und sie durch das quälende Bewußtsein der Sünde vor Gott und Christus zur Resignation zu zwingen. Nietzsche wie auch seine neuen Anhänger haben jedoch eine Tatsache übersehen: Wir sind von der Sünde losgekauft, sie ist besiegt; im Mittelpunkt des Heilsplans stehen Christus und der neue Mensch – die wahre Größe des Menschen liegt im Neugeborenwerden –, neugeschaffen in Ihm durch das Geschenk der Gnade und der Liebe.
Dann wurde ein nächster Schritt versucht: die Dialektik „Liebe gegen Gesetz“. Sie hat dazu geführt, daß mit einem geradezu hämmernden Versuch, wie der Tatsache ein Sünder zu sein, der homosexuellen Liebe und der LGBTQ+-Kultur Platz gemacht wurde, wodurch die „Liebesrevolution“ (oder besser gesagt der Egoismus) an den Rand des Abgrunds getrieben wurde. Es ist nun klar, daß es nicht darum geht, wie pastoral man sein kann, sondern um die wahre Bedeutung, die dem Menschsein zugeschrieben wird.
Bischöfe gegen Bischöfe streiten über den unveränderlichen Wert dessen, was Gott mit der Erschaffung des Menschen getan hat. Die amerikanischen Bischöfe haben am 20. März 2023 eine ausgezeichnete Lehrnote verabschiedet, um Techniken, die den menschlichen Körper durch Verstümmelung manipulieren, um das Geschlecht zu ändern, moralische Grenzen aufzuzeigen. Sie bekräftigen, daß Gott mit der Erschaffung des Menschen Gutes geschaffen hat („Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut, Gen 1,31), und daß es niemals ein „in einem falschen Körper geborenes Wesen“ gibt. Leib und Seele sind der Mensch in seiner Ganzheit und beide drücken die Ebenbildlichkeit Gottes aus. Selbst die skandinavischen Bischöfe bekräftigen in einem Fastenhirtenbrief 2023 zur menschlichen Sexualität die nicht verhandelbare Wahrheit des natürlichen Plans des Schöpfergottes. Die Kirche hört auf alle, aber sie gibt ihre Lehre nicht preis, weil das wahre Antlitz Gottes auf dem Spiel steht und deshalb die wahre Würde des Menschen vor den Regenbogen-Manipulationen geschützt werden muß. Dagegen stellen sich die belgischen und deutschen Bischöfe, die mehrheitlich beschlossen haben, homosexuelle Paare zu segnen und damit unter dem Vorwand der Inklusion und der Seelsorge die Homo-Ideologie segnen und die göttliche Offenbarung aus den Angeln heben. Homosexualität scheint nun ein Bürgerrecht zu haben, das wie viele andere Irrtümer unter den barmherzigen Mantel der Seelsorge aufgenommen wird.
Das ist wahrhaftig etwas noch nie Dagewesenes und Beispielloses. Der Kampf wird jetzt in der Kirche offen ausgetragen, und zwar nicht um einen Glaubensartikel, wie zum Beispiel zur Zeit des Arianismus um das theandrische Geheimnis Christi, sondern um eine noch viel grundlegendere Frage, die das Gerüst des Glaubens bildet und die daher, wenn es zusammenbricht, unweigerlich das Gebäude der Offenbarung zum Einsturz bringt. Auf dem Spiel steht die Frage nach dem von Gott geschaffenen Menschen und seiner Identität als Mann und Frau; die Ehe als natürlicher und übernatürlicher Bund zwischen Mann und Frau, also die Kirche als bräutliches Geheimnis. Fällt die Komplementarität zwischen Mann und Frau, fällt die typologisch-bräutliche Bedeutung von Christus und der Kirche. Fällt das Mysterium Kirche, werden die Sakramente abgeschafft und wird die Gnade annulliert. Und vieles mehr, mit einem verheerenden Dominoeffekt, dessen Vorboten in Amoris laetitia bereits zu finden sind. Dies ist eine sehr ernste Sache. Hinter der scheinbaren Barmherzigkeit, alle Arten von Liebe zu segnen, denn „Love is Love“, verbirgt sich die anthropologische Lüge eines Menschen, der sich ohne Gott und gegen Gott selbst erschaffen will. Ein wiederbelebtes Eden, in dem der wahre Lehrmeister auf der Kanzel der Teufel ist.
Wir haben es mit einer Revolution zu tun, die Hand an das wirklich Wesentliche, Natürliche und Menschliche legt. Aber wie bei allen Revolutionen, die sich dieses Namens rühmen, ist nie vorhersehbar, wann, wo und wie sie enden. Die jetzige dringt tiefer vor. Sie macht nicht beim Menschen halt. Sie versucht die menschliche Natur, den geschaffenen und erlösten Menschen, durch die grüne Natur, durch Bäume und Bäche, zu ersetzen. Die anthropozentrische Wende von Gaudium et spes, die von Paul VI. gesegnet, während des Konzils von Karl Rahner kritisiert, dann aber genau von ihm in der nachkonziliaren Zeit gefördert und weiterentwickelt wurde, ist jetzt nur noch eine mit Weihwasser besprengte Reminiszenz an Sehnsüchte und Instinkte. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht mehr der Mensch, nicht einmal Christus, sondern Mutter Erde. Der Ökologismus ist die neue Soteriologie, und die Klimaexperten sind ihre Propheten. Erstaunt fragt man sich, wie es dazu kommen konnte. Was ist auf philosophisch-theologischer Ebene schiefgelaufen, um die Rettung des Planeten zu postulieren und dabei die „grüne Sünde“ zu verurteilen, aber der wahren Sünde und dem menschlichen Elend Tür und Tor zu öffnen? Christus kommt dabei nicht vor, aber das scheint auch gar nicht so wichtig zu sein. Er ist ein Mittel, um über etwas anderes zu sprechen. Er ist ein Name, um sich auf dem heutigen multikulturellen und synkretistischen Areopag einen Namen zu geben. Gott scheint nur ein Wort zu sein, um die verschiedensten Religionen zusammenzubringen. Aber Gott ist nicht wirklich wichtig.
Was ist geschehen? Unter den verschiedenen Dingen, die sich im Laufe dieses jüngsten Teils des Jahrhunderts verstrickt haben, war es, wenn wir einen Ausgangspunkt finden wollen, vor allem ein Methodenfehler. Die pastorale Methode, die Johannes XXIII. in seiner Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Prinzip erhob, bedeutete, daß die Lehre langfristig zur Praxis wurde. Das lehrende Organ, das Lehramt, wurde in das lernende Organ umgewandelt, als der „gute Papst“ in dieser Grundsatzrede ein Lehramt mit einem stärker pastoralen Charakter forderte. War das frühere Lehramt nicht pastoral? Oder war es nicht pastoral genug gewesen? Was war der Maßstab für echte Pastoral? Das wußte niemand, nicht einmal der Papst. Nun stehen wir vor einem etwas anderen Problem, aber einer logischen Schlußfolgerung dieses Appells: Das lehrende Organ der Kirche ist mit der Synode zum lernenden Organ geworden (die Tautologie ist hergestellt), während das lernende Organ, die Gläubigen, durch dieselbe Synode zum lehrenden Organ geworden ist. Eine pyramidale Revolution, sagte Franziskus, bei der die Basis an der Spitze steht und der umgekehrte Gipfel als Basis dient. Die Gläubigen sagen, was sie wollen, die Bischöfe lernen und stimmen mit den Gläubigen ab. Schafe einer verlorenen Herde, die sich selbst regulieren und dem Diktat des herrschenden Denkens folgen.
Schließlich scheinen wir in einem sich selbst feiernden Labyrinth gefangen zu sein, in dem konziliar gleichbedeutend ist mit synodal, synodal gleichbedeutend mit Kirche und Kirche gleichbedeutend mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Ja, das Problem läßt sich bis zum Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückverfolgen, bis zu dem Wunsch, mit der konziliaren Pastoral eine Art Methodenlehre zu etablieren. So wurde die Doktrin, wie sie immer verstanden wurde, zu einem Modus, zu einer subjektiven Methode.
Man könnte sich auch fragen, was man unmittelbar nach dieser Revolution erwarten kann, die man nun mit Recht anthropo-naturistisch, anthropologisch mit naturistischen Untertönen nennen muß: die Überwindung der Unbeweglichkeit der menschlichen Natur durch die Flexibilität der natürlichen Formen des einfachen, pflanzlichen Lebens und einen intensiveren Kontakt mit der Natur. Was ist zu erwarten? Das Nichts. Aber ein flüssiges Nichts, mit unbestimmten, ungewissen, nicht beschreibbaren, nur erzählbaren Grenzen. Die narrative Theologie ist ein neuer Landeplatz der postmetaphysischen Theologie oder vielmehr der Religionsphilosophie. Vielleicht befinden wir uns bereits in dieser Phase, haben es aber noch nicht bemerkt. Wir zelebrieren uns selbst. Wenn es aber noch jemanden gibt, dem Christus und Seine Kirche, der von Gott geschaffene Mensch und der Sinn des Menschseins am Herzen liegen, dann soll er etwas tun. Er soll sich Gehör verschaffen. Die Alternative wäre, für immer zu schweigen und in den Strudeln eines Nichts zu versinken, das nicht ein solches zu sein scheint, es aber ist.
*P. Serafino M. Lanzetta übt seinen priesterlichen Dienst in der Diözese Portsmouth (England) aus. Er ist Dozent für Dogmatische Theologie an der Theologischen Fakultät von Lugano und Redaktionsleiter der theologischen Zeitschrift Fides Catholica. Eine aktuelle Liste seiner Veröffentlichungen findet sich auf der Internetseite der Theologischen Fakultät Lugano in seinem Profil. Er gehörte den Franziskanern der Immakulata an, wurde deshalb verfolgt und gründete in England einen neuen Orden, die Familie der Unbefleckten Jungfrau und des heiligen Franziskus, der inzwischen auch in Schottland präsent ist.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)
Weitere Texte von Pater Lanzetta:
Man kann sagen, daß der Liberalismus in West-Europa und den USA, Australien, Kanada in seine letzte Phase eingetreten ist: die Unkultur des Todes vernichtet sich selbst. Es geht auch nicht um Klima, Rettung der Erde, der Umwelt und wie die Schlagworte heißen, sondern darum, dem Dreieinen Gott in frecher und böswilliger Manier weh zu tun. Es ist eine Kreuzigung nur auf andere Art und mit anderen Mitteln. Und sie wird wieder scheitern, denn das Gute muß notwendigerwiese siegen, sonst gäbe es keine Schöpfung, keine Wahrheit, keine Vernunft und auch den Menschen nicht, nicht mal Engel gäbe es. Das gibt sogar der Teufel, der gefallene Engel, widerwillig zu.
Der Satan hatte immer schon mal mit der Erlaubnis des Allmächtigen Menschen versuchen dürfen, bspw. den Hiob. Aber auch heute wird er die Kirche nicht überwältigen können, nicht mal durch reihenweise abtrünnige Bischöfe.
Ein düsterer Text. Dafür kann der Autor nichts, der wahrscheinlich nur die Fähigkeit, die Gabe, das Pech hat, sehr klar zu sehen. Danke dafür.