Von Pater Serafino M. Lanzetta*
Die schwere moralische Krise des sexuellen Mißbrauchs, von der die heilige Kirche erfaßt wurde, hat Wurzeln, die weit tiefer reichen als das schlechte Verhalten einiger Priester und Prälaten. Sie ist nicht Ausdruck jener menschlichen Schwäche, die die Jugend mehr als alle anderen verstehen würde, da sie selbst falle und wieder aufstehe, wie jüngst Kardinal Baldisseri auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Jugendsynode (1. Oktober 2018) meinte.
Würden die jungen Opfer der zahlreichen klerikalen Mißbrauchstäter diese Schwäche auch so einfach verstehen?
Die Wurzeln des Problems sind nicht in erster Linie moralischer, sondern dogmatischer Natur. Ausgangspunkt ist die Ablehnung der Lehre Christi über die menschliche Liebe und die Sexualität. Diese Doktrin bekam einen schweren Riß durch die öffentliche und „amtliche“ Rebellion in der Kirche gegen die Enzyklika Humanae vitae (1968).
Indem die Untrennbarkeit der ehelichen Liebe und der Fortpflanzung in Frage gestellt wurde, wurden die Tore geöffnet, um jedmögliche Verbindung zu rechtfertigen. Der Sturm, der dadurch in der Kirche entfacht wurde, wäre aber nicht verständlich, wenn wir nicht noch einen weiteren Schritt zurückgehen würden, um an den Anfang jener Meinungsverschiedenheiten unter den Kardinälen über die Verhütungsmitteln zu gelangen, die zur offenen Rebellion gegen Paul VI. führten. Der Protest wurde 1968 öffentlich, schwelte aber bereits vorher.
Kardinal Suenens und der Blick hinter die Kulissen des Zweiten Vatikanischen Konzils
Es ist notwendig, einen Blick hinter die Kulissen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu werfen. Dort entdeckt man die Anfänge der Mißstimmung. Zwei Schlüsselfiguren lassen sich ausmachen: Kardinal Leo Jospeh Suenens, Erzbischof von Mecheln-Brüssel und Primas von Belgien, und das Schema XIII, das dann zur Pastorakonstitution Gaudium et spes wurde.
Suenens bezeichnete sich selbst in seinen Mémoires über das Zweite Vatikanische Konzil (ein Text von 69 Seiten, den der belgische Kardinal unmittelbar nach dem Konzil diktierte, und der seine persönlichen Erinnerungen enthält; es handelt sich um die Dokumente 2784 und 2785 des Fonds Suenens) als Vater und Initiator von Gaudium et spes. Er schrieb: „Le schéma XIII, dont je suis le père, l’initiateur“ (Das Schema XIII, dessen Vater ich bin, der Initiator). Dabei war er darüber gar nicht „extrêmement enthousiaste“ (nicht besonders begeistert), weil Paul VI. der gemischten Kommission am 23. November 1965 vier modi übermittelt hatte, die überlieferte Ehelehre der Kirche in die Paragraphen 51, 54 und 55 des Textes zu integrieren.
Diese modi betrafen unter anderem die Darlegung der kirchlichen Position zu den Verhütungsmethoden. Dabei sollte man sich auf das Lehramt der Enzyklika Casti Connubii [1930 von Papst Pius XI. veröffentlicht] stützen, die Paul VI. ausdrücklich zitiert wissen wollte. Es ist anzumerken, daß Paul VI. davor von Suenens einen Text für eine mögliche Erklärung erbeten hatte, die sich auf einer Linie der Öffnung gegenüber den Verhütungsmitteln befindet, wie sie vom belgischen Primas vertreten wurde (s. Fonds Suenens, 2503).
Als Paul VI. die ihm gelieferte Erklärung ablehnte, war die Reaktion von Suenens darauf sehr hart. Er wollte eine Kampagne unter den Konzilsvätern starten, gegen den neuen Text zu stimmen. Erst als ihm von Msgr. Prignon versichert wurde, daß diese modi von Msgr. Heuschen und Prof. Heylen entschärft worden warden, und daß die Frage der Geburtenkontrolle im Konzilstext offengelassen werde, willigte Suenens ein, auch sein placet zu geben.
Die Zulassung der Anti-Baby-Pille
Der Grund, warum Suenens für das Schema XIII war, hing mit seiner Hoffnung zusammen, daß im Kapitel De matrimonio die Haltung der Kirche zu Verhütungsmitteln geändert werde. Am 7. Mai 1964 ließ er auf einer Pressekonferenz in Boston einen Versuchsballon steigen:
„Die medizinische Forschung nähert sich der Entwicklung einer Pille, die es verheirateten Paaren erleichtern wird, ihre Familien zu planen, ohne gegen die Lehre der Kirche zu verstoßen.“
Wie Werner Wan Laer bezeugt, geht es direkt auf Kardinal Suenens zurück, daß das Kapitel von Gaudium et spes über die Ehe einer der offensten Texte des Zweiten Vaticanums ist.
Mehr noch: Suenens, den Paul VI. zusammen mit drei weiteren Kardinälen (Agagianian, Döpfner und Lercaro) zum Moderator des Konzils gemacht hatte, gelang es, der Konzilsaula vier Fragen zur Sakramentalität und Kollegialität des Episkopats und zur Wiedereinführung des ständigen Diakonats vorzulegen. Ohne die Unterstützung von Paul VI., der in Wirklichkeit sehr zögerlich war, und gegen den Willen von Kardinal Ottaviani und des Konzilssekretärs Pericle Felici legten Suenens und die anderen Moderatoren den Konzilsvätern die vier Fragen zu einer „Orientierungsabstimmung“ vor, die für den 17. Oktober 1963 angesetzt wurde, aber schon im voraus vom Avvenire, der Tageszeitung der italienischen Bischöfe, bekanntgegeben wurde. (1)
Paul VI. verschob die Abstimmung und ließ die 3.000 bereits im Auftrag von Kardinal Lercaro gedruckten Stimmzettel verbrennen. Damals begann die lange und feste Freundschaft zwischen dem belgischen Kardinal und Papst Montini Risse zu bekommen. Das ging soweit, daß Suenens Paul VI. Vorhaltungen machte, bei der Veröffentlichung seiner Enzykliken Sacerdotalis caelibatus (1967) und Humanae vitae (1968) nicht auf kollegiale Weise gehandelt zu haben.
Paul VI. wollte nicht, daß die Frage der Verhütungsmittel auf dem Konzil erwähnt wird. Suenens berichtet in seinen Mémoires, daß Kardinal Agagianian, der damals den Vorsitz führte, einen Text vorbereitet hatte, mit dem er den Konzilsvätern mitteilte, diese Frage nicht anzuschneiden. Suenens war damit gar nicht einverstanden und änderte den Text auf folgende Weise: „Wir werden dieses Thema behandeln, aber nur bezogen auf die ersten Grundsätze, ohne in Details zu gehen.“ Paul VI. wandte sich darauf an Suenens und sagte ihm, wie dieser selbst berichtet, daß er auf diese Weise Glaubwürdigkeit bei den Bischöfen im Konzil verloren habe.
Suenens hingegen war stolz auf diesen Schritt. Auch sein Mitarbeiter, der Rektor des Belgischen Kollegs in Rom, P. Albert Prignon (1919–2000), sagte ihm: „Sie haben der Zukunft die Tür geöffnet.“ Genau das war es: Er hatte die Tür zu einer traurigen Zukunft geöffnet, schwer beladen mit Problemen für die Welt und besonders für die heilige Kirche.
Die „weiten Ärmel“ von Gaudium et spes
Suenens konnte sich auf den Text von Gaudium et spes berufen mit seinem optimistischen Grundton und ausreichend weiten Ärmeln für eine anschließende Hermeneutik, die ihm entsprach. Auf das Schema XIII (zuerst XVII), das dann zu Gaudium et spes wurde, war nicht einmal P. Henri de Lubac stolz. Nicht aus demselben Grund wie Suenens, aber wegen der Tatsache, daß es mit großem Werbeaufwand vorangetrieben wurde, während aber das Ergebnis – laut Meinung des französischen Jesuiten – nur „mittelmäßig“ war.
„Keine doktrinelle Kohärenz und vor allem keine christliche Kraft. Viele Bischöfe sehen es und sagen es privat und öffentlich, aber es gibt kein Mittel, um vollständig Abhilfe zu schaffen. Es ist zu spät.“
Besonders schwerwiegend war, laut Meinung eines anderen Kritikers von Gaudium et spes, Msgr. Blanchet, und wie es Kardinal Siri herausgearbeitet hatte, ein „überzogener Optimismus und kein Hinweis auf das, was immerhin ein Charakteristikum unserer Zeit ist: Der Rückgang des Sündenbewußtseins“.
Suenens plädierte für die Kollegialität, ein Thema, das auf dem Konzil stark diskutiert und durch die „Öffnungen“ von Kardinal Parente (Glaubenskongregation) zugunsten von kollegialen Vorschlägen begünstigt wurde. Dagegen mußte Paul VI. Zuflucht zur Nota praevia (vorausgeschickte, erläuternde Note) zur Kirchenkonstitution Lumen gentium nehmen. Laut Suenens war die Kollegialität damit nicht mehr gegeben, was dann konkret durch Humanae vitae zum Ausdruck gekommen sei.
Zugleich war er allerdings der Überzeugung, daß die Ärmel von Gaudium et spes so weit gestrickt waren, eine zukünftige lehramtliche Aussage zugunsten von Verhütungsmitteln zu ermöglichen. Dazu kam es aber nicht, was Anlaß für seine Rebellion gegen das Lehramt von Paul VI. war. Ein Schritt, der auch eine symbolische Bedeutung hatte. Er wollte zeigen, wie weit die Trennung zwischen den eigenen Ideen und dem immerwährenden Lehramt der Kirche gehen kann. Die Folgen davon sind ohne Zweifel mitverantwortlich für die heutige Situation.
Die Wurzeln der nachkonziliare Verwirrung und der Rebellion gegen Humanae vitae
Daraus sind Folgerungen zu ziehen: Die nachkonziliare Verwirrung und die Rebellion gegen Humanae vitae hängen – wenn auch indirekt – mit der lehramtlichen Unsicherheit des Zweiten Vatikanischen Konzils zusammen, besonders in Gaudium et spes. Man kann die Schuld nicht einfach nur widersprüchlichen Hermeneutiken in der Rezeptionsphase nach dem Konzil zuschreiben. Es war das Konzil selbst, das mit seiner doktrinellen Unbestimmtheit zu verschiedenen Punkte ein hermeuntisches Problem geschaffen hatte. Es waren die Konzilsväter, die als erste, oft zusammen mit ihren Theologen, sich diesem Problem gegenübersahen.
Ein Beispiel für viele: Man erlebte einen Paul VI. auf der einen Seite und die Theologenkomission auf der anderen Seite, die über den konstitutiven Wert der apostolischen Tradition diskutieren. Paul VI. bekräftigte ihn unter Verweis auf das vorhergehende Lehramt, die Periti und Konzilsväter der Mehrheit übergingen den Punkt aber aus ökumenischen Gründen. Letztere obsiegten.
Daß das Problem des Widerstandes gegen Humanae vitae letztlich auf Gaudium et spes zurückgeht, wird auch aus dem Versuch deutlich, Amoris laetitia an die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils anzuknüpfen. Dies, um damit die Enzyklika von Paul VI. über das Leben mit einem Rückgriff auf die Konzilslehre von der Liebe zwischen den Eheleuten und in der Familie zu überwinden, indem eine angebliche „Würde der Person“ in die moralische Bewertung der Verhütungsmethoden (vgl. AL, 82) eingeführt wird. Damit wird faktisch die eheliche Beziehung more uxorio gerechtfertigt. Daneben ist aber noch ein weiterer Aspekt zu bedenken.
Die Rückkehr der „Kollegialität“ und des Konzilspluralismus
Die Bischofssynode hat unter Franziskus einen neuen Status erlangt, indem Anträge, die diskutiert werden, vom „Menschen“, vom „Volk“ oder von „den Jugendlichen“ gestellt werden und nicht mehr wie bisher von einer konkreten Person: Die Kirche „hört“, lehrt aber nicht mehr.
Was sie Synode sagt, wird – wenn vom Heiligen Vater approbiert – automatisch Teil des ordentlichen Lehramtes. Darin wird die dahinterstehende Idee von einer „Kirche von unten“ greifbar, eines Lehramtes in fieri wie eine immer offene Baustelle (oder ein „Feldlazarett“, wo die Wunden nur versorgt werden), und eine Überlappung der Rollen zwischen Laien und Priestern.
Ist dieses neue „synodale Paradigma“ ein Weg, um an die Konzilskollegialität anzuknüpfen, die durch die Nota praevia abgeblockt, aber von Suenens mit Nachdruck vertreten wurde mit seiner Vision von einer Kirche, die sich mit dem (kollegialen) Konsens der Mehrheit ihren Weg bahnt? Wenn dem so sein sollte, wäre das nicht nur eine erneute Betonung eines Konzilsparadigmas, sondern auch eine neue Form der innerkirchlichen Opposition gegen das immergültige Lehramt.
Ein Konzil gegen die Kirche! Der Bruch des Lehramtes und sein Neubeginn sind das beste Mittel um die Gewissen einzuschläfern. Sie dienen dazu, die Gespenster einer strengen Moral mit ihren Verboten auszutreiben. Das alles würde bestätigen, daß die Wurzel der heutigen moralischen Krise letztlich im Versuch zu suchen ist, die Glaubenslehre im Namen eines Konzilspluralismus umzustürzen. Eine Hermeneutik ohne Zweck löst aber keine Probleme. Es schafft vielmehr neue und noch schwerwiegendere.
*P. Serafino M. Lanzetta FFI, Franziskaner der Immakolata, war bis Sommer 2013 Pfarrer von Ognissanti in Florenz; nachdem der Orden von Papst Franziskus ohne Nennung von Gründen unter kommissarische Verwaltung gestellt wurde (inoffiziell weil „vorkonziliar“ und „lefebvrianisch“), wurde er in das Kloster des Ordens in Kitzbühel in Tirol verbannt; seit 2015 ist er Pfarrer von Saint Mary in Gosport, England, Diözese Portsmouth.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
(1) Während des Konzils wurde der L’Avvenire von Bologna, die wichtigste katholische Tageszeitung Italiens, für die Welt zur Hauptinformationsquelle über das Konzil, da sie in Zusammenarbeit mit progressiven Kirchenkreisen Bolognas um Kardinal Lercaro, Giuseppe Dossetti und Giuseppe Alberigo das Konzil am intensivsten abdeckte. Geleitet wurde die Tageszeitung von 1961–1967 von Raniero La Valle. La Valle gehörte dem linken Flügel der Democrazia Cristiana (Christdemokraten) an, deren Parteiblatt er zuvor geleitet hatte. Er führte die Zeitung kirchlich auf einen progressiven und politisch auf einen „neutralistischen“, also anti-transatlantischen und kapitalismuskritischen Kurs. Nach dem Konzil und den 68er-Umbrüchen, als sich die progressiven Kirchenkreise um Kardinal Lercaro und der „Schule von Bologna“ weitgehend durchgesetzt hatten und eine „Normalisierung“ anstrebten, war La Valles Position zu radikal geworden. Es folgte sein Rücktritt als Chefredakteur. Im Zuge der gleichzeitigen gesellschaftlichen und politischen Umbrüche trennte er sich von den Christdemokraten und begann seine Wanderung nach links. In den 70er Jahren gründete er die Gruppe Demokratische Katholiken und ließ sich als Unabhängiger auf der Liste der Kommunistischen Partei in das Italienische Parlament wählen. Später gründete er die Bewegung Christliche Linke. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 kandidierte er für die linksradikale Kommunistische und Antikapitalistische Liste, die 3,4 Prozent der Stimmen, aber keine Abgeordneten erringen konnte.